Unternehmensinterner Know-how-Transfer ist auch im Marketing von Nutzen:

Expertensysteme gegen betriebliche Trivialität

06.12.1985

Gerade im Marketing kommt es häufig auf das Feeling für potentielle Entwicklungen an. So haben falsche Markteinschätzung, unrichtige Interpretation von Zahlen sowie einfaches Übersehen von Daten schon oft zu Fehlinvestitionen geführt. Ein Expertensystem, so meinen Joachim Stender* und Norbert Dixius*, könnte hier Abhilfe schaffen.

Die Einsatzfelder elektronischer Datenverarbeitung im Marketing liegen traditionell auf einem eher oberflächlichen Level. So werden Computer unter anderem dazu eingesetzt, um Statistiken aufzustellen und Umfrageergebnisse auszuwerten. Die daraus folgenden Entscheidungen werden von den Marketingexperten getroffen - oder auch nicht, wenn nämlich die Komplexität der DV-maschinell ermittelten Ausgangsdaten verwendbare Entscheidungsgrundlagen unmöglich macht. Die Faktorenanalyse etwa, ein brauchbares und läufig verwandtes statistisches Verfahren, produziert in erster Linie eine große Menge zu interpretierender Zahlen. Für die damit notwendig gewordene Interpretationsphase selber existiert jedoch keine DV-Unterstützung. Ebensowenig sagen aufbereitete Umsatzzahlen eines Produkts allzuviel darüber aus, was im nächsten Monat oder im nächsten Jahr für dieses Produkt getan werden muß.

Produktakzeptanz wird oft falsch eingeschätzt

Auch der professionelle Marketingexperte läuft gelegentlich Gefahr, das richtige Produkt zur falschen Zeit auf dem Markt einführen zu wollen, oder mit der Preisforderung für ein Produkt die Marktakzeptanz völlig falsch einzuschätzen. Im Marketing als wissenschaftlicher Disziplin wurden auf der anderen Seite für viele Bereiche Instrumente entwickelt, die entscheidungsunterstützenden oder -vorbereitenden Charakter haben. Auf der Grundlage zweier solcher Instrumente, dem Konzept des Produktlebenszyklus und dem Competitive-Bidding-Modell, soll nun gezeigt werden, wie Expertensysteme im Rahmen des Marketing dazu beitragen können, Entscheidungen auf einer qualifizierteren Grundlage zu treffen, beziehungsweise überhaupt erst einmal verwendbare Entscheidungsgrundlagen zu schaffen.

Der Produktlebenszyklus repräsentiert den erwarteten Verlauf des Umsatzes oder Absatzes eines Produkts über die gesamte Zeit seiner Marktpräsenz. Idealtypisch wird er in der Form einer unsymmetrischen S-Kurve dargestellt. Diese Kurve läßt sich in mehrere Phasen unterteilen nämlich in die Einführungs-, Wachstums-, Reife-, Sättigungs- und Degenerationsphase .

Die Einführungsphase beginnt mit der Markteinführung des Produktes. In dieser Phase ist es zum Beispiel notwendig, in das Produkt in stärkerem Maße als in anderen Phasen zu investieren, um es auf dem Markt etablieren zu können. Sobald die ersten positiven Deckungsbeiträge anfallen, kann von der Wachstumsphase gesprochen werden. Diese endet zu dem Zeitpunkt, ab dem die Grenzumsätze nicht mehr steigen. In der Reife- und Sättigungsphase wird ein Produkt zur "Cash-Cow", das heißt, das Produkt trägt durch seine hohen Deckungsbeiträge sehr stark zum Ertrag der Unternehmung bei. Kurz nach dem Auftreten negativer Grenzumsätze beginnt die Degenerationsphase, die schließlich mit der Produktelimination den Produktlebenszyklus abschließt.

Für jede Phase läßt sich nun ein adäquates Marketing-Mix zusammenstellen, um etwa die Kosten der Markteinführung niedrig zu halten, oder den Absatz in der Reifephase zu steigern. Die Anwendung geeigneter Marketinginstrumente zum richtigen Zeitpunkt entscheidet oft über Erfolg oder Mißerfolg eines Produktes. Das Konzept des Produktlebenszyklus gibt hier Anhaltspunkte für den zeitlichen Einsatz dieser Instrumente.

Der theoretischen Einfachheit und Eleganz dieses Modells steht in der Praxis ein massives Problem gegenüber, nämlich zu bestimmen, welcher Phase ein Produkt nun wirklich zuzuordnen ist. Der Produktlebenszyklus beschreibt den Verlauf der Umsatzkurve nach Ausschöpfung aller Marketinginstrumente, also nachdem das Marketing-Mix zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt wurde. Er repräsentiert mit anderen Worten eine ex post-Betrachtung, die nur etwas über den möglichen Verlauf der Umsatzkurve aussagt. Eine direkte Phasenzuordnung wird im Rahmen dieses Modells selber ebensowenig geleistet wie eine Aussage über die Dauer des Produktlebenszyklus. Aber die Beantwortung genau dieser Fragen ist von großer Bedeutung.

Marketingexperten beantworten nun diese Fragen häufig durch einen Satz heuristischer Regeln, die auf im Laufe der Zeit gebildeten Erfahrungen beruhen. Solche Regeln könnten etwa folgende Gestalt aufweisen:

Wenn 30 Prozent der Bevölkerung das Produkt zur Kenntnis genommen haben, dann beginnt die Wachstumsphase.

Wenn die Einführungsphase zu Ende gegangen ist, muß der Preis des Produktes gesenkt werden.

Diese Regeln gelten jedoch nur für diejenigen Marktsegmente, über die der Marketingfachmann Expertenwissen akkumuliert hat. In anderen Marktsegmenten würden sie unter Umständen vollkommen versagen. Die Anzahl dieser Regeln ist je nach Einsatzgebiet unterschiedlich, jedoch reichen meist 150 bis 200 Regeln für ein umgrenztes Fachgebiet aus.

Mit dem Experten verschwindet auch das Wissen

Dieses Wissen geht jedoch verloren, wenn der Experte aus dem Unternehmen ausscheidet. Hierin liegt ein wesentliches Problem und eine wichtige Begründung für den Einsatz eines Expertensystems: der unternehmensinterne Know-how-Transfer. Ein weiteres Problem wird durch die Tendenz menschlicher Experten, einmal angesammeltes Wissen als ein für alle Male zutreffend anzusehen, hervorgerufen. Schließlich sind Experten Menschen und aus diesem Grund nicht davor geschützt, ihr eigenes Wissen zu vergessen oder nicht anzuwenden. In allen drei Punkten kann ein Expertensystem hilfreich sein, wie ein Blick auf die wesentlichen Besonderheiten eines Expertensystems bestätigt:

- Expertensysteme speichern Wissen - in ähnlicher Weise wie menschliche Experten - über Wenn-Dann-Regeln in einer Wissensbasis. Diese Regeln sind durch andere Experten überprüfbar und können zum Beispiel mit Wahrscheinlichkeiten versehen werden. Einmal aufgestellt kann die Wissensbasis von vielen Anwendern genutzt und weiter verbessert werden. Das Wissen geht nicht verloren, wenn ein Experte ausscheidet.

- Durch die Überprüfbarkeit der Wissensbasis können Fehler aufgedeckt und die Wissensbasis den gewachsenen Erkenntnissen angepaßt werden. Damit tritt zugleich ein Synergieeffekt ein: Das Wissen unterschiedlicher Experten wird in konsistenter Form verfügbar.

- Expertensysteme vergessen weder Regeln, noch verzichten sie darauf, bestimmte Fragen zu stellen. Die Anwender sind somit gezwungen, auch diejenigen Fragen zu beantworten, deren Bedeutung zwar nicht unmittelbar nachvollziehbar ist, die aber für die nachfolgende Entscheidung extrem relevant sein können. Ein Expertensystem zur Bestimmung der Phasen des Produktlebenszyklus gewährleistet so, daß das vorhandene Wissen über den Produktlebenszyklus nicht verlorengeht, neue Erkenntnisse in die Wissensbasis übernommen und im Rahmen des zur

Verfügung stehenden Wissens auch eingesetzt werden. Entscheidungen können schneller und auf einer qualifizierteren Grundlage gefällt werden. Die Abhängigkeit des Unternehmens von Experten wird verringert. Noch effizienter würde ein System arbeiten, das vorhandene Marktdaten, die unternehmensintern in einer ständig aktualisierten Datenbank zur Verfügung stehen, maschinell auswertet und zur Regelbildung und -anwendung nutzt.

Die Erstellung von Angeboten ist eine der wichtigsten Aufgaben in einer Unternehmung. Dabei kommt es zu einer Konfliktsituation: Ein hoher Preis bringt zwar einen hohen Deckungsbeitrag, birgt aber die Gefahr in sich, daß der Auftrag insgesamt verloren geht. Im umgekehrten Fall kann der Auftrag nur durch Inkaufnahme eines geringeren Gewinns erlangt werden.

Modell simuliert Konfliktsituationen

In dieser für einen Unternehmer schwierigen Situation soll das Competitive-Bidding-Modell dazu beitragen, alle gegebenen Informationen im Sinne einer Handlungsanweisung zu nutzen. Ausgangspunkt des Modells ist, daß die relevanten Entscheidungsträger (Experten), je länger sie im Geschäft sind und je gründlicher ihr Expertenwissen innerhalb des

spezifischen Marktsegmentes, um so mehr in der Lage sind, die benötigten Werte abzuschätzen.

Diese sind:

- Die Erfolgswahrscheinlichkeit, bei gegebenem eigenen Preis und alternativen Konkurrenzpreisen einen Auftrag zu erhalten. Beispiel: Bei eigenem Preis von 200 000 Mark und Konkurrenzpreis von 180 000 Mark ist die Erfolgswahrscheinlichkeit gleich Null, diesen Auftrag zu erhalten; bei eigenem Preis von 200 000 Mark und Konkurrenzpreis von 190 000 Mark ist die Erfolgswahrscheinlichkeit gleich 0,2.

- Die Wahrscheinlichkeit, mit der einzelne Konkurrenzpreise auftreten werden. Beispiel: Der Konkurrenzpreis von 180 000 Mark wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,1 auftreten; der Konkurrenzpreis von 190 000 Mark wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,2 auftreten.

Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß Experten mit guter Marktkenntnis in der Lage sind, erstaunlich gute Schätzungen dieser Wahrscheinlichkeiten vorzunehmen.

Entscheidend ist allein das Auftragsergebnis

Die einzelnen Eintrittswahrscheinlichkeiten der Konkurrenzpreise werden nun mit den Erfolgswahrscheinlichkeiten eines gegebenen eigenen Preises multipliziert und aufaddiert. Das Ergebnis ist die Zuschlagswahrscheinlichkeit dieses Angebotspreises. Wird das Verfahren für unterschiedliche Angebotspreise angewandt, ergibt sich schließlich der Angebotspreis mit der höchsten Zuschlagswahrscheinlichkeit.

Entscheidend für den Anbieter ist jedoch nicht die Zuschlagswahrscheinlichkeit seines Angebotspreises, sondern das erwartete Auftragsergebnis. Deshalb werden die Zuschlagswahrscheinlichkeiten mit den erwarteten Deckungsbeiträgen der einzelnen Angebotspreise multipliziert. Der Angebotspreis mit dem größten Produkt aus Zuschlagswahrscheinlichkeit und erwartetem Deckungsbeitrag sollte dann zur Grundlage des Angebotes gemacht werden.

Obwohl verschiedene Untersuchungen übereinstimmend bestätigt haben, daß Angebotspreise, die auf eine solche Art errechnet wurden, öfter und mit höheren Deckungsbeiträgen zum Erfolg führten, als konventionell ermittelte Angebotspreise, wird das Verfahren selten eingesetzt. Gründe hierfür sind die oftmalige zeitliche und räumliche Nichtverfügbarkeit der relevanten Entscheidungsträger, Abneigungen und Vorlieben der Experten, die die Schätzungen ungenau werden lassen und Schätzungen, die auf veralteten Marktdaten beruhen. Ebenso wie beim Konzept des Produktlebenszyklus können diese Probleme durch ein Expertensystem gelöst werden.

Subjektive Entscheidung ist leichter zu- eliminieren

Sobald ein solches Expertensystem zur Verfügung steht, läßt es sich auch von Anwendern ohne besondere Kenntnisse des relevanten Marktes zur Angebotserstellung auf Grundlage des Competitive-Bidding-Modells benutzen. Da die Wissensbasis eines Expertensystems von anderen Experten überprüfbar ist, sind rein subjektive Einschätzungen leichter eliminierbar. Auch das Sammeln und Aufbereiten der neuesten Marktdaten zur Entscheidungsvorbereitung ist in einem Expertensystem ohne den großen Zeitaufwand durchführbar, der Experten oft davon abhält, sich mit den neuesten Informationen zu befassen.

Expertensystem verschafft oft Konkurrenzvorteil

Neben dem Competitive-Bidding-Modell, dessen Möglichkeiten durch betroffene Unternehmen erst auf der Basis eines verfügbaren Expertensystems in vollem Umfang und zum richtigen Zeitpunkt genutzt werden können, stehen gegenwärtig eine Reihe brauchbarer Marketing-Instrumente zur Verfügung, deren Einsatz auf der Grundlage konventioneller Technologien jedoch zu komplex oder zu zeitaufwendig wäre. Um die vollständige Nutzung des - durch die Wissenschaft bereitgestellten - Marketing-Instrumentariums zu gewährleisten, wird man auf die Einführung der Expertensystemtechnologie nicht verzichten können. Die rechtzeitige Einführung und Anwendung von Expertensystemen kann vielmehr darüber hinaus sogar zu einem nicht zu unterschätzenden Konkurrenzvorteil führen.

* Joachim Stender und Norbert Dixius sind Geschäftsführer der Brainware GmbH, Wiesbaden.