Trotz Schwierigkeiten bei der Integration

Expertensysteme halten Einzug in viele DV-Abteilungen

05.01.1990

MÜNCHEN (CW) - Expertensysteme sind heute nicht nur für den Großeinsatz in der Fertigung, interessant. Zahlreiche wenig spektakuläre aber richtungsweisende Projekte bei Banken und Versicherungen suchen dem Reizthema auch einen praktischen kommerziellen Nutzen abzugewinnen. Ihr größtes Problem: die Integration in den alltäglichen DV-Betrieb.

"Banken und Versicherungen setzen", so Alexander Volger, Geschäftsstellenleiter der Experteam GmbH in Duisburg," zum großen Teil Mainframes ein und geraten daher gegenwärtig noch in Schwierigkeiten, wenn sie Expertensysteme integrieren wollen". Derartige Probleme bei der Einbindung betriebseigener Expertensystementwicklungen in den normalen DV-Betrieb hat zum Beispiel Ulrich Markmann, Referatsleiter im Bereich DV-Organisation bei den LVM-Versicherungen in Münster, kennengelernt.

Dort befindet sicn derzeit ein wissensbasiertes System in der Erprobungsphase, das die Schmerzensgeldbemessung bei Personenschäden erleichtern soll. "Das Experten-system dient dazu", so Markmann, "die Mitarbeiter der Schadensabteilung bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen".

Von einer Integration der entwickelten Expertensysteme in die bestehende Datenverarbeitung hat das Versicherungsunternehmen bisher Abstand genommen, weil die IBM Shell nicht in der Umgebung des IBM Datenbanksystems IMS eingesetzt werden kann. "Im Moment läuft ESE bei LVM nur unter TSO als Trägersystem", so Markmann. Es lohne sich nicht, jedesmal aus IMS auszusteigen und sich neu im TSO anzumelden.

Der Referatsleiter betont, daß es seiner Abteilung zunächst ausschließlich darum gegangen sei, die neue Technologie der Expertensysteme kennen- und beherrschen zu lernen. Das Thema wird ernstgenommen, doch für eine Umstellung der Datenverarbeitung ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen: "Man kann mit einem Expertensystem nur wenig anfangen", so der LVM-Mitarbeiter, "wenn es nicht in die normalen Abläufe eingebunden werden kann."

Markmann erwartet, daß die IBM ihr Versprechen wahr macht und im nächsten Jahr die Integration ihrer Expertensystemshell ESE in die IMS-Umgebung anbietet. Auf jeden Fall aber werden sich auch in Zukunft Mitarbeiter der Versicherungsanstalt mit dem Thema Expertensysteme beschäftigen um für den Zeitpunkt einer wirtschaftlich sinnvollen Reali- sierungsmöglichkeit gerüstet zu sein.

Die Bereitschaft der LVM, auÝ dem Gebiet der wissensbasierten Systeme selbsttätig zu wer- den und sich zunächst mit einer nackten Shell zu begnügen, ist nicht unbedingt üblich. "Die Firmen wollen im allgemeinen keine Shells kaufen; die sind vergleichbar mit leeren Eimern! Die meisten Unternehmen interessieren sich nur, mal für volle Eimer", meint Experteam-Prokurist Volger und betont damit die Nachfrage nach kompletten, ablauffähigen Lösungen. Um ein entsprechendes Angebot bereitstellen zu könlnen, beschäftige sein Unternehmen Fachexperten wie Maschinenbauer, Biologen, Physiker und Bauingenieure.

Theoretisch einsatzbereit ist auch ein Expertensystem zur Risikoabschätzung und -absicherung, das die Aachener Rückversicherungs AG von dem englischen Softwarehaus EL-Computers in London bezogen hat. Hier soll das wissensbasierte System in vielen Bereichen den Mediziner ersetzen und Versicherungsangestellten die Beurteilung von Gesundheitsrisiken erlauben.

Probleme gibt es im Moment noch beim Datentransfer zwischen AT-kompatiblen Personal Computern, auf denen das Programm läuft, und dem Host-Rechner. "Bisher muß der Anwender noch selbst für die entsprechenden Verbindungen sorgen", so Christian Netzel, Abteilungsdirektor bei der Aachene Rück.

Über Akzeptanzschwierigkeiten in den DV-Abteilungen klagt der Brühler Unternehmensberater Manfred Lange. Häufig werde der Einsatz von Expertensystemen als Bruch mit den konventionellen Verfahren der Datenverarbeitung empfunden. "Das Integrationsproblem ist nicht physikalischer Art. Viele Anwender wollen ihre vertraute Schiene nicht verlassen." Er hofft auf eine aufgeschlossenere Generation von Informatikern.

Der Unternehmensberater testet derzeit ein wissensbasiertes System für den Einsatz im Innen- und Außendienstbereich von Versicherungen. "Das System läuft unter MS-DOS und kommt mit einer begrenzten Speicherverwaltung aus, indem wir es in 20 Wissensbasen aufgeteilt haben", erläutert Lange. "Die einzelnen Basen werden immer dann geladen, wenn sie benötigt werden. Daher reicht der Speicherplatz auch für Außendienstler aus, die mit dem Laptop arbeiten."

Der Unternehmensberater hält die Auseinandersetzung des Experten mit dem wissensbasierten System für unverzichtbar. Das Aufstellen von Analyseregeln, die in einen allgemein vorformulierten Wissensrahmen eingebracht werden müßten, überlasse er dem Kunden. Bisher sei sein Rahmensystem unter MS-DOS und unter Unix einsatzfähig. An einer VM-Version werde noch gearbeitet.

Obwohl Expertensysteme offensichtlich Einzug in den bürokratischen Alltag halten, werden in der Öffentlichkeit immer noch spektakuläre Großprojekte in den Vordergrund gestellt: Genannt werden in diesem Zusammenhang zum Beispiel das wissensbasierte System "Xcon", mit dem Digital Equipment routinemäßig die Konfiguration von VAX-Rechnern betreibt, oder das Spracheingabesystem der Ford-Werke in Köln - eines der schwierigsten und spektakulärsten KI-Unternehmen überhaupt.

Als neu und möglicherweise richtungsweisend im Bereich infrastruktureller Planungen gilt ein Projekt der Lufthansa, das jetzt in die Realisierungsphase eintritt: Die gesamte Kapazität und Flugplanung soll mit Hilfe eines "wissensbasierten betriebIichen Planungsunterstützungssystems" erfolgen. Ziel des Pilotprojektes ist die optimale Ausrüstung der Flugzeugkapazität. Bisher hat die Lufthansa für dieses Projekt etwa zwei Millionen Mark ausgegeben. Weitere zehn Millionen Mark wird voraussichtlich die Realisierungsphase schlucken.