Great Retirement statt Great Resignation

Fakten zu Jobs und Arbeitsmoral in Deutschland

Kommentar  20.05.2022
Von 

Rebecca Clarke ist Global Head of People bei Recruitee, einem Software-Anbieter für kollaboratives Recruiting.

 

"The Great Resignation" sorgt in den USA für Furore. Ob hierzulande auch mit frustrierten Arbeitnehmern und Kündigungswellen zu rechnen ist, lesen Sie hier.
Die große Kündigungswelle ist in Deutschland nicht zu beobachten. Vielmehr setzen sich mit "Great Retirement" und "Great Movement" zwei Trends fort, die schon seit Jahren bekannt sind und sich nun verstärkt auswirken.
Die große Kündigungswelle ist in Deutschland nicht zu beobachten. Vielmehr setzen sich mit "Great Retirement" und "Great Movement" zwei Trends fort, die schon seit Jahren bekannt sind und sich nun verstärkt auswirken.
Foto: eamesBot - shutterstock.com

Zu Beginn des Jahres gab es Befürchtungen, dass die amerikanische "Great Resignation", also die millionenfache Welle an freiwilligen Kündigungen, auch auf Europa und Deutschland überschwappen könnte. Aktuelle Zahlen, wie die immer noch sehr niedrige Arbeitslosenquote zeigen jedoch, dass in Deutschland keine zu den USA äquivalente Entwicklung festzustellen ist. Auch deutsche Arbeitsexpert:innen halten den Trend in Deutschland für nicht existent. Selbst in den USA beginnt man die Great Resignation unter neuen Gesichtspunkten zu überdenken, ja sogar in Frage zu stellen. Auf Deutschland bezogen, kann man zu der Überzeugung kommen, dass die Great Resignation vielmehr eine Fehldeutung zweier grundlegender negativer Trends auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist, die hier näher beleuchtet werden.

"The Great Retirement": Rekord-Verrentungen statt -Kündigungen

Die Great Resignation geht von einer grundsätzlichen Arbeitsmüdigkeit und Jobunzufriedenheit von Arbeitnehmer:innen aus, die die betreffenden Personen dazu ermutigt, sich nach einem neuen Job umzuschauen oder ohne die Aussicht nach einer neuen Anstellung beim aktuellen Arbeitgeber zu kündigen. Eine aktuelle Studie von EY zeigt aber, dass dies in Deutschland nicht der Fall ist und deutsche Angestellte zu über 90 Prozent mit ihrem aktuellen Arbeitsplatz zufrieden sind.

In Deutschland manifestiert sich hingegen der sich zunehmend verstärkende Fachkräftemangel als eine Folge des sich endlich materialisierenden demographischen Wandels. Allein in diesem Jahr gehen etwas mehr als 1,1 Millionen Erwerbstätige in den Ruhestand; gleichzeitig treten nur etwa 780.000 in den Arbeitsmarkt ein. Die entstehende Lücke wird sich bis 2030 noch auf über 600.000 weiter vergrößern. Die "Great Resignation" ist in Deutschland also ein "Great Retirement", das sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre entwickelt hat.

"The Great Movement": Branchenspezifische Arbeitnehmerbewegungen

Es zeigt sich allerdings auch, dass mehr als zwei Drittel der deutschen Mitarbeiter:innen nur eine geringe emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber empfinden, so eine aktuelle Studie von Gallup. Es sind dann auch diese Angestellten, die eher (zu 42 Prozent) dazu neigen, sich nach einem neuen Job umzuschauen oder sogar aktiv auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber sind. Diese Tendenzen führen zu starken Bewegungen von Angestellten innerhalb von Branchen, auch weil Jobwechsel durch die Corona-Pandemie und neue Formen der Arbeit wie Home-Office grundsätzlich einfacher geworden sind. Die Great Resignation ist in Deutschland nicht zuletzt also auch ein "Great Movement", als eine Folge der Verschiebung des Arbeitsmarktes von einer Arbeitgeber- hin zu einer Arbeitnehmerzentrierung.

Wir brauchen Arbeitsumfelder mit idealen Bedingungen

Durch die beschriebenen Trends und die Arbeitnehmerzentrierung haben Angestellte heutzutage die Qual der Wahl zwischen unzähligen Jobangeboten, für die der Standort des Unternehmens durch Remote Work fast keine Rolle mehr spielt. Arbeitgeber müssen sich daher schnell langfristige Strategien überlegen, wie sie ihre Angestellten halten und für potentielle Arbeitnehmer:innen attraktiv genug werden können. Das lässt sich zum einen mit klassischen Benefits wie einer betrieblichen Altersvorsorge und gesundheitsfördernden Programmen sowie mit Angeboten wie Team-Offsites oder Workation bewerkstelligen, die den Angestellten nicht nur zeigen "Wir sorgen uns um Euch", sondern auch Platz für Reflexionen und Teambildung bieten. Zum anderen sollten Unternehmen aber auch eine Unternehmenskultur aufbauen, die zum Beispiel älteren Mitarbeitenden die Teilhabe erleichtern oder die Integration von internationalen Talenten und Menschen auch ohne formale Ausbildung fördern. Insgesamt müssen Angestellte im Zentrum der Arbeit stehen und Prozesse von ihnen aus neu gedacht werden.

Für Unternehmen wird es daher immer wichtiger, konkret zu erfahren, was die eigenen Angestellten in ihrem Arbeitsumfeld wirklich bewegt. Zusätzlich zu den bekannten Gesprächen mit gekündigten Mitarbeiter:innen sollten Arbeitgeber:innen daher ihre Angestellten frühzeitig in sogenannten "Stay Interviews" nach Verbesserungsideen fragen - bevor es zu spät ist. Stay Interviews sollten kontinuierlich und abseits der klassischen Entwicklungsgespräche stattfinden, sodass Angestellte wirklich unvoreingenommen und möglichst ehrlich über Probleme und Anregungen sprechen können. Wichtig ist, dass die Ergebnisse und Schlussforderungen dieser Gespräche anschließend auch in entsprechende Prozesse übersetzt werden, die die Unternehmenskultur nachhaltig verbessern. Mögliche Fragen in solchen Gesprächen sind zum Beispiel:

Zur Position:

  • Wie fühlst du dich in deiner aktuellen Rolle?

  • Wenn du etwas in deinen Job ändern könntest, was wäre das?

  • Welche Talente von dir bleiben ungenutzt und was sind deine langfristigen Karriereziele?

Zur Unternehmenskultur:

  • Warum bleibst du bei uns?

  • Was müsste passieren, dass du dich nach einer neuen Stelle umsiehst?

  • Hast du eine gute Work-Life-Balance?

Zuletzt müssen Unternehmen auch zwingend die Talente von morgen im Blick haben, um im "War for Talents" bestehen zu können. Das gelingt zum einen durch eine gute Präsenz überall dort, wo sich die Talente aufhalten. Das können Karrierenetzwerke, aber auch potenziell Räume im Metaverse sein. Deutschland wird auch heute noch für sein duales Ausbildungssystem international viel gelobt. Allerdings sollten Arbeitgeber:innen Ausbildungen auch an die Zeit anpassen, was Inhalte und die Gestaltung angeht - das gilt auch und insbesondere für IT-Berufe. Junge Talente müssen in einem Zeitalter konstanter Disruption das Gefühl haben, dass ihr Unternehmen passende Arbeitsbedingungen des New Work lebt, eine Vision für die Zukunft hat und sie Teil dieser sein oder werden können. Hier muss aber auch der Gesetzgeber entsprechende Rahmenbedingungen, zum Beispiel in Form von Förderprogrammen für Auszubildende schaffen.

Die große Kündigungswelle ist in Deutschland noch nicht zu beobachten. Vielmehr können wir mit dem Great Retirement und dem Great Movement zwei Trends beobachten, die schon seit Jahren bekannt sind und durch die Corona-Pandemie erneut an Fahrt aufgenommen haben. Für Unternehmen ist es jetzt wichtig, die richtigen Schlüsse aus beiden zu ziehen, um sich für die Zukunft zu wappnen. Hierfür ist es notwendig, die Bedürfnisse der eigenen und zukünftiger Angestellten zu kennen und die Unternehmenskultur dahingehend anzupassen. Denn nach wie vor gilt: It's a people's business! (pg)