CW-Roundtable zum Thema Offshoring

"Es geht nicht nur um Kosten"

18.06.2004
Kein Thema bewegt die IT-Branche momentan so wie die Auslagerung vom Programmierleistungen nach Osteuropa oder Indien. Die COMPUTERWOCHE brachte alle Betroffenen an einen Tisch - Softwarefirmen, CIOs, Dienstleister, Entwickler und Berater. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage: Hat der Softwareentwicklungsstandort Deutschland noch eine Zukunft?

CW: Offshoring ist in aller Munde. Drei von vier Unternehmen nutzen inzwischen IT-Kapazitäten in Niedriglohnländern oder planen entsprechende Projekte. Die Aufregung ist groß. Es geht um Tausende von Arbeitsplätzen, die von der Auslagerung ins Ausland bedroht sind.

MOSSACK: Man darf einfach nicht die Augen davor verschließen, dass es heutzutage an vielen Standorten in der Welt sehr gute und stark motivierte Softwareentwickler gibt, die zu einem Bruchteil der Kosten arbeiten, die für vergleichbare Tätigkeiten in Deutschland anfallen würden. Andererseits bietet die Software AG hochkomplexe Produkte im Bereich Datenbanken und Middleware an. Die für die Entwicklung und Wartung dieser Produkte und Lösungen notwendigen Skills sind unser strategisches Asset. Das können und wollen wir nicht einfach ins Ausland verlagern. Insofern wird es für uns stets darauf ankommen, die Balance zu halten zwischen dem Vorhalten notwendigen Know-hows hierzulande sowie den Kostenvorteilen und der letzten Endes höheren Produktivität an anderen Standorten.

CW: Aber diese Balance gibt es doch nach Ansicht vieler Kritiker längst nicht mehr, nachdem die Software AG im vergangenen Jahr kurz nach der Bekanntgabe der Gründung einer indischen Tochtergesellschaft in Pune weit über 100 ihrer Entwickler in Darmstadt entlassen hat.

MOSSACK: Wir haben ein Rightsizing des gesamten Konzerns vornehmen müssen und konnten dabei die Entwicklungsmannschaft nicht außen vor lassen. Und wir haben geraume Zeit vorher ein Joint Venture in Indien gegründet, wo wir mit rund 50 Mitarbeitern erste Gehversuche in Richtung Offshore-Programmierung unternehmen. Die Maßnahmen haben nichts miteinander zu tun.

CW: Wie sehen denn die von Ihnen erwähnten ersten Gehversuche konkret aus?

MOSSACK: Wir konzentrieren uns vor allem auf die Java-Programmierung von zusätzlichen Tools beziehungsweise GUIs für unsere Middleware-Lösung Tamino. Natürlich sind wir momentan in der Testphase, und wenn alles nach unseren Vorstellungen läuft, ist das Projekt Pune auch auf größere Umfänge skalierbar. Aber die Vorstellung, dass wir eines Tages die gesamte Entwicklung in Indien haben werden, ist für mich aus heutiger Sicht realitätsfern.

VOGEL: Ich sehe das Thema differenzierter. Zum einen haben wir eher Erfahrung in der so genannten Nearshore-Auslagerung, zum anderen stammen höchstens 20 Prozent unserer Umsätze aus der Entwicklung von Software-Tools. Als SAP-Dienstleister sind wir vor allen Dingen im Beratungsgeschäft tätig. Aber auch dort lässt sich nüchtern feststellen: Die Tagessätze sind außerhalb Deutschlands um bis zu 50 Prozent niedriger.

Was heißt das nun für uns? Wir legen eine Mischkalkulation zugrunde und profitieren davon, dass wir rund die Hälfte unseres Geschäfts im Ausland machen. Itelligence ist aus historischen Gründen vor allem in Osteuropa stark vertreten. Dort, aber auch für alle anderen Kunden von uns, gilt: Sie wollen in der jeweiligen Landessprache betreut werden. Insofern haben wir durch unsere ausländischen Spezialisten, die wir inzwischen an Bord haben, einen Vorteil gegenüber Wettbewerbern, die keine vergleichbare Infrastruktur besitzen. Gleichzeitig können wir aber unsere polnischen, slowakischen oder ukrainischen Kollegen teilweise in Projekte für westeuropäische Kunden einbinden und somit Kostenvorteile erzielen. Denn welche Sprache im Backoffice gesprochen wird, interessiert den Kunden nicht, solange die Qualität der Leistung stimmt.

HÖNIG: Ich denke, dass die Aufgeregtheit hierzulande einerseits verständlich ist, andererseits aber jeglicher Grundlage entbehrt. Wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, wird man feststellen, dass maximal fünf bis zehn Prozent der in den letzten Jahren abgebauten IT-Arbeitsplätze dem Offshoring zum Opfer gefallen sind. Der Rest stammt aus Überkapazitäten, die in den letzten Jahren aufgrund von Sonderfaktoren wie Euro- und Jahr-2000-Umstellung sowie dem Internet-Hype aufgebaut wurden und nun einfach überflüssig sind.

VON DER ELTZ: Aufgeregtheiten sind sicher fehl am Platz. Allerdings haben wir mit dem Offshoring auch so unsere Erfahrungen gemacht. Etwa dergestalt, dass im Zuge eines ERP-Projektes bei unserer brasilianischen Tochter die dort engagierten Spezialisten Knall auf Fall bei ihrem Arbeitgeber gekündigt haben und wir dann für teures Geld dieselben Leute wieder selbst einstellen mussten, um das Vorhaben halbwegs fristgerecht zu Ende zu bringen. Das war vor rund drei Jahren quasi unser erstes Lehrgeld, das wir bezahlen mussten. Nicht sehr ermutigend waren auch die Resultate mit offshore programmierten E-Business-Applikationen für unsere Konzern-IT, die letzten Endes von minderer Qualität waren. Gleiches gilt für unsere Halbleitertochter Siltronic, wo wir rein offshore einiges an Individualsoftware erstellen ließen, um nachher festzustellen, dass die Integration und das Customizing der Lösungen noch eine Menge Aufwand erforderten.

Welche Konsequenzen haben wir daraus gezogen? Erstens: Wir werden uns im Rahmen unserer Sourcing-Strategie weiterhin mit Offshoring und Nearshoring beschäftigen müssen. Schon aus Kostengründen - und weil wir als IT-Shop die Aufgabe haben, unseren Kunden, also den jeweiligen Fachabteilungen und Konzerntöchtern, einen globalen und nach Möglichkeit standardisierten Support weltweit anbieten zu können. Zweitens: Auf unseren Erfahrungen aufbauend haben wir ein virtuelles Team gebildet, um entsprechende Standards für ein Vendor- und Skill-Management zu definieren und umzusetzen.

CW: Herr Steppan, Sie haben die nicht sehr dankbare Aufgabe, hier die Fahne der Entwickler hochzuhalten.

STEPPAN: Natürlich bin ich mit vielen meiner Kolleginnen und Kollegen in Sorge. Wir haben Angst davor, unsere Arbeitsplätze zu verlieren. Und wir befürchten, dass mit der Euphorie um die vermeintlich schlüsselfertige Vergabe ganzer IT-Projekte ins Ausland über kurz oder lang auch die entsprechenden Geschäftsprozesse dorthin verlagert werden. Anzeichen dafür gibt es ja. Man muss sich dann natürlich schon fragen, ob angesichts des momentanen publizistischen Trommelfeuers gegen die angeblich zu hohen Kosten die Softwareentwicklung in Deutschland überhaupt noch eine Zukunft hat. Schließlich besteht die Gefahr, dass mit den Projekten und den Jobs auch das Know-how abwandert, wir somit in eine Situation kommen, die wir aus anderen Bereichen, etwa der Unterhaltungselektronik, bereits kennen.

Darüber hinaus würde ich mir auch eine etwas sachlichere Diskussion wünschen. So ist zum Beispiel immer die Rede davon, dass wir in der Softwareentwicklung die Fertigungstiefe verringern müssen und uns dabei an der Automobilindustrie orientieren sollten. Die Wahrheit ist doch aber, dass wir heute zumindest im Bereich der objektorientierten Anwendungsentwicklung längst eine Fertigungstiefe von nur noch zehn Prozent haben. Rund 90 Prozent der Quellcodes stammen aus US-amerikanischen Open-Source-Bibliotheken.

SCHULTZ-KULT: In einem Punkt zumindest kann ich Herrn Steppan zustimmen. Das Kostenargument alleine ist nicht stichhaltig. Alle Untersuchungen von Gartner belegen, dass der Kommunikationsaufwand beziehungsweise die Informationsverluste bei der Kooperation mit einem Offshore-Partner immens sind. Insofern relativieren sich die Kostenvorteile deutlich. Das gilt in jedem Fall für Indien und mit gewissen Einschränkungen auch noch für Osteuropa. Es gibt aber einen anderen Grund, weswegen wir an dem Thema nicht vorbeikommen. Bleiben wir bei Osteuropa und damit beim Nearshore-Offshoring: Natürlich ist es für einen deutschen Auftraggeber sehr attraktiv, dass ein SAP-Berater in Bratislava momentan vielleicht noch für einen Monatslohn von 500 Euro arbeitet. Das wird sich aber in den kommenden Jahren halbwegs angleichen. Was sich jedoch nicht so schnell ändern dürfte, ist die Flexibilität der dortigen Arbeitsmärkte und die Motivation der Leute.

VOGEL: Ein IT-Projekt wird heutzutage in Polen oder Tschechien genauso gut abgewickelt wie hierzulande. Und die dortigen IT-Professionals sprechen zum Teil ein besseres Englisch als unsere eigenen Leute. Je mehr wir in der IT auf Standardisierung setzen, um so effektiver wird sich die Auslagerung von IT-Projekten gestalten lassen.

STEPPAN: Ich finde diese Argumentation schon sehr einseitig. Es spricht doch beileibe nichts dagegen, dass man gewisse Routinearbeiten in der GUI-Programmierung, meinetwegen auch einzelne Enterprise Javabeans, zukauft. Das kann, wie es die IBM jahrelang praktiziert hat, von Kanada oder aus der Schweiz kommen, das kann aber auch aus Bratislava oder Bangalore bezogen werden. Gute Entwickler gibt es überall, und wir sollten diese Debatte endlich entmystifizieren. Wir arbeiten doch längst komponenten- und objektorientiert, können also so modular wie in der Automobilindustrie agieren. Man sollte aber auch zwischen dem rein technischen Teil und der fachlichen Ebene unterscheiden. Spätestens hier kommt wieder die interne IT zum Zug. Ich sage Ihnen: Die Prozesse laufen nun einmal nicht so sauber, wie wir es alle gerne hätten. Und was machen Sie dann?

SCHULTZ-KULT: Das Bild, das Sie hier von Ihrem Berufsstand zeichnen, ist schon ein sehr geschöntes. Es stimmt jedenfalls nicht mit meinen Erfahrungen überein. Wenn wir mit Kunden über ein Outsourcing-Projekt reden, müssen wir oft feststellen, dass die Lösungen nicht mehr auslagerungsfähig sind. Viele SAP-Systeme zum Beispiel sind so individualisiert, dass man keinen Release-Wechsel mehr vornehmen kann, weil die Entwickler nichts dokumentiert und mit einer Art Rucksack-Programmierung ihren eigenen Arbeitsplatz gesichert haben.

CW: Das klingt sehr nach handfesten Management-Problemen. Gibt es aber unabhängig davon neue Perspektiven und Betätigungsfelder für die hiesigen IT-Professionals?

VON DER ELTZ: Als Bestandteil unseres Change-Management-Prozesses ist es unsere ständige Aufgabe, den Commodity-Anteil zu reduzieren und unsere Mitarbeiter auf wertschöpfende Anwendungen anzusetzen. Natürlich tun wir uns da vielleicht bei Wacker-Chemie etwas leichter als andere, weil wir schon vor Jahren alle Mainframes abgeschaltet haben und heute ausschließlich auf Standardplattformen setzen. Ich kann daher einem nicht unerheblichen Teil meiner Mitarbeiter in der Tat neue Perspektiven und Herausforderungen bieten, bei denen es nicht nur um das reine Programmieren geht. Etwa, wenn wir uns in München den Kopf über eine neue CRM-Strategie zerbrechen oder wir hier ein SAP-System für unsere chinesische Niederlassung vorkonfigurieren.

HÖNIG: Vielleicht muss man noch einmal auf etwas Grundsätzliches hinweisen: Jedes Unternehmen sollte einen Prozess in Gang setzen, an dessen Ende auch die Frage beantwortet wird, ob Outsourcing eine Alternative ist. Dann muss man überlegen, was ich auslagere und an wen. Insofern wird man sich dann weniger mit Standorten als vielmehr mit Anbietern beschäftigen.

STEPPAN: Ich will das Augenmerk noch auf einen anderen Punkt richten. Wir reden fast ausschließlich über die Softwareentwicklung in großen Firmen, sei es in Anwender- oder in Anbieterunternehmen. Dabei vergisst man aber, dass ein Großteil aller Programme und Tools hierzulande in kleinen und mittelständischen Firmen entsteht. Fachleute sprechen von rund 200000 Arbeitsplätzen. Ganz zu schweigen von den hervorragenden Arbeiten an den Universitäten und Forschungseinrichtungen. Man muss sich auch einmal überlegen, was man hier mit dieser unsäglichen Offshore-Debatte anrichtet.

CW: Wie gehen Sie denn mit dem Vorwurf mangelnder Flexibilität und zu hoher Kosten um?

STEPPAN: Natürlich haben wir im Vergleich zum Ausland starre Arbeitszeitregelungen, und natürlich ist unser Lohniveau sehr hoch. Aber es gibt inzwischen genügend Beispiele, wo sich Geschäftsleitung und Belegschaft auf einen Modus vivendi verständigt haben, um die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Unternehmens oder einzelner Sparten zu sichern. Ohne Zweifel trifft in manchen Fällen auch zu, dass einzelne Anwendungen mangels sauberer Schnittstellen kaum mehr Outsourcing-fähig sind. Aber auch hier ist es nicht korrekt, alles auf die Rucksack-Mentalität der Entwickler zu schieben. Das Business-Management und die IT-Verantwortlichen bestimmen, wohin die Reise geht. Wenn Sie es nicht schaffen, ihren eigenen IT-Leuten klare Instruktionen zu geben, werden sie auch bei der Zusammenarbeit mit einem externen Dienstleister Schiffbruch erleiden.

Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu den Kosten: Von welchen Ausgaben ist bei den Lohnkosten im Zusammenhang mit Offshoring eigentlich die Rede? Schließlich sind die Aufwände für einen normalen Programmierer, für einen Softwarearchitekten oder für einen Projekt-Manager sehr unterschiedlich - egal, ob sie diese Leistungen nun intern oder von extern erbringen lassen. Hier wird für meinen Geschmack häufig sehr unsauber argumentiert. Letzten Endes ist es doch vielfach so, dass in die Kosten für die interne IT teure Beratungshonorare einfließen - und dann heißt es, wir können in Deutschland nicht mehr zu marktgerechten Preisen programmieren. In Wahrheit betreibt man Body-Leasing zu einem weit überhöhten Preis, weil man der eigenen Mannschaft gewisse Dinge nicht zutraut.

VON DER ELTZ: An dem Vorwurf ist etwas dran. Man kann diesem Problem nur begegnen, indem man ein adäquates Change-Management betreibt. Man muss den eigenen Leuten eine Strategie, ja eine Vision vorgeben und ihnen zeigen, wie sie dazu beitragen können.

CW: Wie dem auch sei: Wenn Entwickler es sich jahrelang leisten konnten, die falschen Prioritäten bei ihrer Arbeit zu setzen, spricht doch einiges für ein handfestes Management-Problem.

SCHULTZ-KULT: Das lässt sich nicht leugnen. Die Beraterszene hat jahrzehntelang gut an der Haltung deutscher Unternehmen verdient, alles selbst entwickeln zu wollen. Die berühmte Frage "Make or buy?" hat niemanden wirklich interessiert. Man hat seine eigenen aufwändigen Lösungen gestrickt oder Standardprodukte einem immensen Customizing-Prozess unterzogen. In vielen Fällen hat man sich dabei in der Tat mit Body-Leasing beholfen und den Job externe Spezialisten machen lassen. Insofern hat man jetzt ein Qualifizierungsproblem, weil die eigenen Leute nicht die Chance hatten, sich mit neuen Projekten auseinander zu setzen.

VOGEL: Die Entwickler und IT-Professionals hierzulande sollten sich meiner Ansicht nach auf das konzentrieren, wo nach wie vor ihre größte Stärke ist: das Engineering. Allerdings müssen sie einfach zur Kenntnis nehmen, dass sie heute mit ihren Kollegen in Indien, Litauen und der Ukraine konkurrieren beziehungsweise immer häufiger auch in Projekten gemeinsam arbeiten.

Die Teilnehmer

- Arno von der Eltz, Prokurist sowie Leiter Informatik und Prozessgestaltung, Wacker-Chemie GmbH;

- Dirk Hönig, Principal Consulting Services, Infosys Technologies;

- Peter Mossack, Vorstand Forschung und Entwicklung, Software AG;

- Franz Schultz-Kult, Director ITMC Consulting, Gartner Deutschland GmbH;

- Bernhard Steppan, Softwareentwickler und -designer, Thomas Cook AG;

- Herbert Vogel, CEO, Itelligence AG;

- Joachim Hackmann, Gerhard Holzwart, Christoph Witte, Redaktion COMPUTERWOCHE.