Sprachanalyse

Es zählt das gesprochene Wort …

27.03.2017
… oder das geschriebene. Personalberater, Anwender und Hersteller experimentieren mit Sprachanalysesoftware, die aus der Sprech- oder Schreibweise eines Bewerbers auf seine Persönlichkeit schließt.
  • Eignungsdiagnostik bedeutet, sich mit technischen Mitteln bei der Überlegung helfen zu lassen, welcher Kandidat für welche Stelle in Betracht kommt
  • Sprachanalysesoftware kann im Recruitingprozess helfen

"Mit Eignungsdiagnostik beschäftige ich mich schon seit 2005", sagt Dagmar Schimansky-Geier, Gründerin und Geschäftsführerin von 1a Zukunft. Die Bonner Unternehmensberatung hat sich auf die Vermittlung von IT-Experten, besonders mit SAP-Know-how, spezialisiert. Zurzeit sucht sie für ihre Kunden unter anderem Data Scientists Internet of Things, einen Senior Consultant SAP Master Data Management und einen Projekt-Manager SAP Logistik. Eignungsdiagnostik hieße hier, sich mit technischen Mitteln bei der Überlegung helfen zu lassen, welcher Kandidat für welche Stelle in Betracht kommt. "Es gab Anläufe mit verschiedenen Anbietern", bilanziert Schimansky-Geier. "Mit Precire hat es dann am besten gepasst."

Sprachanalysesoftware erleichtert die Auswahl von geeigneten Kandidaten.
Sprachanalysesoftware erleichtert die Auswahl von geeigneten Kandidaten.
Foto: BrAt82 - shutterstock.com

Precire, die Sprachanalysesoftware des mittlerweile gleichnamigen, früher unter Psyware GmbH firmierenden Aachener Unternehmens, ist in letzter Zeit recht bekannt geworden. Der Clou der Technik ist ihre Inhaltsunabhängigkeit. Die Software führt mit jedem Teilnehmer dasselbe automatische, ungefähr 15 Minuten lange Telefoninterview zu Alltagsfragen wie: Was ist für Sie ein schöner Sonntag? Wie sieht ein gelungener Urlaub aus? Was der Teilnehmer darauf antwortet, ist egal, entscheidend ist, wie er es tut: Die künstliche Intelligenz in Precire untersucht die Sprachproben auf Sprechmerkmale wie Geschwindigkeit, Stimmumfang und Tonhöhe und auf Sprachmerkmale wie Satzbau und Wortarten. Die Ergebnisse vergleicht Precire mit Teilnehmern aus einer Referenzgruppe von mehr als 5000 Personen. Der neue einzelne Teilnehmer kann zum Beispiel erfahren, dass er zu 89 Prozent einer Gruppe sehr zielorientierter Menschen ähnelt, aber nur zu sieben Prozent einer Gruppe, deren Sprache innerhalb eines "Vertriebsprofils" als "informativ" bewertet wird. Kunden wie Randstad und Fraport können mit Precire Bewerber oder Mitarbeiter testen. Die Krankenkasse Actimonda hat ihren Versicherten eine Zeitlang einen Stresstest auf Precire-Basis angeboten.

Neue Referenzgruppe

Die 5000-Personen-Referenzgruppe ist beruflich bunt gemischt. Das Pilotprojekt, das 1a Zukunft mit Precire betreibt, bricht mit diesem Prinzip. "Meine Idee war, eine Vergleichsgruppe aus IT-Beratern im SAP-Umfeld aufzubauen, das gibt es bisher nicht", erklärt Dagmar Schimansky-Geier. "Erfolgreiche SAP-Berater, die wir bei unseren Kunden platziert hatten, und leistungsstarke aktuelle Kandidaten" fanden sich bereit, mit Precire das standardisierte Telefoninterview zu führen. Aus diesen -wesentlich weniger als 5000 - Tonproben gewann Precire das "Referenzprofil IT-/SAP-Berater". Künftige Kandidaten werden also unter Gesichtspunkten wie "Teamplayer", "Sprachvielfalt", "Selbstorganisation" und "Überzeugungskraft" nicht mit der großen Precire-Gruppe verglichen, sondern mit als erfolgreich eingeschätzten beruflichen Peers. Agostino Cisco, der als Senior Manager HR Solutions das Pilotprojekt von Precire-Seite betreut, hält das für sinnvoll, weil sich zwischen beiden Gruppen sprachlich und in den Kompetenzen charakteristische Unterschiede gezeigt hätten: "Die IT-Berater sprechen prägnanter und einfacher als der Durchschnitt, ihre Sprache transportiert deutlich mehr Zuversicht und ist nüchtern und eher emotionslos. Sie verwenden mehr Fachwörter." Die "prognostische Logik" sei einfach: Wer den Erfolgreichen ähnelt, wird selbst erfolgreich sein.

Beide Seiten betrachten das Projekt als ausbaufähig. Dagmar Schimansky-Geier könnte großen Kunden - sie nennt zwei sehr bekannte - vorschlagen, für sie zusammen mit Precire ein "unternehmensspezifisches Referenzprofil" zu erarbeiten. Precire darf das Referenzprofil SAP-/IT-Berater auch anderen Kunden anbieten, da man mit 1a Zukunft eine Vertriebspartnerschaft geschlossen hat.

Wenn Firmen hervorragende Kandidaten schon bei kleinen Unstimmigkeiten ablehnen, wird das nicht nur den Bewerbern nicht gerecht, sondern frustriert auch Dagmar Schimansky-Geiers "tolle junge Mitarbeiter". Von Precire erhofft sie sich "objektive Argumente, die helfen, Unternehmen von guten Kandidaten zu überzeugen".

IBM: Ein anderer Ansatz

"Personality Insights beruht auf Watson-Technik", erklärt Sven Semet, der als HR Thought Leader IBM Watson Talent Solutions für Anwendungen künstlicher Intelligenz in Recruiting und Personalwesen zuständig ist. "Deshalb kann das System auch unstrukturierte, frei formulierte Texte analysieren, zum Beispiel Anschreiben und Empfehlungsschreiben." Personality Insights wertet schriftliche Bewerbungen nach drei Richtungen aus: dem Big-Five-Persönlichkeitsmodell - inwieweit kennzeichnen Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus den Bewerber? -, den Unternehmenswerten ("Values") und den Bedürfnissen des Bewerbers ("Needs"). Auf dieser Grundlage zeichnet Personality Insights ein Charakterprofil des Bewerbers.

Der Benutzer kann einfach die Standardauswertungen des Systems abwarten - einen Eindruck davon gibt auf der IBM-Plattform Bluemix eine Demoversion, der man einen Text von mindestens 100 Wörtern anvertrauen muss. Er kann aber auch Eigenschaften gewichten, die der Bewerber aufweisen soll, etwa Aufrichtigkeit und Engagement, oder er kann sich einen Kandidaten wünschen, der auf 95 Prozent der als maximal gesetzten Risikobereitschaft kommt. Hier liegt ein gängiger Vorwurf in der Luft: Eine Chance hat nur, wen der Algorithmus als verwertbar einstuft. Sven Semet sieht es anders: "Personality Insights verhindert Diskriminierung. Name und Geschlecht eines Bewerbers spielen für diese Technik keine Rolle. Sie schützt uns vor unserem kulturellen Schubladendenken."

Sprache weiß mehr

Personality Insights ist nicht nur für Personalverantwortliche gedacht. IBM bietet die linguistischen Analysen allen Unternehmen an, die Kunden gewinnen, kennenlernen, behalten und ihre Entscheidungen prognostizieren wollen. Natürlich lässt sich das System auch zur Negativauslese verwenden, beispielsweise von Kreditinstituten.

Wie Precire beruht Personality Insights auf der Überzeugung, Sprache sage über ihren Sprecher oder Schreiber mehr aus, als ihm bewusst sei. Personality Insights arbeitet allerdings stärker inhaltsbezogen. Eine Sentiment-Analyse - ist der Schreiber positiv, negativ oder neutral gestimmt? - setzt zum Beispiel bei den Adjektiven an. Hier geht es also nicht darum, ob und wann jemand überhaupt Adjektive verwendet, was durchaus aussagekräftig sein kann, sondern um deren Bedeutung.

Dagmar Schimansky-Geier, Gründerin und Geschäftsführerin von 1a Zukunft, beschäftig sich seit 2005 mit Eignungsdiagnostik.
Dagmar Schimansky-Geier, Gründerin und Geschäftsführerin von 1a Zukunft, beschäftig sich seit 2005 mit Eignungsdiagnostik.
Foto: 1A Zukunft

Precire bietet Kunden an, in Call-Centern "die Kundenzufriedenheit während des Gesprächs" zu messen. Das wüssten die Anrufer dann wohl nicht. Mit den schriftlichen Texten, die Personality Insights analysiert, verhält es sich oft ähnlich. Zum Beispiel in sozialen Netzwerken. Das Berliner Startup Talentwunder hat mit Personality Insights eine Suchmaschine entwickelt, die in Social Media und beruflichen Online-Netzwerken nach wechselwilligen Fachkräften sucht und mit Big-Data-Analysen die Umzugs- und Wechselbereitschaft der "Kandidaten" berechnet, die zu diesem Zeitpunkt allerdings noch gar nicht kandidiert haben und von diesem Gebrauch ihrer Äußerungen mit einiger Wahrscheinlichkeit nie erfahren.

Wahrscheinlich haben sich viele Personality-Insights-Anwender auch aus Zeitdruck für das System entschieden. Immer wieder liest und hört man von den drei bis fünf Minuten, die ein Personalverantwortlicher sich mit einer schriftlichen Bewerbung befassen könne. Sortiert Personality Insights die Zuschriften aus, die er auch selbst aussortieren würde, hat er für die passenden mehr Zeit. Damit wäre es für Sven Semet, der große Stücke auf das System hält, aber auch gut: "Die endgültige Entscheidung über neue Mitarbeiter würde ich der Technik nicht überlassen, sondern weiterhin immer drei bis fünf Kandidaten zu persönlichen Gesprächen einladen."

Die Grenzen der Korrelationen

Am Psychologischen Institut der Universität Zürich untersucht Markus Wolf die Wirksamkeit von Psychotherapien. Unter anderem geht es dabei um mögliche Verbindungen von Kommunikation, Sprache und Persönlichkeit.

CW: Herr Wolf, kann Sprachanalysetechnik etwas herausfinden, was ein erfahrener Personalleiter oder Psychotherapeut nicht auch so merkt?

MARKUS WOLF: Therapeuten konzentrieren sich auf Inhalte, also auf das, was der Patient erzählt. Merkmale wie Stimmlage und Sprechtempo registrieren sie eher beiläufig. Die Idee, solche para- und nonverbalen Merkmale, die einem sonst entgehen, messbar zu machen, ist faszinierend. Das hat definitiv Zukunft, es ist gut, dass sich Wissenschaftler und Unternehmen damit befassen. Bisher bekannt gewordene Anwendungen für Diagnosen oder Bewerberempfehlungen sehe ich allerdings skeptisch.

CW: Warum?

MARKUS WOLF: Sprachanalysesoftware arbeitet mit Korrelationen. Wer zum Beispiel Schmerzen oder Stress hat, sagt öfter "ich" als andere, weil sein Befinden ihn zwingt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Solche Korrelationen gibt es, aber sie sind relativ schwach. Man müsste jeweils durch Längsschnittstudien untersuchen, ob jemand wirklich deshalb ein guter IT-Berater ist, weil er sich einer bestimmten Syntax und einer bestimmten Wortwahl bedient. Gibt es auch schlechte IT-Berater, die so sprechen, oder gute, die anders sprechen?

CW: Untersuchen die Hersteller so etwas nicht?

MARKUS WOLF: Da Längsschnittstudien oder Experimente methodisch anspruchsvoll und kostspielig sind, verlässt man sich auf Korrelationen. Ein zweites Problem ist, dass man in einem Algorithmus 20 oder 30 Korrelationen bündeln muss, um die nötige Aussagekraft zu erreichen. Eine allein sagt zu wenig. Wie und was die Unternehmen bündeln, verraten sie aber nicht. Der Algorithmus ist eine Blackbox, Außenstehende erfahren nicht, wie er zu seinen beruflichen oder gesundheitlichen Einschätzungen kommt.

CW: Weiß der Benutzer denn, woran er gemessen wird?

MARKUS WOLF: Hier stellt sich das Ähnlichkeitsproblem. Information Retrieval und Machine Learning sind konservativ. Am Anfang ist das System offen. Ist aber einmal eine Referenzgruppe gebildet, mit der neue Testanden dann verglichen werden, zementiert sich das System selber. Der neue Bewerber wird nur danach beurteilt, wie sehr er früheren Bewerbern ähnelt.