Das Retortendasein geht dem Ende entgegen:

Experten-Systeme zeigen ihre kommerzielle Relevanz

06.09.1985

MÜNCHEN - Jeder will seinen eigenen Guru im Haus: Experten-Systeme (ES) scheinen längst nicht mehr nur das Fachgebiet von Wissenschaftlern und Forschern zu sein, die sich mit künstlicher Intelligenz, der fünften Generation oder anderen "Geheimnissen" auseinandersetzen. Auf dem kommerziellen Sektor stellen die Beispiele Personalberater oder "Steuerungs- und Investierungssysteme" bereits erprobte Anwendungen dar, wie auch die Planung von DV-Netzen. Experten neigen indes dazu, sich bei wichtigen Folgerungen nicht einigen zu können - manchmal ähneln in diesen Verhaltensweisen die ES den menschlichen Vordenkern.

Die wirkliche Bedeutung der Experten-Systeme liegt darin, daß sie eine Veränderung der Programmtechnologie, in der Art, wie die Programme entwickelt werden, darstellt. Die Technologie der ES ist im wesentlichen ein Werkzeug; möglicherweise eine bessere Art, Programme herzustellen, und weniger eine Möglichkeit, Fachleute arbeitslos zu machen. Als ein Werkzeug wird diese Technologie dort Anwendung finden, wo sie sich heute bestehenden Entwicklungsmethoden gegenüber als überlegen erweist.

Der Unterschied liegt in der Weise, wie Arbeitsvorgänge programmiert werden. Normalerweise muß eine Reihe von Anforderungen des Anwenders von einem spezialisierten Programmierer so programmiert werden, daß die notwendigen Instruktionen produziert werden. Bei Experten-Systemen werden die Anforderungen des Anwenders (die auf disziplinierte Art und Weise vom Standpunkt des Anwenders und weniger von dem des Programmierers aus formuliert werden müssen) automatisch umgeformt. Diese Umformung in das gewünschte Programm erfolgt durch Rückschlüsse. Vom Standpunkt des Anwenders unterscheidet sich das Ergebnis in keiner Weise von irgendeinem anderen Programm. Infolgedessen ist der Unterschied in der Programmiertechnik, der zu diesem Ergebnis führt, bedeutungslos; außer daß - nach reiflicher Überlegung - der Anwender ohne weiteres Veränderungen durchführen kann. Er muß die Forderungen lediglich modifizieren und nicht kodieren. Das ist in der Tat ein großer Unterschied.

Der Nachteil an dieser Technologie ist, daß sie zur Zeit nur in einem relativ beschränkten Anwendungsbereich wirtschaftlich eingesetzt werden kann oder da, wo die eventuelle Amortisation sehr groß ist.

Dieser letzte Punkt weist darauf hin, wo der "Experte" in diese Systeme gelangte: Wo das Expertentum darin besteht, eine kleine Anzahl von Regeln auf ein großes Kenntnisvolumen anzuwenden, können Experten-Systeme an die Stelle des Menschen als Fachmann treten. Wenn es darum geht, große Datenmengen effizient und konsequent zu durchforschen, sind Computer ihrem Wesen nach besser geeignet als der Mensch. Mit einer zahlenmäßig beschränkten und einfachen Reihe von Regeln für das Auswählen von relevanten Daten können die ES im Durchschnitt wirkungsvollere Entscheidungen treffen als der Durchschnittsexperte. Wichtig ist indes, daß das Beurteilungskriterium - jedenfalls soweit kommerzielle praktische Anwendungen betroffen sind - relativ einfach sein sollte. Auf eine andere Weise wird damit gesagt, daß diese "künstliche Intelligenz" heute funktionieren sollte, vorausgesetzt die Komponente der "klassisch menschlichen Intelligenz" ist entsprechend niedrig angesetzt. Das Potential ist natürlich eine andere Frage, aber die Angelegenheit bleibt eher ein Thema für die Forschung als für die kommerzielle Anwendung.

Ein Beispiel für ein Experten-System auf dem Markt ist ein Personalauswahl-System, das für den IBM PC entworfen wurde. Es könnte als "Personalberater" bezeichnet werden, da es nicht nur die Anforderungen der Arbeitsstelle, sondern auch die grundsätzliche Haltung der Firma sowie die Gesetzeslage berücksichtigt. Das System kann jedoch in keiner Weise als "Experte" betrachtet werden. Der potentielle Nutzen ist zweifach: Erstens kann das Programm mehr Überlegungen berücksichtigen als der durchschnittliche Interviewer, der kein ausgesprochener Experte in Personalfragen ist; und zweitens dürfte das System als Ganzes, wenn es richtig entwickelt ist, ein besseres Programm darstellen, als wenn es in herkömmlicher Technik entwickelt worden wäre. Im wesentlichen kann jedoch jede Anwendung, die unter Verwendung von ES-Technologie entwickelt wurde, mit herkömmlicher Technologie auch entwickelt werden. Der Unterschied liegt weniger im Anwendungsbereich als vielmehr in der Technologie.

Der "Experte" in Experten-Systemen ist also im großen und ganzen eine Fehlbezeichnung. Es stimmt, daß ES-Technologie auf Aufgabenstellungen angewandt wird, die nicht mit einer einzigen (numerischen) Antwort gelöst werden können, sondern für Probleme, für die die bestmögliche Lösung erforderlich ist. Der wesentliche Unterschied liegt in der Einfachheit der Spezifizierung. Dies ist besonders in solchen Fällen relevant, in denen der Analyst oder der Programmierer von Mehrzwecksystemen normalerweise versuchen müßte, eine bestimmte Fachdisziplin zu verstehen. Bei Experten-Systemen hat ein (geleiteter) Fachmann die Möglichkeit, das Programm selbst relativ schnell und ohne den allgegenwärtigen Anwendungsüberhang zu vergrößern und zu spezifizieren.

Da die meisten Manager Allroundleute sind, die sich zurechtfinden, wenn sie mit Spezialistenfragen konfrontiert werden, besteht für Programme, die - anders als Fachleute - unmittelbar zugänglich sind und wenigstens eine bessere Grundlage des Fachbereichs als der Allround-Manager haben, die Möglichkeit weitverbreiteter Anwendung.

Sobald die Technologie, die für das Entwickeln von Experten-Anwendungen erforderlich ist, entwickelt ist, nämlich das, was gewöhnlich als "Shell" bezeichnet wird, kann sie verwendet werden, um weitere Applikationen zu gestalten. Die Produktivität im Entwicklungsbereich kann dadurch enorm gesteigert werden.

Es gibt zwar Grenzen, wo die Allgemeingültigkeit von "Shell" endet, aber dennoch wurden auf diese Weise frappierende Produktivitätsgewinne erzielt.

Bislang haben sich einige interessante Nebenprobleme aus den Erfahrungen mit Experten-Systemen herauskristallisiert. Die Frage besteht nämlich: Wie kann man die Qualität der Datenausgabe eines Experten-Systems überprüfen? Genauso kann die Suche nach der bestmöglichen Lösung, wie zum Beispiel Datenbanknachforschungen, eine enorme Anzahl von "Antworten" produzieren. Diesem Problem wird damit begegnet, daß Experten-Systeme zusätzliches Wissen erhalten: zusätzliche Regeln oder modifizierte Datenassoziationen. Experten-Systeme werden nicht durch Veränderungen im Code optimiert oder modifiziert, sondern durch die Veränderung der Wissensgrundlage. Daher kann das System von Leuten mit Anwenderwissen betrieben werden, ohne daß dabei eine merkliche Intervention von Programmierern erforderlich wäre.

Ein anderer interessanter Aspekt ist die Art, wie Wahrscheinlichkeiten eines Ergebnisses spezifiziert werden. Wenn dies an vielen verschiedenen Stellen in einem komplexen Programm getan wird, so wird - wie jeder Laienstatistiker weiß - 0,8 x 0,9 x 0,7 .... bald 0,0001. Dies wäre dann die bestmögliche Lösung; damit kommt man aber nicht weiter. Die Antwort in Experten-Systemen besteht darin, in jedem Stadium aufeinanderfolgende Wahrscheinlichkeiten auf die verbleibende Ungewißheit zu beziehen. So wird eine Wahrscheinlichkeit von 0,5 x 0,5 nicht 0,25, sondern 0,75 ergeben.

Die Anwendung von Experten-Systemen verläßt langsam den Bereich der Wissenschaft und Technik, um in das allgemeinere kommerzielle Gebiet einzudringen. Der oben erwähnte "Personalberater" ist nur ein Beispiel davon. Steuersysteme, Investierungssysteme und andere finanzielle Anwendungen erscheinen in immer schnellerem Rhythmus. Ebenso wird man feststellen können, daß Experten-Systeme mehr und mehr eingesetzt werden, um mit der Komplexität von Computeroperationen zu Rande zu kommen und um in der Planung von Computer- und Netzkonfigurationen Hilfestellung zu leisten.

Daraus geht hervor, daß Experten Systeme eine entscheidende kommerzielle Bedeutung besitzen, die in dem Maße zunehmen wird, wie sie ihre Laboratoriumsursprünge verlassen und sich auf dem Markt kommerzieller Anwendung bewähren können.

*Harry Reinstein engagierte sich über 20 Jahre in der Entwicklung von Großsystemen bei IBM. In diesem Rahmen leitete er Experten-System-Projekte im wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Palo Alto, Kalifornien. Seit Mai 1984 ist Reinstein President und Chief Executive Officer der Aion Corp. in Kalifornien. Das Unternehmen erstellt mit Hilfe der Expert-System-Technik kommerzielle Anwendersoftware. Dieses Referat hielt der Autor auf der Eurocim-Konferenz vom Institute of Software Engineering, München.

Das Institut für Software-Engineering ist ein selbständiges Unternehmen von Boole + Babbage, Kalifornien, sowie der European Software Company GmbH. Es ist ein Tochterunternehmen vom Institute for Information Management in den Vereinigten Staaten.