Expertensystem - nur ein neues Modewort?

31.08.1984

Gerhard Mörler

Leiter Neue Informationstechnologien, Battelle-Institut e. V., Frankfurt am Main

Künstliche Intelligenz? Computer können denken? Computer beraten tatsächlich Physiker, Chemiker, Ingenieure. Zugegeben, hätte mir das jemand vor fünf Jahren erzählt, hätte er auch von mir nur ein müdes Lächeln geerntet. Dabei wird seit rund 20 Jahren im Elfenbeinturm der Universitäten versucht zu erforschen, wie intelligentes menschliches Denken und Handeln funktioniert. Sehr schnell begannen diese ursprünglich aus der Fachrichtung Psychologie kommenden Forscher auch damit, solche Denkprozesse auf dem Computer zu simulieren und Wissen zunächst noch sehr unvollkommen auf dem Computer abzubilden.

Die Quintessenz vieler breitangelegter Projekte war bisher, daß es wohl kaum gelingen wird, die "Common-sense"-Intelligenz eines dreijährigen Kindes nachzubilden. Demgegenüber ist jedoch das Wissen eines eng begrenzten Gebiets hoher Expertise, etwa eines Arztes oder Ingenieurs auf dem Computer durchaus verfügbar zu machen und für die Lösung wechselnder Aufgaben auch direkt verarbeitbar. Damit hatte man die Expertensysteme.

Allerdings dürfen diese Systeme nicht mit Datenbanken oder Management-Informations-Systemen verwechselt werden. Das Besondere liegt vielmehr darin, daß Problemlösungs-Wissen des Experten in syntaktisch möglichst einheitlicher Form als Regeln, Frames oder semantischen Netzen formuliert und im Rechner als Wissensbasis abgelegt wird. Auf dieser Wissensbasis arbeitet ein Problemlöser, der für die aktuelle Aufgabe eine Lösung ableitet, dem Benutzer vorschlägt und auf Wunsch auch begründet. Die Trennung von Wissen und Wissensverarbeitung erlaubt ohne jeweils neue prozedurale Programmierung eine Lösung durch ein einheitliches Verarbeitungsprogramm aufzufinden. Ähnlich wie in Datenbanken durch die Trennung von Daten und Datenverarbeitung hohe Produktivitätsfortschritte erzielt wurden, geschieht dasselbe auf höherer Ebene in Expertensystemen durch die Trennung von Wissen und Wissensverarbeitung.

Richtig "aufgekocht" wurde das Thema durch das mit großem Tamtam von den Japanern gestartete Projekt der "5th Generation Computer". Seit zwei Jahren schießen in den USA die Venture-Capital-Firmen mit viel Geld und wenigen cleveren Uni-Forschern aus dem Boden. Ein sicheres Zeichen, daß auch Wall Street exzellentes Wachstum und fette Gewinne für diese neue Software - und später auch Hardware-Technik - erwartet. Die dazugehörige Pleitewelle - siehe Mikrocomputer-Firmen - wird natürlich zunächst ignoriert.

Erfolgreich in der Industrie genutzte Projekte mit Expertensystemen, die sich auszahlen, sind dagegen - noch - zählbar, aber durchaus vielversprechend. Expertensysteme konfigurieren VAX- und PDP-11-Computer bei DEC (Digital Equipment Corporation), beraten Vertriebsleute ebenfalls bei DEC, diagnostizieren Fehler an Rechnern und Peripheriegeräten bei (ICL) International Computer Limited und DEC oder Diesellokomotiven bei General Electric, lokalisieren Ölquellen und Erzvorkommen, zu nennen sind hier Schlumberger und Stanford Research oder beraten Finanzmanager in Banken und Versicherungen wie Syntelligence. Man sieht, durchaus wohlklingende Namen haben den dornenreichen, aber auch profitablen Weg beschritten, unter den Ersten zu sein. Daß es sich lohnen kann, beweist beispielsweise DEC. Für das Expertensystem XCON zur Konfigurierung der DEC-Rechner wird von jährlich eingesparten zweistelligen Millionenbeträgen berichtet.

Was dagegen tut sich in Europa, insbesondere in Deutschland? Forschung und Ausbildung an den Universitäten gab und gibt es sehr wenig, man fängt erst an, wach zu werden. Auf der industriellen Anwenderseite sind nur einige zaghafte, übervorsichtige Gehversuche zu registrieren, ansonsten Kopfnicken und beobachtendes Abwarten: "Interessant, interessant, aber für uns zu früh." Dabei müßten es die Anwender sein, die durch entschlossenen Einstieg das Thema auch hierzulande auf solide Füße stellen. Denn die Technik der Expertensysteme wird sich desto schneller weiterentwickeln, je vielfältiger Darstellung von Wissen mit empirisch gefundenen Ansätzen gelingt. Eine geschlossene, etwa mathematisch fundierte Theorie ist noch nicht verfügbar. So ist der Weg, der beispielsweise bei relationalen Datenbanken von der Theorie über die erfolgreiche Implementierung von Standard-Software bis zur breiten Anwendung beschritten wurde, in diesem Fall nicht möglich.

Eine breite Palette erprobter Methoden der Wissensdarstellung erlaubt jedoch dem erfahrenen Implementierer den Einstieg. Zum Teil kann dabei auch auf Standard-Software, sogenannte "Shells", also "leere" Expertensysteme, zurückgegriffen werden. In jedem Fall wird das Kostenrisiko dadurch klein gehalten, daß Expertensysteme durch ein zum erstenmal in der DV-Geschichte mögliches "schnelles" Prototyping vom Benutzer sehr früh getestet werden können. Auf dem Prototyp aufbauend wird dann gemeinsam mit dem Benutzer das operationelle System durch Erweiterung der Wissensbasis entwickelt.

Wie wird es also weitergehen? Computer werden wirklich "denken" lernen oder sich zumindest so dem Benutzer präsentieren, als könnten sie es. Expertensysteme werden in komplexe, der DV-Unterstützung bisher nicht zugängliche Bereiche vorstoßen. Das in vielen Unternehmen manchmal nur in einem einzigen Kopf vorhandene Spezialwissen der Fachleute wird dadurch plötzlich für eine Vielzahl von "Halb-Experten" nutzbar, sogar über den Weggang oder den Tod des Experten hinaus. Umgekehrt werden die Experten aber nicht überflüssig oder durch weniger Qualifizierte ersetzbar. Ständige Pflege und Erweiterung der Systeme wird sie fordern und von Routine-Aufgaben entlasten.

Die Marktbeobachter erwarten geradezu eine Explosion der Umsätze von rund 80 Millionen Dollar für 1984 auf 2,5 Milliarden Dollar in 1993. Man wird sehen. Aber selbst bei vorsichtiger Beurteilung versprechen die Einsatzbereiche Diagnose für technische Systeme und die Medizin, Konstruktion und Planung im Fertigungsbereich, Beratung und Entscheidungsfindung bei der Interpretation von Meßdaten in zivilen und militärischen Anwendungen sowie Beratung im Banken- und Versicherungsbereich sehr gutes Wachstum für Software und Spezial-Hardware .

Wo werden die Europäer und wir Deutschen bei der Verteilung dieses Marktkuchens sein? Wie lange wird es dauern, bis die Unternehmen die Chancen dieser Technik erkannt haben und zur Produktivitätssteigerung ihrer besten Köpfe nutzen? Zwar investieren die Rechnerhersteller wie Siemens und Nixdorf schon heftig mit Unterstützung staatlicher Geldgeber. Ich habe aber die Befürchtung daß die allgemeine DV-Müdigkeit und aus Enttäuschungen gewachsene Vorsicht auf der Anwenderseite eine breite "Nutzerlücke" entstehen läßt. Ähnlich wie bei CAD/CAM kann es hier zu Wettbewerbsnachteilen in vielen Branchen kommen, die weit mehr kosten werden als entgangene Marktanteile der heimischen DV-Industrie.