"Soviel Standardsoftware wie möglich, soviel Individualsoftware wie nötig."
Dieses Prinzip hat sich bei der Entscheidung über kommerzielle
Großrechneranwendungen weitgehend durchgesetzt. Das Prinzip wird zum
Dogma, wenn über StandardsoftwareAlternativen nicht mehr nachgedacht
wird. Es setzt DV-Managern Scheuklappen auf und behindert wertvolle
Entwicklungen, die längst überfällig sind; so zum Beispiel bei CASE-Tools und
hohen Programmiersprachen.
Zweifellos gibt es gute Gründe, sich für Standardsoftware zu
entscheiden:
- Viele Anwender haben leidvolle Erfahrung mit eigenen DV-Projekten
gemacht, die einfach nicht zu Ende gehen wollen und Unsummen verschlingen.
- Oft herrscht der Glaube vor, daß Standardsoftware aufgrund ihres vielfachen
Einsatzes zu deutlich geringeren Stückkosten produziert werden kann als
Individualsoftware.
- Viele hegen die Hoffnung, durch regelmäßige Release-Wechsel "State of the
Art" zu bleiben.
- Nicht wenige sind überzeugt, daß die große Standard-Karawane auf zwar
ausgetretenen, aber sicheren Pfaden wandelt.
- Auch wird die Meinung vertreten, daß das Preis-Leistungs-Verhältnis vor der
Kaufentscheidung feststeht.
- Schließlich ist die Auffassung häufig anzutreffen, daß bei Softwarefehlern oder
Wartungsbedarf der Hersteller herangezogen werden kann.
DV-Verantwortliche, die das Top-Management mit diesen
Argumenten zur Anschaffung von Standardsoftware bewegen wollen, sollten
auch die Kehrseite der Medaille beleuchten, um sich vor späteren Vorwürfen zu
schützen:
- Die Entscheidung für Standardsoftware birgt Abhängigkeiten. Um es mit den
Worten Davidows auszudrücken: "Der Anwender geht eine
Schicksalsgemeinschaft mit dem Softwarelieferanten ein" und - was häufig
übersehen wird - bei proprietären Systemen auch mit dem Hardwarehersteller.
- Zur Integration in die bestehende Systemumgebung ist nicht nur erheblicher
Aufwand nötig, sondern es entstehen zusätzliche personelle Abhängigkeiten
von externen Beratern.
- Kreative Kräfte wie Systemanalytiker und Projektleiter wandern ab, wenn
ihnen nach der Standardsoftware-Einführung keine adäquate Aufgabenstellung
mehr zufällt.
- Die Entscheidung für Standardsoftware bringt in der Regel einen Rückschritt
auf die Programmierebene von vorgestern, nämlich auf Assembler-Niveau.
Was dies bedeutet, macht eine Umfrage klar, die der Autor im September 1989
bei 20 DV-Verantwortlichen durchführte, die Standardsoftware eines
bekannten deutschen Herstellers einsetzen.
16 der 20 Befragten hatten sich entschlossen, die Software auf
Assembler Level zu modifizieren, da die Anforderungen erheblich über den
Standard hinausgingen. 15 der 20 Befragten überschritten das vorgesehene
Budget um mehr als 100 Prozent. Bei diesen Befragten überstiegen die Kosten
für die Anpassung die Investition für die Software selbst.
- Standardsoftware-Hersteller stehen vor der Schwierigkeit, möglichst viele
Besonderheiten ihrer Kunden in das Endprodukt einzuarbeiten (es gibt
Standardsoftware, aber keine Standardunternehmen). Dies führt zu einem
"Dinosauriereffekt" beziehungsweise dazu, daß der einzelne Kunde
beispielsweise von 100 Prozent Software nur 20 Prozent nutzt. Der Einsatz von
Rechnerressourcen ist hoch - und der Anwender zahlt Entwicklungsaufwand,
den er nicht nutzen kann.
- Obwohl Standardsoftware-Häuser sich bemühen, viele anwenderspezifische
Anforderungen zu berücksichtigen, läßt es sich nicht vermeiden, daß ein Teil
der Kundenwünsche auf der Strecke bleibt, wenn nicht modifiziert wird. Da der
Aufwand für Modifikationen nicht nur groß, sondern auch schwer abschätzbar
ist, gehen die Anwender dazu über, die organisch gewachsene
Unternehmensstruktur über Bord zu werfen. Sie passen sich der
konfektionierten Software "der Einfachheit halber" an.
Durch diese Entscheidung wird ein marktwirtschaftlicher
Erfolgsfaktor ersten Ranges, nämlich die Individualität der im Wettbewerb
stehenden Wirtschaftssubjekte hinsichtlich ihrer Informationsströme und
Organisationsstrukturen zunichte gemacht.
Es muß gefragt werden, ob dieser "technische Sozialismus" nicht zu
einem neuen, uniformen und unbeweglichen Unternehmenstypus führt, in dem
Wettbewerb keine entscheidende Rolle mehr spielt.
Durch die offene Diskussion dieser Themen zwischen
DV-Verantwortlichen und Vorstand wird die strategische, ja kulturelle
Dimension der Entscheidung für oder gegen Standardsoftware transparent.
DV-Chefs, die diesen Prozeß anstoßen, beweisen, daß sie über den Tellerrand
des operativen Geschehens hinausblicken.