Kolumne

Erst aufbauen und dann draufhauen

21.04.2000
Wolfgang Terhörst, Redakteur CW

Jahrelang haben sämtliche Marktforschungsunternehmen die Umsatzprognosen für Online-Einzelhändler in den Himmel geschrieben. Milliardensummen und ungewöhnlich hohe Steigerungsraten ließen traditionelle Anbieter schwindlig werden. Sie galten als verschlafen und bankrottreif geschossen durch dynamische Internet-Startups. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Jetzt ist es in der Analystenbranche en vogue, den reinen Online-Händlern den baldigen Tod und ihren realen Widerparts die wundersame Auferstehung weiszusagen. Dabei hatte es von Anfang an kritische Stimmen gegeben, die vor überzogenen Erwartungen warnten.

Daher ist es zu begrüßen, dass der Hype der letzten Monate einer nüchternen Betrachtung weicht. Es wurde Zeit! Zu überzeugend waren die Wachstumsanalysen; zu rosig die Zukunftsaussichten, gemalt von denselben Marktforschern, die jetzt schwarz sehen. Das auf Internet-Themen fokussierte Unternehmen Forrester Research etwa prophezeit den Untergang der überwiegenden Mehrheit reiner Online-Retailer binnen eines Jahres. In drei Wellen würden sie dahingerafft, sei es durch Fusionen oder Pleiten. Schützenhilfe bekommt Forrester vom Chef der Gartner Group. Michael Fleisher sieht gar 95 bis 98 Prozent aller so genannten Dotcom-Firmen innerhalb von zwei Jahren von der Bildfläche verschwinden. Offenbar bereiten sich in den USA die Anwälte schon auf eine Flut von Konkursverfahren vor.

Dass Marktforscher ihr Fähnlein gerne nach dem Winde drehen, ist bekannt. Ein derartiges "Kehrt marsch!", wie es im Moment zu beobachten ist, dient aber niemandem. Glaubwürdig und verantwortungsbewusst ist solches Verhalten schon gar nicht. Auch das schon vor drei Jahren prognostizierte Massensterben vor allem kleinerer Internet-Service-Provider ist ausgeblieben. Der Untergang der Online-Dienste, allen voran AOL und T-Online, hat entgegen den Prognosen ebenfalls nicht stattgefunden.

Im Online-Handel gelten letztlich dieselben Gesetze wie im traditionellen Einzelhandel: Wer auf seine Kunden hört, regionale oder konzeptionelle Stärken pflegt und den Blick für die Realität nicht verliert, hat immer und überall seine Chancen. Das zu zeigen wäre die vornehmste Aufgabe auch der Martforscher.