Flexible Arbeitszeit: Abbau bezahlter Erwerbstätigkeit

05.08.1988

Die Grünen Bundestag ,Bonn

Die "... kommunistische Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweig ausbilden kann, die Gesellschaft, die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden ..." hatte Karl Marx im Jahr 1845 den Menschen als Gesellschaft in Aussicht gestellt. Sie würde es

- nach der Überwindung des auf fremdbestimmter Lohnarbeit basierenden Kapitalismus

- den Individuen ermöglichen, in selbstbestimmter Zeiteinteilung vielseitige Fähigkeiten auszubilden und den verschiedensten Tätigkeiten nachzugehen.

Heute, anderthalb Jahrhunderte später, entsteht zuweilen der Eindruck, als sei es der Kapitalismus selber, der durch konsequente Anwendung seiner eigenen Gesetzmäßigkeiten jene kulturelle Revolution vollzöge, die in der Aufhebung des langen, von Einseitigkeit und Starrheit geprägten Normalarbeitstages besteht. Viele Meinungsumfragen scheinen den Arbeitgebern, die jetzt so vehement auf Flexibilisierung drängen, Recht zu geben. Kein Wunder, denn wer betrachtet schon die Aussicht, jahrzehntelang von Punkt 8.00 bis 16.30 Uhr arbeiten zu müssen, als der Zeitgestaltungs-Weisheit letzter Schluß ?

Wer arbeitet nicht lieber mal länger, vielleicht sogar mal am verregneten Samstag, um dafür am Dienstag ausgedehnt zu saunieren oder am Donnerstag ohne Hetze einen Kindergeburtstag organisieren zu können? Und ist der/die postmoderne Mittelschichtsbürger/in an einem strahlenden Mainachmittag nicht gar geneigt, selbst den Lafontaine-Gedanken von Arbeitszeitverkürzung und Lohnverzicht mit anderen Augen zu betrachten, bei der Aussicht, für ein oder zwei Hunderter weniger an arbeitsfreier Lebenszeit dazuzugewinnen?

Verführerische Träume - die allerdings einen entscheidenden Denkfehler zur Voraussetzung haben: Wir befinden uns eben nicht in der von Marx skizzierten herrschaftsfreien Gesellschaft; die Interessen von Unternehmensflexibilisierern und den mehr Souveränität über die eigene Zeit wünschenden Arbeitnehmer/ innen sind nicht identisch (so wenig wie je), und nach wessen Nase bei der Festlegung flexibler Arbeitszeiten getanzt wird, dürfte bei den durch anhaltend hohe Erwerbslosigkeit bestimmten Kräfteverhältnissen auch klar sein: "Bei der Regelung der Arbeitszeit ist auszugehen von betrieblichen Erfordernissen ...

Die persönlichen Belange und Bedürfnisse der einzelnen Arbeitnehmer sind in diesem Rahmen zu berücksichtigen", forderten zum Beispiel die Metallarbeitgeber in der 87er Tarifrunde in Nordwürttemberg/ Nordbaden. Daß sie gewillt und bestrebt ist, diese Unternehmensinteressen zu vertreten, stellte die Bundesregierung schon 1985 in der Begründung des Beschäftigungsförderungsgesetzes unter Beweis, mit dem sie "dem Wunsch der Arbeitgeber nachgekommen (ist), durch die Vermehrung der Teilzeitarbeit die Flexibilität und die Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu steigern".

Daß eine ausnahmsweise Übereinstimmung von Unternehmens- und Arbeitnehmer/ innen-Interesse bei der Festlegung der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit ein glücklicher Zufall, aber nicht die Regel und schon gar nicht intendierter Zweck ist, können zum Beispiel diejenigen bekunden, die aufgrund langer Betriebsnutzungszeiten (rund 65 Stunden wöchentlich) bereits heute ausgedehnte Erfahrungen mit flexiblen Arbeitszeiten haben: Die 2,3 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel, denen nun mit der Einführung des sogenannten "Dienstleistungsabends" eine weitere Arbeitszeitverschlechterung bevorsteht.

Während hier früher, als die Frauen noch für die Erwerbsarbeit rekrutiert wurden, die kinder- und frauenfreundliche Vormittagsteilzeitarbeit die Regel war, wird heute im Rahmen der kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit (KapovAz) und der inzwischen legalisierten Arbeit auf Abruf vielfach nur gearbeitet, wenn die Kassen klingeln: abends, Freitag nachmittags, am Samstag. Den Rest des Tages heißt es zu Hause Däumchen drehen - unbezahlt, versteht sich.

Nicht nur für Beschäftigte im Einzelhandel, sondern für die meisten Arbeitnehmerinnen ist es angesichts der Löhne in typischen Frauenberufen aber unmöglich, von einem Teilzeitgehalt zu leben. Damit bin ich beim zweiten wesentlichen Charakteristikum der Flexibilisierung von Arbeit: Nicht nur die Lage der Arbeitszeiten wird durch sie berührt, sondern über die Ausweitung von Teilzeitarbeit zu Lasten von Vollzeitarbeitsplätzen auch die Höhe der Erwerbseinkommen der Arbeitnehmer.

Die Varianten, die "flexibel in die Armut" (Carola Möller) führen, sind vielfältig. So werden Arbeitsverträge zunehmend unterhalb der Versicherungsgrenzen und immer mehr befristete Verträge abgeschlossen (wovon übrigens ganz besonders oft Frauen im gebärfähigen Alter betroffen sind). Die "Neue Selbständigkeit" macht selbst noch die Datentypistin am Teleheimarbeitsplatz zur "Freien Unternehmerin", die vor allem frei ist von festem Lohn, Urlaub, Kranken- und Arbeitslosengeld, dafür mit dem Risiko behaftet, ihre Arbeit nicht verkauft zu bekommen. Selbst das vielgerühmte Erziehungsgeldgesetz verbietet ausdrücklich die sozialversicherte Teilzeitarbeit, verursacht damit Altersarmut und Not bei Arbeitslosigkeit.

Wer "frei" von Job zu Job jagt, sich stets vor Krankheit fürchten muß, weil dann das Geld versiegt, wer nur in Perspektiven von 18 Monaten (Ende des befristeten Vertrages) denken kann, der/die genießt nicht die Freiheit einer flexiblen Zeiteinteilung, sondern hat die bitteren Folgen zu tragen, die der Verlust eines sicheren, unbefristeten Normalarbeitsverhältnisses mit sich bringt.

Insofern trüge die Änderung der Arbeitszeitgestaltung, setzte sie sich ungehindert nach Arbeitgeberwillen durch, in der Tat eine kulturelle Revolution in sich: Eine "Revolution", die den Verlust von gesichertem Einkommen, fehlende Absicherung im Alter und bei Schwangerschaft bedeuten würde und die zugleich mit ihrer maßlosen Ausdehnung von Arbeitszeiten in den Feierabend und die Wochenenden hinein die grundlegendsten Voraussetzungen für die Teilhabe am sozialen, familiären und gesellschaftlichen Leben und für die individuelle Entwicklung rücksichtslos zerschlagen würde.

Deshalb ist das historische Gebot der Stunde, das Normalarbeitsverhältnis zu verteidigen: nicht aus rückschrittlicher gewerkschaftlicher Borniertheit gegenüber tatsächlichen Wünschen nach weniger rigiden Arbeitszeiten, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit kollektiver vertraglicher Arbeitszeitregelungen. Allein auf ihrer Basis sind Freistellungstatbestande für besondere Lebenslagen denkbar und durchsetzbar (zum Beispiel für Eltern, für pflegende Angehörige, aber auch für kommunalpolitisches Engagement etc.), die innerhalb eines bestehenden Arbeitsverhältnisses wahrnehmbar sind.

Solche Freistellungsansprüche, die je nach Anlaß mit oder ohne Lohnersatzleistung gewährt werden, kennzeichnen auch den Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes der Fraktion DE GRÜNEN. Demgegenüber ist das Wesen der Flexibilisierung, wie sie mit Unterstützung der Bundesregierung von Arbeitgeberseite vorangetrieben wird, der Abbau beziehungsweise die Verbilligung bezahlter Erwerbsarbeit, die es ganz besonders Frauen in Zukunft noch schwieriger machen wird, partnerunabhängig vom eigenen Verdienst zu leben.