Die 10 wichtigsten Fragen

ERP-Business-Alignment - Risiko "Missing Link"

27.04.2010
Von Andreas Suter und Frank Höning

Die Prozesslandkarten schaffen "Spaghetti"-Prozesse

Versucht man den Verlauf eines Auftrages entlang der verschiedenen Prozesse nachzuvollziehen, wird deutlich, dass ein unübersichtliches Geflecht von Prozessen entsteht. Wir nennen dieses Phänomen "Spaghetti-Prozesse". Klar: Niemand hat mehr den Überblick. Eine durchgängige Verantwortung für die Auftragsabwicklung gibt es nicht, und selbst die Auftragssteuerung hat keinen Durchgriff. Zu den vorgesehenen Abwicklungsvarianten kommt noch manche Variante dazu, welche behelfsmäßig erfunden wurde - teils lösen sie konkrete Ablaufprobleme, teils schaffen sie neue. Letztlich gelingt es nur dank den informellen Beziehungen unter den Mitarbeitern und deren außerordentlichem Einsatz, dass Aufträge doch noch termingerecht dem Kunden abgeliefert werden können.

Bei einem Komponentenlieferanten wurden 29 Hauptprozesse mit Übergabestelle an den jeweiligen Bereichsgrenzen festgelegt. Je nach Auftrag ergaben sich daraus mehr als 35 - wohlgemerkt: vorgesehene - Abwicklungsvarianten. Nicht inbegriffen waren die unzähligen Abkürzungen und Sonderfälle. Zudem hatten die Regionen «Asien» und «Nordamerika» ihre Geschäftsprozesse nach lokalen Gesichtspunkten festgelegt, was die interkontinentale Zusammenarbeit zusätzlich erschwerte. Denn allein schon in Europa waren die einzelnen Hauptprozesse stark voneinander abhängig und durch zahlreiche Verknüpfungen verbunden (siehe Abbildung 3 in der Galerie).

Informationsfluss mit jeder neuen Schnittstelle unterbrochen

Charakteristisch für "Spaghetti-Prozesse" sind deren zahlreichen Schnittstellen. Mit jeder neuen Schnittstelle wird der Informationsfluss unterbrochen, was zunächst zu Informationsverlusten, dann zu ineffizienten Rückfragen, Abklärungen, Missverständnissen und letztlich zu Fehlern führt. Schlechte Qualität und Zufälligkeit im Prozessergebnis sind die Folge. Bei einem Mittelständler mussten obsolete Lagerbestände in Millionenhöhe abgeschrieben werden, weil falsch spezifizierte Kundenlösungen unverkäuflich waren. Die vielen und ungenügend oder gar falsch definierten Prozessschnittstellen verursachen viel Komplexität. Dabei sind die Schnittstellen unklar, wenn Rückfragen notwendig sind; sie sind unverbindlich, wenn später Auftragsänderungen erfolgen; sie sind überbestimmt, wenn die Anweisungen widersprüchlich sind, sie sind unterbestimmt, wenn sie Interpretationsspielräume betreffend den Prozessauftrag offen lassen; sie sind falsch gelegt, wenn die Arbeitsvorbereitung und die Ausführung getrennt ist oder wenn intensive Koordination über die Schnittstelle hinweg notwendig ist. Letztlich können auch ERP-Systeme solche Unzulänglichkeiten nicht beheben.

Trotzdem besteht mancherorts die Meinung, dass gerade ein "integriertes" ERP-System die einzelnen Prozesse verknüpfe, d.h. die Schnittstellen integriert. Das stimmt teilweise, doch wie integriert wird, bleibt zumindest für den Nicht-IT-Fachmann schleierhaft; damit wird das Prozessgeflecht nicht transparenter - weder für denjenigen, der das ERP-System implementiert, betreibt oder wartet, noch für den Anwender. Die systemseitige Prozessintegration führt dann zur grotesken Situation, dass das System als interner Auftraggeber wahrgenommen wird, d.h. die Anwender nicht mehr wissen, wer vor (und nach) ihnen in der Prozesskette der realen Unternehmenswelt involviert ist.

Niemand fühlt sich zuständig

Anderorts besteht auch die Meinung, dass dieses Geflecht von Prozessen wie ein Sicherheitsnetz wirke, das unvorhergesehene Ereignisse auffange. Durch das Geflecht seien viele statt wenige Stellen involviert, und mehr sei im Krisenfall immer besser als weniger. Auch das ist ein Trugschluss. Das erste Problem ist, dass bei unvorgesehenen Geschäftsfällen die zutreffenden Wege im Prozessgeflecht nicht bekannt sind und die involvierten Stellen überrascht werden: Das Risiko ist groß, dass sich keine Stelle entlang des Ablaufes zuständig fühlt. Das zweite Problem liegt darin, dass in einem Prozessgeflecht die möglichen Auswirkungen von Fehlern nicht vorbeugend erkannt werden können. Das Risiko ist groß, dass geringfügige Fehler nicht nur einen Dominoeffekt, sondern eine Lawine auslösen. Und das dritte Problem ist, dass auftauchende Schwierigkeiten nicht rechtzeitig erkannt werden, weil die Prozesstransparenz fehlt.

Das Phänomen der "Spaghetti-Prozesse" ist gerade dort häufig zu finden, wo Standardprozessmodelle wie etwa das in der Industrie bekannte SCOR-Modell (Supply Chain Operation Reference Model) verwendet werden. Die Standardprozessmodelle orientieren sich an funktionalen Organisationseinheiten oder einzelnen Schritten entlang der Wertkette, z. B. Beschaffung, Produktion, Vertrieb. Dabei wird die Durchgängigkeit des Prozesses unterbrochen; das schafft unzählige Abhängigkeiten. Genauso untauglich sind die ERP-Standardmodelle, weil sich deren Prozesssicht auf Transaktionen von strukturierten Daten, z. B. Bestelldaten, fokussiert, jedoch die viel bedeutsamere Verarbeitung von unstrukturierten Informationen wie beispielsweise das Organisations- und Prozess-Know-how unterschätzt. Ohne dieses Know-how würde aber jedes Unternehmen still stehen.