KI-Vorreiter prognostiziert gravierenden Umdenkungsprozeß:

Experte wird selber zum Knowledge-Engineer

21.11.1986

MÜNCHEN (kul) - Schon in den nächsten fünf bis zehn Jahren dürfte der gegenwärtige Engpaß an Knowledge-Engineers der Vergangenheit angehören: Künftig werden die Experten ihr Know-how direkt in ein Expertensystem einspeisen. Diese These vertrat Professor Edward Feigenbaum von der kalifornischen Stanford University anläßlich des Sperry-Symposiums "Künstliche Intelligenz und Expertensysteme" in München. Die geladenen europäischen KI-Experten zeigten sich dieser Prognose gegenüber allerdings skeptisch.

Für die wachsende Bedeutung der Künstlichen Intelligenz, so der Referent, seien vor allem wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend: Die zunehmende Technisierung fast aller Lebensbereiche führe dazu, daß immer mehr Menschen geistig arbeiten. Dabei stelle die numerische Berechnung nur einen kleinen Part des gesamten Aufgabenkomplexes dar, der hier bewältigt werden müsse. Eigentliche Forderung an die Informationsverarbeitung sei deshalb, daß sie Unterstützung bei der intellektuellen Arbeit bietet. Feigenbaum: "Die wirkliche technische Revolution am Ende des 20. Jahrhunderts spielt sich in der Wissensverarbeitung ab."

Programmierung läßt sich zunehmend automatisieren

Unter diesem Aspekt sieht der amerikanische Professor auch die künftige Entwicklung der DV-Industrie: Schon in den nächsten fünf Jahren werden seiner Ansicht nach die Experten ihre eigenen Knowledge-Engineers sein, weil die Tools zur Erstellung eines KI-Systems immer besser und benutzerfreundlicher werden. Da sich die Programmierung selbst zunehmend automatisieren lasse, dürfte der Berufsstand des Programmierers genau wie der des Knowledge-Engineers mehr oder weniger zur Bedeutungslosigkeit absinken und durch den "Information Systems Designer" abgelöst werden. Ferner komme es zu einer intensiven Annäherung zwischen Künstlicher Intelligenz und traditioneller DV; Ansätze im Bereich der Verknüpfung von Knowledge Bases und Datenbanken seien schon heute zu erkennen.

Für die nächsten 20 Jahre zeichnet sich Feigenbaum zufolge darüber hinaus ab, daß angesichts der zunehmenden Komplexität von Aufgaben, die mit Hilfe eines Expertensystems gelöst werden sollen, die Wissensbanken immer umfangreicher werden. Schon aufgrund von ökonomischen Überlegungen könne ein einzelnes Unternehmen die hierfür erforderlichen Entwicklungsaufgaben nicht mehr im Alleingang bewältigen. Die Zukunft gehöre deshalb der Kooperation zwischen mehreren Anbietern, vor allem im Rahmen nationaler und internationaler Organisationen.

Langfristig schließlich werde die Künstliche Intelligenz auch in das Bibliothekswesen Einzug halten: Hier komme einem Expertensystem die Aufgabe zu, den bisher statischen Informationsfundus der Nachschlagwerke und Zeitschriften so zu aktivieren, daß der Kunde mit einem Minimum an Aufwand den größtmöglichen Informationsgewinn erzielen könne.

Mit "gedämpftem Optimismus" standen auch die deutschen Referenten, Dr. Bernd Radig und Dr. Wolfgang Bibel, beide von der Technischen Universität München, der zukünftigen Entwicklung der Expertensystemtechnik gegenüber. Zwar, so Bibel, sei es heute noch eine Illusion, im Bereich der wissenschaftlichen Literatur an eine automatische Akquisition über ein Lesegerät zu denken. Dennoch gebe es bereits genügend durchformalisierte Abhandlungen, die eine solche Vorgehensweise zumindest im Experiment erlaubten.

München als Standort für KI-Zentrum im Gespräch

Impulse für eine engere Kooperation zwischen Industrie und Universität auch im deutschsprachigen Raum forderte Dr. Bernd Radig in seinem Vortrag. Ein Ansatz hierfür sei durch das Rahmenkonzept des Bundesministeriums für Forschung und Technologie zum Ausbau der Grundlagenforschung für die Informationstechnik gegeben. Vorgesehen sei die Gründung von Instituten auf Zeit, in denen Mitarbeiter aus Forschungseinrichtungen und Industrie gemeinsam an einer Forschungsaufgabe arbeiten und danach wieder zu ihrer ursprünglichen Tätigkeit zurückkehren. Die Umsetzung dieses Konzepts soll durch die Gründung eines KI-Zentrums forciert werden, in dem 50 bis 100 Wissenschaftler zusammenarbeiten. "Ein günstiger Standort", so der Referent, "wäre der Raum München, da sich hier Forschungspotential und Anwendungsbedarf besonders stark entgegenkommen."

Der von Feigenbaum aufgestellten These, der Engpaß an "Wissensingenieuren" werde sich schon bald von selbst beheben, begegneten die beiden TU-Professoren allerdings mit Skepsis: Noch auf absehbare Zeit könne man nicht davon ausgehen, daß bei den Experten ein Umdenkungsprozeß einsetze, der zu einer strukturierten und somit computergerechten Darstellung des eigenen Know-how führe. Vor allem außerhalb der naturwissenschaftlichen Domäne sei hier mit Schwierigkeiten zu rechnen. Auf den qualifizierten Knowledge-Engineer als Mittler zwischen Fachwissen und Expertensystem könne folglich auch in Zukunft nicht verzichtet werden. Ziel müsse es deshalb sein, nach amerikanischem Vorbild auch in Europa entsprechende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu schaffen.