Gartner-Analyse zur Zukunft von Standardsoftware

ERP-Systeme sind dem E-Commerce noch nicht gewachsen

10.12.1999
Nach den Erkenntnissen der Paläontologen sind Vögel die Nachfahren der Dinosaurier. Eine ähnliche Wandlung könnten nach Einschätzung der Gartner Group die mittlerweile in die Jahre gekommenen ERP-Systeme vollziehen. Angesichts der rasanten Entwicklung des E-Commerce-Marktes ist die Notwendigkeit zur Flexibilisierung offensichtlich. Über die Prognosen der Analysten berichtet Michael Wagner*.

Gartner-Analyst Nigel Wood prophezeite unlängst grundlegende Veränderungen im Markt der ERP-Anbieter in den kommenden fünf Jahren. Insbesondere die wachsende Bedeutung des E-Commerce zwingt die Hersteller zu reagieren. Das Problem dabei: Auch E-Commerce wird sich in diesem Zeitraum weiterentwickeln, und zwar in Richtung "Collaborative Commerce" (C-Commerce), also hin zur Zusammenarbeit von Unternehmen in Form einer elektronischen Geschäftsabwicklung. Die wirtschaftliche Notwendigkeit, sich am C-Commerce zu beteiligen, wird den Unternehmen aber erst durch die entsprechende informationstechnische Unterstützung möglich, und diese fehlt den heute geschäftstragenden ERP-Systemen.

Austausch von Geschäftsdaten weiterhin ungelöst

Einige Spezialisten haben sich das zunutze gemacht und die neuen Disziplinen Customer-Relationship- oder Supply-Chain-Management besetzt. Die klassischen ERP-Hersteller sind derzeit bemüht, den verlorenen Boden gutzumachen, aber ihnen fehlt die dazu notwendige Flexibilität. Zu den schwierigen Themen der ERP-Systeme zählen nach einer Gartner-Umfrage die Bereiche Trading-Partner-Synchronization, Competitive Advantage und Revenue Enhancement. Der Austausch von Geschäftsdaten zwischen Unternehmen ist nach wie vor ungelöst, ein echter Wettbewerbsvorteil ist durch den Einsatz von ERP-Systemen heute kaum noch zu erzielen. Zudem erschwert die vorherrschende Kostenorientierung eine Nutzung der Produkte zur Steigerung des Umsatzes.

Vor diesem Hintergrund prophezeien die Analysten, daß sich der Markt für ERP-Systeme im wesentlichen in zwei Segmente aufspalten wird. Zum einen werden Anbieter von Komponenten entstehen, die sich auf einzelne Segmente beziehungsweise Funktionsbereiche beschränken. Auf der anderen Seite wandeln sich die Hersteller zu Anbietern von Basistechnologien, die in der Lage sind, verschiedene Business-Komponenten zu einem sinnvollen Gesamtsystem zusammenzusetzen.

Die Zweiteilung ist schon heute zu beobachten: ERP-Größen erheben den Anspruch, technische Standards als Frameworks für die Abwicklung von Geschäftsprozessen zu liefern. Im Gegensatz dazu rühmen sich kleinere und spezialisierte Firmen mit ihrer funktionalen Führerschaft in vertikalen beziehungsweise abgegrenzten Segmenten. Analyst Nigel Wood weist jedoch ausdrücklich darauf hin, daß der Begriff Komponenten von ERP-Herstellern mißbräuchlich genutzt wird.

Die halbherzige Modularisierung monolithischer ERP-Systeme und nur oberflächlich integrierte Add-on-Produkte werden unter dem Label "Komponenten" angeboten. Um der Bezeichnung gerecht zu werden, müßten die meisten ERP-Produkte auf der Basis von objektorientierten Prinzipien komplett neu entwickelt werden.

Dann lassen sich künftig klassische ERP-Plattformen in C-Commerce-Frameworks einbetten und auf der funktionalen Seite mit wechselnd spezialisierten Komponenten ausstatten.

Während die heutigen E-Commerce-Anbindungen der etablierten ERP-Systeme wenig mehr als einen lesenden Zugriff auf die Datenbestände und eine Web-Browser-Darstellung bestehender Terminalmasken bieten, werden in naher Zukunft E-Commerce-Portale eine wesentlich differenziertere Abbildung von Geschäftsprozessen ermöglichen. Die weitere Entwicklung wird die Verkettung von ERP-Systemen über die Grenzen von Unternehmen hinaus in den Mittelpunkt stellen. Die Abgrenzung vom Wettbewerb reduziert sich dann auf den geschickten Einsatz von funktionalen Komponenten.

Um diese Entwicklung zu verdeutlichen, verwendet Gartner die Metapher eines Sonnensystems, in dem kleine Monde (spezialisierte Anbieter) um große Planeten (ERP-Hersteller) kreisen. Die Analysten erwarten eine Verschmelzung diverser Himmelskörper zu größeren Einheiten. Große ERP-Hersteller werden kleinere Spezialisten schlucken und damit ihre Einflußsphäre auf neue technologische Bereiche ausdehnen. Ebenso wird es Übernahmen unter den Spezialisten geben, die mit dem so erweiterten Funktionsspektrum ihre vertikale Orientierung ausdehnen, um schließlich selbst als Generalisten auftreten zu können.

*Michael Wagner ist als Berater und Publizist in München tätig.