Org-Chef Holtz reagiert auf Anwender-Schelte:

"Fehlende Praxis Grundübel der DV Ausbildung"

22.08.1980

MÜNCHEN (ha) - Über die Ursachen der derzeitigen DV-Ausbildungsmisere erhitzen sich die Gemüter der Fachwelt. Nachdem Datenverarbeiter behaupteten, die Schuld am Nachwuchsdebakel liege bei den Ausbildungsträgern (siehe CW 29 vom 18.7.80, Seite 4: "Warten auf den Klapperstorch"), setzte sich Dieter Ballin, Planer am DV-Bildungszentrum in München, gegen diesen Vorwurf massiv zur Wehr (siehe CW 32 vom 8.8.80, Seite 2). Ballin sieht den Schwarzen Peter auf Seiten der DV-Verantwortlichen: "Die Nachwuchsmisere ist Schuld der Anwender." Der von dem Münchner persönlich angesprochene Friedhelm Holtz, Leiter Org und Betriebswirtschaft bei der AHC-Oberflächentechnik in Kerpen, ist über die Schelte vergnatzt. lesen Sie die Erwiderung des AHC-Org-Chefs:

Die von Herrn Ballin verfaßte Aussage, die Schuld an der Nachwuchsmisere liegt bei den Anwendern, vermag ich nur bedingt zu teilen. Insbesondere bezweifle ich das von Herrn Ballin propagierte Informationsdefizit auf Seiten des Benutzers. In der Mehrzahl liegt uns sicherlich Informationsmaterial vor, was in puncto Quantität und Qualität an privaten und öffentlich-rechtlichen Instituten gelehrt und gelernt wird. Defacto sehen die Lehr- und Ausbildungspläne zwar sehr gut aus, sagen jedoch über Qualität, über Intensität der theoretischen Ausbildung sowie über Praktika und Übungen wenig aus. Wesentliche Ausbildungsabschnitte - insbesondere die, die anwendungstechnische oder praktische Themen berühren - werden an einigen (oder vielen?) Instituten viel zu kurz behandelt. Diese Aussage ist konform mit den Aussagen zweier Mitarbeiter, die ihre Fundamentalausbildung an privaten/öffentlich-rechtlichen Instituten abgeschlossen haben.

Zum Vorwurf des Herrn Ballin, die meisten Anwender wüßten nicht, was sie von einer DV-Nachwuchskraft fordern können oder sollen:

Über das Grundlagenwissen der DV-Nachwuchskraft dürfte hinsichtlich des EDV-Basiswissens (Datenorganisation, Zugriffsmethoden, Programmiersprachen, ein neueres Betriebssystem) kaum eine unterschiedliche Auffassung bei den Anwendern bestehen. Ebenso sollte Fundamentalwissen auf dem Gebiet der Anwendungs- und Arbeitsmethoden (Bildschirmeinsatz, die Arbeitsweise von Datenbanken, strukturierte Programmierung) vorhanden sein.

Eine unterschiedliche Meinung dürfte das aufgabenbezogene Fachwissen darstellen. Denn der Programmierer von heute ist eine Synthese aus dem Programmierer der vergangenen Zeit und dem Systemanalytiker. Das heißt, für den Programmierer, der an Projekten der Debitorenbuchhaltung arbeitet, sollte der Begriff Debitorenbuchhaltung kein Fremdwort sein.

Dieser Programmierertyp (der Organisationsprogrammierer) erfüllt heute am besten diese Anforderungen. Analog sollte die vorgeschriebene Ausbildung richtungsweisend sein.

Zum Vorwurf des Herrn Ballin, die Anwender würden keine Basis für eine praxisnahe Berufsausbildung schaffen, weil sie klare Anforderungsprofile entweder nicht erstellen oder nicht zugängig machen:

Entgegen der Auffassung von Herrn Ballin, sind die Anforderungsprofile bei den Anwendern - zumindest was die EDV-technische Ausbildung betrifft - sehr präzise definiert. Die Definitionen sind überwiegend in den Stellenplänen enthalten, wenn nicht, ist die Summe der Einsatzmittel (Hardware, Software, Methoden, Techniken) für des Anforderungsprofil ausschlaggebend. Die Zusammenfassung dieser überwiegend individuellen Parameter zum Zweck einer allgemeinen Basisformulierung, dürfte nicht unproblematisch sein, da einerseits die Anwendungskonzepte zu heterogen und andererseits die Parameter ständigen Neuerungen unterworfen sind. Jedoch dürfte es den Bildungsverantwortlichen an den privaten/öffentlich-rechtlichen Instituten nicht schwer fallen, herauszufinden, welche Systeme Techniken und Methoden am Markt eingesetzt werden um daraufhin ihren Lehrplan entsprechend auszurichten.

Zum Vorwurf des Herrn Ballin, die Anwender würden die DV-Bildungsstätten nicht über Plus- oder Minuspunkte angebotener DV-Lehrgänge informieren:

In meiner bisherigen DV-Praxis ist bislang nicht vorgekommen, daß ich um eine Stellungnahme über Bildungsgänge gefragt worden bin. Außerdem stelle ich in Zweifel, ob der von Herrn Ballin gewünschte Feedback-Prozeß überhaupt in Gang gesetzt werden kann. Bis auf wenige Fälle arbeiten die privaten und öffentlich-rechtlichen Institute mit Uralt-Hardware oder an Mini-Systemen, mit denen wohl eher eine praxisfremde Ausbildung erzielt wird. Ähnlich sieht es auch mit der Anwendungs- und Methodenlehre aus.

Würden die Anwender etwa die Ausbildung an neueren Hard- oder Softwaretechnologien fordern, so wären die überwiegend kommerziell ausgerichteten Privatinstitute angesichts einer zeitgerechten Hardware-Investition finanziell überfordert. Betrachtet man verschiedene Ausbildungsgänge zum Programmierer, so dürften drei bis sechs Monate Ausbildungszeit angesichts der qualitativ und quantitativ hohen Anforderungsprofile viel zu kurz sein. Würden die Anwender eine Verlängerung der Ausbildungszeit fordern, wäre mit einer sinkenden Schülerzahl, der Einstellung vermutlich qualitativ hochwertiger Dozenten und einer überproportionalen Verteuerung der Ausbildungsgänge zu rechnen.

Zum Vorwurf des Herrn Ballin, der Anwender sei über das Angebot der DV-Bildungsstätten nicht informiert:

Die EDV-Verantwortlichen sind in der Regel sehr gut über das Bildungsangebot der regionalen und in vielen Fällen auch über das Angebot der überregionalen Institute informiert mit der Einschränkung, daß diese Informationen von ehemaligen Schülern und anhand der Lehrpläne zusammengetragen worden sind. An diesem Punkt dürfte die Einstellung von Nachwuchskräften nicht scheitern, sondern vielmehr an der qualitativen und quantitativen Beschaffenheit der Bildungsangebote .

Anstelle von Herrn Ballin hätte ich bei seiner Stellungnahme zumindest auf die unterschwellige Polemik verzichtet, zumal diese in seiner Situation völlig unangebracht ist. Herr Ballin hätte mit seinen Behauptungen und Ansichten erheblich zurückhaltender sein müssen, zumal diese mit dem derzeitigen Stand der privaten EDV-Ausbildung in nur wenigen Fällen übereinstimmen. Es dürfte auch Herrn Ballin bekannt sein, daß es außerordentlich bedenklich ist, von einigen Modellfällen auf die Allgemeinheit zu schließen.