Supply-Chain-Management/Erfolgsfaktor Supply-Chain-Management

Experten sehen die Zeit für Produktionsnetzwerke gekommen

08.12.2000
Das Versprechen klingt vertraut: Supply-Chain-Management (SCM) werde Betriebskosten senken und neue Wertschöpfung erzielen, ist unter Insidern zu hören. Was sich tatsächlich dahinter verbirgt, wollten Produktionsplaner, Logistikexperten und IT-Verantwortliche erfahren, die sich vor wenigen Wochen auf einem Kongress in München trafen. Soviel vorweg: Der Faktor Mensch bleibt unverändert die größte Unbekannte. Winfried Gertz* berichtet.

Unter dem Eindruck der New Economy stoßen traditionelle Produktionsabläufe an ihre Grenzen. Globalisierung, Arbeitsteilung und Shareholder Value zwingen die Unternehmen, sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren und die unvermindert wuchernde Komplexität von Innen- und Außenbeziehungen erfolgreich zu managen. Dabei kommt der Informationstechnik durchaus die Rolle des "Enablers" zu, ist Horst Wildemann überzeugt. Wildemann, Inhaber des Lehrstuhls für Logistik an der TU München und Veranstalter eines SCM-Kongresses in München: "Gelingt es Unternehmen, ihre Supply Chain von Informations-Asymmetrien zu befreien, erschließen sie sich damit ein hohes Potenzial für nachhaltige Wertschöpfung."

Doch der ungehinderte Informationsfluss, den Wildemann beschwört und den Softwarehersteller ihren zaudernden Kunden versprechen, ist angesichts der vorherrschenden IT-Landschaft in vielen Unternehmen nur eine weitere Illusion. Proprietäre Systeme, ein kunterbuntes Nebeneinander teurer Eigenentwicklungen sowie die an langfristige Vereinbarungen gekoppelten PPS- und ERP-Systeme ersticken jegliche Hoffnung auf Verbesserung im Keim. Die schnöde Realität: Nach wie vor werden Zeitvorgaben für Produktionsschritte starr vorgegeben, ohne etwa Materialfluss oder Maschinenauslastung einzubeziehen. Nicht die Verfügbarkeit von Menschen, Maschinen und Transportkapazität legt die Auftragsabwicklung fest, sondern allein der Liefertermin. Wo fließen denn Echtzeitdaten in die Planung ein, wo werden externe Restriktionen von Zulieferern und Kunden berücksichtigt?

Die hieraus resultierenden Nachteile liegen auf der Hand: Hohe Sicherheitsbestände, starke Belastungsschwankungen, lange Durchlaufzeiten und geringe Terminpräzision werfen viele Unternehmen im Wettbewerb zurück. Um dieser Falle zu entkommen, hat sich zum Beispiel die Otto Fuchs KG in Meinerzhagen entschlossen, SCM zunächst im eigenen Unternehmensverbund einzuführen. Unter dem Dach der Fuchs-Gruppe liefern zahlreiche Produktionsbetriebe im In- und Ausland Schmiedeteile, Stangen und Rohre sowie Aluminiumräder für die Automobil- und Baubranche sowie für die Luft- und Raumfahrtindustrie.

Zeitgleich mit der Einführung von SAP R/3 entschieden sich die Verantwortlichen für Logistik, Unternehmensplanung und EDV, das ERP-System mit einer SCM-Lösung zu verknüpfen. Neben einer zentralen Konsolidierung von Daten wurden alle Produktionsabläufe von der zentralen auf die dezentrale Planung vor Ort in den jeweiligen Produktionsbetrieben umgestellt. Um die durchgreifenden Veränderungen organisatorisch abzusichern, wurden die Betriebe in Profit-Center umgewandelt sowie Gruppenarbeit undleistungsbezogene Vergütung eingeführt.

Wie IT-Leiter Hans-Hermann Döppers in München berichtete, könnten Gießerei, Presserei, Schmiede oder Beizerei nun eigenständig ihre Kapazitäten planen und sich selbst steuern: "Inzwischen haben sich echte Kunden- und Lieferantenbeziehungen etabliert." Das intern aufgebaute Netzwerk aus miteinander kommunizierenden Produktionsstätten (P-to-P) bedient sich dabei der CRM-Lösung "LS PN" von Lipro Systems, das den Paradigmenwechsel von der absatzbezogenen Push- zur kundenorientierten Pull-Produktionssteuerung maßgeblich unterstützt. Doch so sehr die Beteiligten die Fortschritte des internen SCM-Konzepts auch loben, machen sie aus ihren Enttäuschungen keinen Hehl. "Ohne Schnittstellenprogrammierung geht nichts", räumt Döppers ein. Zudem habe sich der zu Beginn geplante Kostenaufwand bereits verdreifacht. Letztlich sind es aber die Menschen, die den erhofften Durchbruch massiv behinderten. "Man ist erst dann bereit, etwas zu verändern, wenn es einem an den Geldbeutel geht."

Die Umstellung auf flexible Produktionsabläufe und damit korrespondierende Informationsflüsse ist also leichter gesagt als getan. Den vordergründigen Heilsversprechen der IT-Lieferanten traut auch Ulrich Wegener, IT- Manager der Rosenthal AG in Selb, nicht über den Weg. "Zuerst muss Klarheit herrschen, welche organisatorischen Bedingungen erforderlich sind, um Kundenzufriedenheit zu erhöhen und Bestände zu verringern. Erst zum Schluss sollte man das Angebot von IT-Lösungen kritisch unter die Lupe nehmen."

Das Mitte der 90er-Jahre tief in die Krise geratene Traditionsunternehmen musste 1997 seine Produktionsabläufe neu strukturieren. Während man sich von den Bereichen Glas und Keramik trennte, dreht sich seither alles nur noch um Porzellan. Rund 40 Millionen Mark investierte Rosenthal in neue Technik, schulte die Mitarbeiter in IT und übte das notwendige Prozessbewusstsein ein. Wie die Firma Hutschenreuther, seit 1997 ebenfalls Tochter des britischen Branchenriesen Waterford-Wedgewood, entschied sich auch Rosenthal, von der inflexiblen SAP-R/2-Umgebung "sanft" nach R/3 zu migrieren. Während Controlling, Vertrieb und Materialwirtschaft in R/3 abgebildet werden, favorisiert Wegener wie seine Kollegen von Otto Fuchs bei der Produktionssteuerung die SCM-Lösung "LS PN".

P-to-P lautet das neue Paradigma. Wegeners Ziel: die Kooperation und Kommunikation der neu organisierten Produktionsbereiche in der internen Supply Chain kontinuierlich zu verbessern. Nachdem man sich 1997 von der hierarchischen Struktur verabschiedet hat und vorübergehend den Projektstatus favorisierte, soll sich die betriebliche Organisation bereits im nächsten Jahr nur noch an Kernkompetenzen orientieren. Zwischen den einzelnen Segmenten wie zum Beispiel Gießen, Flachware oder Dekoration soll eine konsequente Kunden-Lieferanten-Beziehung herrschen. Die Erwartungen sind hoch: Sollten die ineinander greifenden Systeme die neuen Abläufe tatsächlich nachhaltig unterstützen, hätte sich SCM durchaus als "Wertetreiber" seine Lorbeeren verdient. Denn wer Prozesse erfolgreich beschleunigt, hebt laut "Logistik-Papst" Wildemann auch die Produktivität. Wer Transparenz erhöhe, stärke den Kundennutzen. Und wer Informationsblockaden abbaue, schaffe eine zentrale Voraussetzung für das Unternehmenswachstum. Den Finanzchef wird''s freuen, schließlich hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die Eigenkapitalrendite.

Doch welche Faktoren beeinflussen in Zukunft die Steuerung von Produktionsnetzwerken? Welchen Einfluss haben Servicegrad, technische Restriktionen oder Arbeitszeitmodelle, wie ist eine hinreichende Flexibilität von Produktionsprozessen zu gewährleisten? Um solchen Fragen nachzugehen, hat sich die BMW AG in München für SCM in einer nicht-operativen, sondern strategischen Anwendung entschieden. Wie der Leiter der Szenariosimulation Günther Schäfer auf dem Kongress erläuterte, zeichne sich die Time-to-Market-Planung in der Automobilindustrie durch immer kürzere Produktzyklen sowie ein unverändert hohes Investitionsrisiko aus. Anhand Software-gestützter Szenarien versucht Schäfers Team beispielsweise auszuloten, welcher Standort sich für welche Leistung anbietet, wie Supply Chains mit optimaler Kostenstruktur beschaffen sein müssen oder welche Auswirkungen etwa von Wechselkursschwankungen zu erwarten sind. Im KlarteXT:"Welche Auswirkungen hat es, wenn wir an einem bestimmten Schräubchen drehen?"

Grundlage für die Szenariosimulation ist "Enterprise Planner", ein SCM-Werkzeug von J. D. Edwards. Wie in einem Cockpit visualisiert die Anwendung alle notwendigen Informationen, die zum Durchspielen verschiedener Szenarien erforderlich sind. Voraussetzung dazu ist freilich die Entwicklung eines Modellsystems, das wie bei BMW im Wesentlichen auf die Netzwerkelemente "Absatzmärkte", "Sourcing-Märkte", "Auslandsfertigungen" sowie "Lieferanten" aufbaut. Ungleich aufwändiger als die Modellentwicklung ist jedoch die Einbindung aller relevanten Datenquellen. Wie Schäfer frank und frei eingestand, ist die dazu erforderliche Bereitschaft der Fachabteilungen längst nicht so groß wie ursprünglich angenommen. Dennoch sei der Nutzen der "einmal sauber parametrisierten" Lösung enorm hoch, zumal sie "auf Knopfdruck" Trends und Potenziale veranschauliche, die bei der Präsentation im Top-Management erheblichen Eindruck hinterlasse. "Wurden früher für vergleichbare Simulationen sechs bis acht Wochen Zeit veranschlagt, benötigen wir heute nur noch drei Tage." Unter dem Strich soll das innovative Verfahren wesentlich dazu beitragen, den Zeitaufwand für die Planung von Produktionsnetzwerken zwischen 20 und 50 Prozent zu senken.

Damit die modernen Lieferketten wie ein Schweizer Uhrwerk ineinander greifen, bedarf es professioneller Serviceanbieter. Logistische Dienstleistungen zu erbringen ist heute von vielen Faktoren abhängig. "Früher spielten Kosten kaum eine Rolle, wir mussten nur Kapazitäten bereitstellen", erinnert sich Ralph Gallop, Geschäftsführer der Industrie-Logistik-Linz GmbH. Heute dagegen sei der Druck zu Kostenoptimierung und Performanceverbesserung kaum noch zu erhöhen. Doch alle Versuche scheinen zu scheitern. "Innovationen werden vernachlässigt, und Schnittstellenprobleme ersticken zaghafte Integrationsbestrebungen bereits im Keim."

Waggon-Umlaufzeiten halbiertDamit wollte sich Gallop aber nicht abfinden. Zusammen mit den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) und der VA-Stahl Linz GmbH errichtete er einen "virtuellen Leistungsverbund (Steel)" für die Zulieferung von Stahl an die Automobilindustrie. Auf Basis des Werkzeugs "Bestands-Management" von J. D. Edwards entwickelten die Spezialisten eine Branchenlösung, die unternehmensübergreifende Prozesse weitgehend automatisch steuert. Der nach acht Wochen Entwicklungszeit eingesetzte Pilot hat laut Gallop bereits nachweisliche Erfolge erzielt. Durch Optimierung von Ressourcen konnten Bestände und operative Kosten gesenkt sowie die Fluktuation von Spitzenbelastungen "geglättet" werden. Ein permanenter Überblick über den Versandstatus habe unmittelbar Auswirkung auf die Planung des Waggon-Bedarfs.

"Dass wir die Waggon-Umlaufzeiten fast halbieren konnten", so Gallop, "ist für jeden Stahlerzeuger eine fast sensationelle Entwicklung." Haben denn die Mitarbeiter des Staatsbetriebes ÖBB die notwendigen Veränderungen - weg von der Anweisung, hin zu prozessorientiertem Denken - von Anfang an mitgetragen? Gallop: "Viele wurden ausgetauscht. Jedoch mit den IT-Leuten gab es keine Probleme. Sie sind von Haus aus flexibler im Denken."

*Winfried Gertz ist freier Autor in München.

Abb.1: Für logistische Netzwerke

... ergeben sich durch die Organisation nach SCM-Prinzipen Wettbewerbsvorteile. Quelle: Fraunhofer IAO

Abb.2: Die Konzepte zum Supply-Chain-Management

... optimieren die Prozesse im Bereich Beschaffungs- und Produktionslogistik. Quelle: Wildemann