Expertensysteme: Teuer ist vor allem die Pflege

15.06.1990

Mit Professor Peter Mertens vom Bayerischen Forschungszentrum für wissensbasierte Systeme FORWISS in Erlangen-Tennelohe sprach CW-Mitarbeiter Wolf-Dietrich Lorenz*

CW: Im "Zeitalter der Expertensysteme" befinden wir uns noch nicht. Darauf lassen zumindest die Ergebnisse aus Ihrer jüngsten Erhebung über betriebliche Anwendungen im Vergleich mit denen der Fragerunde im Jahre 1988 schließen**. Wie ist die Entwicklung von Expertensystemen im deutschsprachigen Raum in den letzten beiden Jahren verlaufen?

Mertens: Bei der vorigen Veröffentlichung zählte ich 32 in der Praxis laufende Systeme, jetzt sind es rund 140 in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dabei kann ich eine gewisse Dunkelziffer nicht ausschließen, ebenso nicht, daß das eine oder andere System darunter ist, das den strengen Anforderungen an die Definition eines Expertensystems nicht standhielte.

CW: Nehmen deutsche Unternehmensführungen die strategische Komponente von Expertensystemen - also den Einfluß auf die Marktposition - bereits ernst?

Mertens: Nur ein kleiner Bruchteil der Expertensysteme hat echten strategischen Charakter, die weitaus meisten unterstützen administrative und dispositive Tätigkeiten. Insofern stellt sich das Problem nur bedingt.

Immerhin fällt auf, daß mehr Unternehmen als früher ihre "XPS"-Aktivitäten geheimhalten. Dies werte ich als Beleg für Wettbewerbsvorteile, die man sich von wissensbasierten Systemen verspricht.

CW: Sind neue Schwerpunkte bei der Anwendung zu erkennen?

Mertens: Es dominieren nach wie vor Diagnose- und Konfigurationssysteme in der Industrie. Dabei handelt es sich in erster Linie um Fehlerdiagnosen für technische Anlagen und Geräte. Es geht also weniger darum, konzeptionelle Schwachstellen, etwa in größeren Produktionsabläufen, zu beheben. Konfiguratoren gibt es mittlerweile für ein breites Produktspektrum, aber die Einbindung in umfassende Angebotssysteme steckt noch in den Kinderschuhen.

Bei Banken und Versicherungen sowie in den Beratungsunternehmen finden sich besonders interessante Einzelfälle, bisher jedoch nur mit wenig Breitenwirkung. Beispiele für derartige Einzelsysteme sind die Risikoprüfung und Tarifierung von Versicherungsverträgen, die Subventionsauswahl, die Altersvorsorge-Beratung und die automatische Verarbeitung von Telex-Meldungen .

CW: Werden eher die Veteranen unter den Expertensystemen eingesetzt oder gibt es laufend Nachwuchs?

Mertens: Eher das letztere. Verblüffend viele "Expertensysteme der ersten Stunde", die in der Fachliteratur und Praxis stark beachtet wurden, sind schon außer Dienst gestellt. Es bleibt die Frage, ob diese Systeme deshalb nur kurz lebten, weil sie zu viele Mängel hatten, oder ob Expertensysteme generell eine kurze Lebensdauer haben.

CW: Sind die jetzigen Expertensysteme besser und eleganter als die älteren?

Mertens: Vielleicht etwas reifer und besser an die Praxis angepaßt. Wirklich "schicke" Bestandteile, wie Benutzermodelle oder Erklärungskomponenten, die tatsächlich mehr wären als ein schlichter Trace der Regelwerks-Abarbeitung, sind selten.

CW: Woran scheitern Expertensystem-Projekte?

Mertens: Zunächst muß man viele wissensbasierte Systeme ausklammern, die von vornherein nur entwickelt wurden, um erste Eindrücke und Einblicke zu gewinnen.

Von den Modellen, die ernsthaft in die Tagespraxis überführt werden sollten, sind viele an einer falschen Wahl des Anwendungsgebiets gescheitert. Man verfehlte die berühmte "mittlere Komplexität", das Anwendungsfeld war also entweder zu eng oder zu weit.

Zahlreiche Expertensysteme wurden zudem unter souveräner Mißachtung der Einbindung in die gewachsene DV- Landschaft entwickelt. Wie soll beispielsweise ein Expertensystem, das in Lisp programmiert wurde, in eine von IBM-Host und MVS geprägte IV-Umwelt eingefügt werden?

Auch die Angst um den Arbeitsplatz spielt hier und da eine Rolle.

CW: Wie steht es derzeit um die taktische Komponente: die Integration in die vorhandene "DV-Landschaft"?

Mertens: Anders als vor einigen Jahren ist das Bewußtsein hierfür vorhanden. Die notwendigen Detailarbeiten sind vielerorts in Angriff genommen.

CW: Trägt ein langfristiges Expertensystem-Gesamtkonzept?

Mertens: Man sollte frühzeitig Doppelarbeit verhindern. Für ein langfristiges Gesamtkonzept ist die Zeit noch nicht reif. Voraussetzung wären mehr Erfahrungen mit den ersten Prototypen und laufenden Systemen.

CW: Es wird oft gesagt, bei vielen Expertensystemen komme das dicke Ende erst, wenn man den Aufwand zur Pflege im vollen Ausmaß erkenne...

Mertens: ... kann ich bestätigen!

CW: Was ist gegen diesen hohen Pflegeaufwand zu tun?

Mertens: Solange sich das zugrundeliegende Wissen laufend ändert, etwa weil in ganz kurzem Abstand neue Subventionen "erfunden", neue Geldanlageformen ersonnen oder Methoden der Motordiagnose fortentwickelt werden, kann man die zugehörigen Expertensysteme nicht auf dem alten Stand lassen. Auswege sind allenfalls im modularen Aufbau der Wissensbasen zu suchen.

Ich will aber nicht verschweigen, daß hier noch Grundlagenarbeit zu leisten ist. Wichtig ist, den Pflegeaufwand auch unter pessimistischen Annahmen in die Wirtschaftlichkeits- sowie Projektkosten-Rechnung einzubringen.

CW: Wie weit ist das Controlling einer vielfältigen Expertensystem-Entwicklung in deutschen Unternehmen entwickelt?

Mertens: Abgesehen von Erfahrungsaustausch-Gremien und zugehörigen innerbetrieblichen Seminaren ist mir nichts bekannt.

CW: Wohin weisen Qualifizierungs-Trends für Fachkräfte: Auf hochspezialisierte Expertensystem-Architekten oder Allrounder?

Mertens: Hochspezialisierte "XPS"-Experten sind eher gefährlich, weil sie sich zu rasch vom Tagesgeschäft der Fachabteilung entfernen.

CW: Wo steht die Bundesrepublik beim Einsatz von "XPS" im Vergleich zu den USA?

Mertens: Ich habe in deutschen Unternehmen, die Teil industrieller Konzerne sind, gefragt, welche Expertensysteme in US-amerikanischen Mutter-, Tochter- oder Schwestergesellschaften laufen. Mehrfach erhielt ich die Antwort, daß man in den USA Expertensysteme dringender brauche als bei uns. Dort habe man nämlich teilweise weniger geeignete Mitarbeiter und unter diesen eine größere Fluktuation als bei uns.

CW: Welche Rolle spielen Hochschul-Institute und Softwarehäuser für Konzeption und Implementierung von Extertensystemen?

Mertens: Häufig läßt man ein Hochschul-Institut einen ersten Prototypen entwerfen, dann ein Softwarehaus professionelles Software-Engineering einbringen. Wenn es ernst wird, entzieht man dem Softwarehaus das Mandat und baut eine eigene Gruppe auf. So entgeht man der Gefahr, daß das Know-how zu rasch an die Konkurrenz übertragen wird.

CW: Wo sehen Sie die großen Forschungsaufgaben der nächsten Zeit?

Mertens: In der praxisnahen Forschung geht es in erster Linie um die Integration. Das Beispiel "Vertriebssektor" zeigt, wie vielfältig die Beziehung zwischen Expertensystemen und konventionellen Programmkomplexen im Industriebetrieb sein können.

Zweitens müssen wir durch den Vergleich von wissensbasierten und konventionellen Methoden noch mehr über die spezifischen Vorteile der Expertensysteme lernen.

Zum dritten gilt es, miteinander zusammenarbeitende - "kooperative" - und verteilte Expertensysteme in Analogie zur verteilten Datenverarbeitung sowie verteilten Datenbanken zu erforschen. Und auch die bereits erwähnten modularen Wissensbasen stellen eine Herausforderung dar.