Ergonomie/Die Vorteile des humanen Arbeitsplatzes werden bislang nicht erkannt

Firmen setzen EU-Richtlinien bisher nur zähneknirschend um

09.01.1998

Die Klagen über körperliche Beschwerden durch Bildschirmarbeit nehmen drastisch zu. Um möglichen Gesundheitsschäden vorzubeugen, verabschiedete der Europaministerrat bereits 1990 eine Richtlinie zur Gestaltung von Bildschirmarbeitsplätzen. Zum 20. Dezember 1996 wurde daraus ein Gesetz.

Bemerkenswert an den EU-Vorgaben ist die Berücksichtigung der physischen und psychischen Auswirkungen der Arbeit auf den Menschen. Damit haben Forderungen der modernen Arbeits- und Sozialwissenschaft, den Menschen als ganzheitliches Wesen zu betrachten, ihren Niederschlag gefunden.

Während Gewerkschaften und Arbeitnehmer die Entscheidung, von der EU gesunde Büros verordnet zu bekommen, positiv aufnahmen, haderten die Arbeitgeber mit ihrem Schicksal. Karl-Josef Keller, Ergonomieexperte bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), räumt ein: "Unser Verband mußte viel Überzeugungsarbeit leisten, um den Unternehmen Sinn und Zweck der Bildschirmrichtlinien nahezubringen."

Laut Verordnung muß jeder Betrieb alle vorhandenen Arbeitsplätze analysieren und beurteilen. "Das bedeutet eine enorme zusätzliche Belastung für die Unternehmen", erklärt Keller. Wenn man jedoch bedenke, wie viele Beschäftigte jährlich allein wegen Rückenproblemen krank geschrieben würden, sei dieser Aufwand letztlich zu vertreten.

Nach welcher Methode bei der Analyse der Arbeitsumgebung vorzugehen sei, darüber herrscht keine Einmütigkeit. Viele Experten befürchten gar, daß die Pflichtfragen auf dem Fragebogen lediglich formal korrekt abgehakt und dann abgelegt werden.

Gottfried Richenhagen von der Technologieberatungsstelle des DGB in Nordrhein-Westfalen, Oberhausen, weist darauf hin, daß die Instrumente für die Einschätzung der Büroumgebung sowie die Benutzerfreundlichkeit der Software durchaus vorhanden seien. Viele Unternehmen würden sie aber nicht nutzen.

Besonders wichtig ist den Vertretern der Technologieberatungsstellen die Beantwortung des Fragebogens über die psychische Belastung der Mitarbeiter. Richenhagen: "Hier werden Faktoren wie Handlungsspielraum eines jeden Mitarbeiters, qualitative Arbeitsbelastung oder Zeitdruck abgefragt."

Nach Ansicht des Oberhausener Technologieexperten wären die Unternehmen gut beraten, die Verbesserungsvorschläge ihrer Mitarbeiter ernst zu nehmen. Schließlich würden betroffene Sachbearbeiter zum Teil eklatante Schwachstellen im Anwendungsbereich aufdecken. Richenhagen: "Von konstruktiver Kritik können Unternehmen nur profitieren." Die meisten Software-Entwickler könnten sich nur schlecht in das Arbeitsumfeld des Sachbearbeiters hineinversetzen.

Zusätzlicher Druck auf die Arbeitgeber, die Bildschirmrichtlinien endlich umzusetzen, läßt sich auch von den Mitarbeitern selbst ausüben. Schließlich kann die angemessene Ausstattung der Arbeitsplätze auf gesetzlicher Grundlage eingefordert werden. Das dürfte das Ende für eine ganze Reihe von museumsreifen Tischen, ungesunden Bürostühlen und schlechten Monitoren bedeuten.

"Seit die Richtlinien durch sind, hat der Run der Verantwortlichen auf die Seminare der Berufsgenossenschaften begonnen. Viele haben Angst, daß ihre Manager mit Strafen rechnen müssen, weil die Bildschirme falsch aufgestellt sind", freut sich der Berliner Arbeitswissenschaftler Ahmet Cakir. Trotzdem könne man insgesamt nur von einer schleppenden Umsetzung sprechen.

Abgesehen von den großen Unternehmen, in denen der Sicherheitsbeauftragte für die Umsetzung sorge, spiele die Ergonomiefrage bei mittleren und kleinen Unternehmen keine große Rolle. Cakir: "Viele Arbeitgeber meinen: Wenn wir die Gesetze schon nicht verhindern konnten, lassen wir die Zuständigen jetzt zumindest schmoren."

Für den Berliner Wissenschaftler spielen die Kosten hierbei eine entscheidende Rolle. Schließlich dürften sich die Mindestanforderungen an die Arbeitsplatzgestaltung in etlichen Fällen nur mit neuen Tischen, Stühlen und Monitoren erfüllen lassen. Darüber hinaus müßten die Unternehmen sowohl für die Arbeitsplatzanalyse als auch für die Qualifikation der Arbeitnehmer einiges ausgeben.

Informationsdefizite sind seiner Meinung nach nicht die Ursache. Hier habe unter anderem die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gute Aufklärungsarbeit geleistet. Hierzulande hätten sich bei den deutschen Topmanagern die Gemüter nach einiger Zeit wieder beruhigt.

Das war nicht überall so, wie Cakir berichtet: "Die italienischen Unternehmen zogen wegen der Richtlinien vor den europäischen Gerichtshof und holten sich prompt eine blutige Nase. Sie hatten die Verordnungen so interpretiert, daß diese nur auf Arbeitsplätze anzuwenden seien, an denen täglich mindestens vier Stunden am Bildschirm gearbeitet wird. Ihre Klage wurde in allen Punkten abgeschmettert."

Für die langsame Umsetzung hat der Berliner Ergonomiefachmann eine andere Erklärung: "Sowohl die Arbeitgeber als auch die Betriebsräte tun sich mit der Philosophie, die hinter den Richtlinien steht, schwer. Schließlich stammt die ergonomische Idee aus Skandinavien, und dort heißt das Zauberwort Kooperation."

In den nordischen Ländern würden die Unternehmen und die Betriebsräte nicht um die Umsetzung der Richtlinien ringen, sondern kooperativ nach der besten Lösung suchen. Die Skandinavier verstünden staatliche Anordnungen eher als Beratung denn als Bedrohung. Cakir: "Die Arbeitnehmervertreter in diesen Ländern müssen niemanden von einem gesunden Büro überzeugen. Die Topmanager selbst halten einen ergonomischen Arbeitsplatz ihrer Mitarbeiter für gesünder und ergonomische Software für profitabler." Diese Einstellung sei bei den deutschen Unternehmen bislang nur in Ausnahmefällen zu beobachten.

Manfred Dangelmaier vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart stimmt ihm zu: "Wir haben gehofft, daß die Unternehmen die EU-Richtlinien als eine Chance zur umfassenden Bürosanierung sehen, mit der die Abläufe verbessert und Kosten gespart werden können." Das sei nicht der Fall - die Unternehmen würden die Anordnungen lediglich zähneknirschend erfüllen und die Betriebsräte nicht genügend insistieren.

Dangelmaier: "Die Umsetzung mehr schlecht als recht über die Bühne zu bringen reicht nicht. Die Topmanager müssen sich aktiv überlegen, was sie für die Gesundheit der Mitarbeiter tun können, damit diese sich in ihrem Job wohl fühlen."

Nach Meinung des Fraunhofer-Beraters ist der schwarze Peter indes nicht nur bei den Arbeitgebern zu suchen. Schließlich handle es sich bei dem Großteil der Arbeitsplätze hierzulande - zumindest theoretisch - um Mischarbeitsplätze. Im Prinzip könnten sich die meisten Arbeitnehmer die Arbeit so einteilen, daß sie nicht den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzen müßten.

Dazu seien aber längst nicht alle Beschäftigten bereit. Untersuche man beispielsweise den Progammierbereich eines Unternehmens, so würden dort die Softwareprofis freiwillig und gern bis zu zwölf Stunden und mehr vor dem Computer verbringen. Dangelmaier: "Die Verantwortung muß auch an die Arbeitnehmer delegiert werden. Das Modell kann doch nur wirken, wenn die Beschäftigten die gesundheitliche Problematik erkennen und die Richtlinien entsprechend akzeptieren."

Jürgen Friedrich, Professor am Fachbereich Mathematik und Informatik der Universität Bremen, kann bislang ebenfalls noch keine ausreichende Umsetzung der EU-Verordnung erkennen. Wie sein Kollege Cakir sieht er die hohen Kosten als größte Hürde. Allerdings denkt Friedrich hier weniger an die notwendigen Mittel für die Hardware. Für ihn ist die Entwicklung ergonomischer Software der wesentlich teurere Brocken: "Es ist oft haarsträubend, mit welchen Programmen sich die Mitarbeiter in den Firmen herumschlagen müssen."

Wieviel Frustration und Streß unzulängliche Softwareprogramme für die Mitarbeiter bedeuten können, hat der Bremer Ergonomieexperte im Rahmen seiner Untersuchungen nicht nur einmal erlebt. Ein typisches Beispiel ist für ihn der Fall eines Mitarbeiters, zu dessen Tätigkeit auch die telefonische Kundenauskunft gehörte. Dieser Sachbearbeiter hatte das Pech, mit einem Programm arbeiten zu müssen, in dem die Zwischenspeicherung teilweise erfaßter Datensätze nicht möglich war.

Friedrich beschreibt das sich daraus ergebende Problem: "Der Mann ist gerade dabei, einen Datensatz zu erfassen, als das Telefon klingelt und ein Kunde seinen Kontostand wissen will. Entweder schmeißt der Sachbearbeiter seinen begonnenen Datensatz weg, oder er bittet den Kunden, in fünf Minuten nochmals anzurufen." Beide Lösungen seien ja wohl inakzeptabel.

Für den Bremer Wissenschaftler handelt es sich hier um ein Kernproblem der Software-Entwicklung. Die meisten Programmierer gingen nicht genügend auf die Aspekte des Arbeitsumfelds ein - denn von der technischen Seite her wäre die Lösung ein Kinderspiel. Die Softwerker hätten von den Software-ergonomischen Richtlinien noch weniger Ahnung als von der Anwendungsumgebung. Es sei dringend erforderlich, die für die Ergonomie der Programme Verantwortlichen entsprechend fit zu machen.

Die Unternehmen von der erforderlichen Qualifikation der Softwareprofis zu überzeugen ist nach Friedrichs Ansicht Aufgabe der Betriebsräte: "Das Argument liegt doch auf der Hand. Gute Software macht sich langfristig mehr als bezahlt, weil die Produktivität steigt."

Friedrich rät den Betriebsräten, das Ergonomiethema intensiv zu bearbeiten, entsprechende Forderungen zu stellen und danach nicht lockerzulassen. "Das gilt auch dann, wenn andere Themen wie beispielsweise Umstrukturierung oder Ausgliederung auf der Tagesordnung stehen."

Bei aller Sorge um die Arbeitsplätze könne es keine Alternative sein, das Ergonomiethema außen vor zu lassen. Für die verbleibenden Arbeitsplätze sei eine menschengerechte Gestaltung ganz besonders wichtig.

Der beste Beweis, daß sowohl bei der Ausstattung der Arbeitsplätze als auch bei der Software-Ergonomie noch viel zu tun ist, sind für den Bremer Arbeitsexperten die ständig steigenden Krankheiten durch Hardwaremängel. Friedrich: "Um diese geradezu explodierenden Kosten in den Griff zu bekommen, ist jedes Unternehmen gut beraten, verstärkt in Arbeitsschutz und Software-Ergonomie zu investieren.

Angeklickt

Obwohl die Unternehmen genügend Zeit hatten, sich auf die Umsetzung der EU-Richtlinien vorzubereiten, ist bislang wenig passiert. Während in den großen Unternehmen Sicherheitsberater für einen humanen Arbeitsplatz sorgen, legten die mittleren und kleinen Firmen die EU-Verordnung erst einmal auf Eis. Wenig Angst müssen diese Betriebe allerdings vor dem Druck ihrer Betriebsräte haben. Den Arbeitnehmervertretern ist die Sicherung der Arbeitsplätze derzeit oft wichtiger als die Durchsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen.

*Ina Hönicke arbeitet als freie Journalistin in München.