Interview mit Michael Schulte, Capgemini

Fehlerkultur ist nicht gleich Fehlertoleranz

23.01.2018
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
In seinem Digital Lab in München brütet der IT-Consulting-Konzern Capgemini gemeinsam mit seinen Großkunden neue Digitalideen aus. Michael Schulte, Chairman des Country Boards Germany, erläutert seine Sicht auf Digitalisierung, Fehlerkultur und die Schnittstelle zwischen Business und IT.
  • Bei der Definition eines "Minimum Viable Products" steht immer irgendwann die Frage im Blickpunkt: Was bedeutet eigentlich Minimum?
  • Bei Digitalisierungstrends sollten sich Unternehmer fragen: "Wie groß ist das Risiko, wenn ich nicht dabei bin?"
  • Fehlerkultur ist gut und wichtig - aber niemand will ein fehlerhaftes Produkt haben
Michael Schulte, Chairman des Country Boards Germany von Capgemini, beobachtet die Digitalisierungsanstrengungen in großen Konzernen besonders genau.
Michael Schulte, Chairman des Country Boards Germany von Capgemini, beobachtet die Digitalisierungsanstrengungen in großen Konzernen besonders genau.
Foto: Capgemini

Capgemini ist mit seinem Geschäftsmodell wie alle großen IT-Dienstleister vom digitalen Wandel massiv betroffen. Was tun Sie, um diese Herausforderung zu meistern?

Schulte: Der Fokus von Capgemini lag immer auf großen Kunden, für die wir ein strategischer Partner sein wollen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir die Transformation unserer Kunden eng begleiten. Wir helfen ihnen, sich ins digitale Zeitalter zu bewegen. Mit deren Digitalisierungsanstrengungen entwickeln auch wir uns weiter. Dabei hilft uns, dass wir Applikationen bauen, die individuell sind. In der digitalen Welt ist das wichtig: Wir entwickeln spezifische Lösungen.

Unsere zweite Qualifikation besteht darin, dass wir integrieren, was bereits da ist. Das haben wir immer gemacht, hier sehen wir unsere Stärke. Und schließlich hilft es uns auch, dass wir schon seit vielen Jahrzehnten sowohl ein Standbein in der Management-Beratung als auch in der IT-Implementierung haben. In der digitalen Welt wächst das zusammen.

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Die Hälfte der Mitarbeiter sitzt in Indien

Was haben Sie getan, um Ihre Kosten zu senken und für die Kunden auch in dieser Hinsicht attraktiv zu sein?

Schulte: Wir haben unsere Cost of Delivery radikal heruntergefahren. Als einziger Europäer haben wir früh auf Indien gesetzt. Von den 200.000 Mitarbeitern, die wir weltweit beschäftigen, sitzt die Hälfte in Indien. Zusätzlich haben wir Nearshore-Kapazitäten, beispielsweise in Polen, von wo aus wir auch deutschsprachige Services liefern können.

Im Innovation Lab von Capgemini tüfteln Kunden, Dienstleister und Kreative gemeinsam an neuen Produkten.
Im Innovation Lab von Capgemini tüfteln Kunden, Dienstleister und Kreative gemeinsam an neuen Produkten.
Foto: Capgemini

Die Kunden wollen nicht nur durch Fähigkeiten, sondern auch durch gute Kostenstrukturen überzeugt werden. Capgemini erwirtschaftet für den lokalen Markt inzwischen den größeren Teil der Wertschöpfung in Indien, sowie Polen und weiteren Ländern.

Wir sitzen hier in Ihrem Digital Lab. Digitale Innovationen sind für Sie wie für die ganze Wirtschaft gerade besonders wichtig. In welcher Relation steht dieser Bereich zu Ihrem klassischen Geschäft mit Anwendungsentwicklung und -pflege, SAP-Einführung oder Outsourcing?

Schulte: Global betrachtet ist unser Geschäft zu rund einem Drittel in der digitalen Welt angekommen, ein stark wachsender Bereich. Rund ein Viertel entfällt auf Managed Services, weitere rund 40 Prozent auf Projekte, die nicht unbedingt digital sind. Das ist etwa der Fall, wenn der Kunde ein ERP-System eingeführt haben will. Da haben übrigens alle Anbieter unterschiedliche Definitionen, aber für uns ist das nicht digital.

Digital Labs wie dieses hier helfen sicher, neue Ideen auszubrüten. Aber wie gelingt es Unternehmen, die entstehenden Innovationen nachhaltig in ihre eigene Organisation hineinzutragen?

"Die Definition eines MVP ist immer ein Drama"

Schulte: Um kreative Lösungen zustande zu bringen, ist so ein Lab hilfreich. Wir bringen Experten vom Kunden mit Leuten zusammen, die so etwas schon mal gemacht haben, auch mit Technologiepartnern, Startups etc. Früher hat man dann ein Proof of Concept gemacht, aber das will heute keiner mehr haben. Jetzt wird versucht, eine Lösung gleich über ein Minimum Viable Product umzusetzen.

Die Definition eines solchen MVP ist allerdings immer ein Drama. Es gibt unterschiedliche Sichten darauf, was "Minimum" in dem Zusammenhang bedeutet. Hier bedarf es Führung, jemand muss sagen: Das ist mein Produkt, ich setze das jetzt durch. Das funktioniert in vielen Organisationen nicht wirklich rund. Geschäftsführung und oder Marktorganisation haben häufig ihre eigenen Sichten auf ein MVP.

Um ein MVP zu definieren und durchzusetzen, braucht man den Rückhalt des Topmanagements. Auch ein Produkt-Management ist wichtig, es geht ja auch um die Frage: Wie wird das MVP über Releases weiter ausgebaut?

Unternehmen arbeiten heute oft auch an MVPs, die ihr eigenes Geschäftsmodell disruptiv angreifen…

Schulte: Ja, und das ist der Grund dafür, dass viele MVPs nicht skalieren. Das hat damit zu tun, dass das neue Produkt das alte auffressen würde. Viele Kunden sagen sich: Den heutigen Umsatz habe ich sicher, aber eine Wette auf das neue Produkt ist erstmal nur eine Wette. Da ist ja auch was dran. Aber nichts zu tun, ist auch keine Alternative.

Die technische Ausstattung im Digital Lab muss innovative Projekte optimal unterstützen.
Die technische Ausstattung im Digital Lab muss innovative Projekte optimal unterstützen.
Foto: Capgemini

Tatsächlich läuft es heute so, dass jemand zum Vorstand geht und sagt: Ihr müsst Euch mal Blockchain anschauen, da liegen Potenziale für Euch. Der Vorstand hört aber auch: Die Technologie ist komplex, das Ganze ist risikobehaftet, es gibt noch viele offene Fragen bezüglich Performance und Use Cases. Also sagen sich viele: Wir müssen nicht immer der First Mover sein. Sollen sich andere erstmal die Hörner abstoßen. Blockchain ist nur ein Beispiel.

Das kann dann aber böse Überraschungen geben…

Schulte: Ja, ich glaube man muss die Diskussion umdrehen. Welches Risiko gehe ich ein, wenn ich hier nicht dabei bin? Oder wenn ich zu spät starte? Eine konstante Risikoanalyse findet tatsächlich meistens nicht statt. Es gibt nur eine Positivdiskussion über potenzielle zusätzliche Umsätze. Aber die Risiken müssen mit gleichem Gewicht gewertet werden.

Wir hatten bei Capgemini den CIO einer weltweit sehr erfolgreichen Bank zu Gast, der hat gesagt: "Wir haben uns Blockchain genau angeschaut, das ist kein Thema für uns". Ob er richtigliegt, darüber mag man streiten, aber er hat eine gründliche Risikoanalyse vorgenommen und eine fundierte Entscheidung getroffen. Diese Portfoliodiskussionen müssen fortlaufend durchgeführt werden, sie sind sehr wichtig.