Vor lauter Bäumen doch noch den Wald sehen:

Erfahrungspotential soll Lösungsweg optimieren

05.04.1985

Auch im technischen Bereich zeichnet sich durch das Vordringen neuer Computertechnologien ein Umbruch ab. So sollen jetzt Expertensysteme dabei helfen, auch bei schwierigen Problemstellungen den Durchblick zu bewahren oder aufwendige Lösungswege abkürzen. Ein neues Berufsbild gewinnt an Boden: der Wissensingenieur, der Expertensysteme entwickelt und so als Mittler zwischen "Experten" und DV-Profis fungiert.

Das rechnergestützte Konstruieren und Berechnen ist seit nunmehr 25 Jahren bekannt und hat im Laufe der Zeit eine Reihe von Entwicklungsstufen durchlaufen. Heute lassen sich technische Probleme großer Komplexität durch den Einsatz immer leistungsfähigerer Rechner gut und schnell lösen. Beispielsweise werden umfangreiche Festigkeitsberechnungen mit Hilfe der Finite-Elemente-Methode (FEM) oder die Berechnung des dynamischen Verhaltens von Maschinen durch Simulationsprogramme bewältigt.

Bei den genannten Beispielen konnte sich der Übergang von der älteren, klassischen Vorgehensweise zu moderneren Verfahren nur durch konsequente Ausnutzung mehrjähriger Erfahrungen vollziehen. Dabei wurden sowohl rechnerische als auch meßtechnische Ergebnisse gleichermaßen berücksichtigt und die Lösungswege systematisch durch Algorithmen verfeinert.

Derzeit muß bei der Findung geeigneter Lösungen in Anlehnung an technische Lehrbücher immer noch die Algorithmierbarkeit der Problemformulierung vorausgesetzt werden. Da erst aufgrund des Erfahrungspotentials von Experten der Lösungsprozeß optimiert werden kann, gewinnt bei der Beherrschung heutiger Probleme die Verwaltung einer breiteren Wissensbasis gekoppelt mit schnellen Zugriffsmöglichkeiten auf nicht algorithmierbares Wissen zunehmend an Bedeutung.

Expertensysteme als Problemlöser

Unter der Bezeichnung "Expertensystem" wird eine Softwaretechnologie hervorgehoben, mit der eine "intelligente" Wissensverarbeitung möglich ist. "Wissen" läßt sich in folgende Begriffe unterteilen:

- Grundinformation,

- Modelle,

- allgemeingültige Regeln und

- Erfahrungen

Während bei herkömmlichen Programmen das Wissen "prozedurale" Eigenschaften hat (das heißt, daß eine klar definierte Reihenfolge von Schritten in Form von Algorithmen vorliegt), spricht man im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) von "Systemen auf Wissensbasis" (knowledge-based systems), die durch "deklaratives Wissen" zu charakterisieren sind.

Dies bedeutet, daß Fakten und Regeln bekannt sind, die Beziehungen zwischen Fakten und Aktionen ausdrücken. Da das Know-how nicht nur durch "faktisches Wissen" bestimmt wird, sollen gerade durch Expertensysteme die nicht festgeschriebenen, empirischen Regeln, also das auf Erfahrungswerten beruhende "heuristische Wissen" berücksichtigt werden;

Expertensysteme lassen sich in verschiedene Anwendungsgruppen aufteilen:

- Interpretationssysteme (interpretation systems), zum Beispiel in der Meßdatenverarbeitung

- Vorhersagesysteme (prediction systems), zum Beispiel in der vorausschauenden Maschineninstandhaltung

- Diagnosesysteme (diagnosis systems), zum Beispiel im medizinischen Bereich oder auch bei der Maschinenschadenanalyse

- Überwachungssysteme (monitoring systems), zum Beispiel bei der Überwachung von Anlagen

- Gestaltungssysteme (design systems), zum Beispiel in der Maschinenkonstruktion

- Planungssysteme (planning systems), zum Beispiel bei der Fertigungsplanung oder Fabrikplanung

- Instandsetzungssysteme (repair systems), zum Beispiel bei der Planung der Ausführung von Reparaturen und Instandsetzungen aufgrund vorliegender Diagnosen

- Ausbildungssysteme (tutoring systems), zum Beispiel für die Ausbildung und Lehre im technischen Bereich

- Kontroll- und Steuerungssysteme als übergeordnete Systeme (control systems), zum Beispiel Integration von Teil-Expertensystemen.

Expertensysteme, die Fachwissen eines bestimmten Anwendungsgebietes und sogenannte

"Deduktionsmechanismen" zur Lösung komplexer Aufgabenstellungen benutzen, arbeiten ausschließlich im Dialog und verarbeiten das in den "intelligenten Datenbanken" kodierte Wissen. Darüber hinaus hat gerade die Lernfähigkeit derartiger Systeme, das heißt, der Erwerb und die Erweiterung von Wissen, eine zentrale Bedeutung. Ein Expertensystem kann somit ständig aktualisiert werden und aufgrund der erworbenen Erfahrungen auch Basis für die Findung geeigneter Algorithmen bilden.

Wissensingenieure künftig gefragt

Für die Erstellung von Expertensystemen kommen Programmiersprachen in Betracht, die gerade für die "nichtalgorithmische", logische Programmierung geeignet sind. Hierzu zählt die in Europa entwickelte Sprache Prolog (PROgrammierung in LOGik). Sie basiert auf der Prädikatenlogik erster Ordnung.

Die Erfahrung zeigte, daß die Beschränkung auf die Prädikatenlogik zu einseitig war, so daß eine Erweiterung auf algorithmische Elemente vorgenommen wurde (unter anderem sequentielles Durchsuchen beziehungsweise Abarbeiten der Fakten und Regeln). Ebenso läßt sich mit Prolog durch sogenanntes "Backtrakking" ein Rückgang zu einem vorherigen Entscheidungsknoten realisieren, wenn ein Lösungsweg beschritten werden soll.

Bei der Konstruktion von Maschinen wird der Einsatz von Expertensystemen die dialogorientierte Arbeit des Ingenieurs mit modernen Rechnersystemen stark beeinflussen. Zur Erstellung von Expertensystemen wird der sogenannte "Wissensingenieur" eingesetzt, der den Experten fachlich verstehen kann und der ein klares Verständnis für die Probleme der maschinellen Wissensdarstellung hat. Es besteht kein Zweifel, daß sich das Berufsbild des Ingenieurs von morgen im Hinblick auf das "Knowledge Engineering" verschiebt.

Darüber hinaus werden die kommenden Computergenerationen die Fähigkeit haben, über Mustererkennung und -verarbeitung unter Verwendung von Sensoren gerade die selbstorganisierende Datenspeichertechnologie mit Spracheingabe, Ausgabeelementen, Hochgeschwindigkeitsbausteinen und Prozessoren für die parallele Datenverarbeitung einzubeziehen. Die hohe Speicher- und "Lernfähigkeit" der Programme, die für Expertensysteme zwingende Voraussetzung sind, werden durch die fünfte Computergeneration in den neunziger Jahren hardwaremäßig unterstützt.

Expertensysteme, so zeigt der jetztige Trend, sind insbesondere im Bereich des konstruktiven Maschinenbaus als intelligente Problemlöser in der Zukunft nicht mehr wegzudenken.

*Professor Dr. Christoph Troeder ist Oberingenieur am Institut für Maschinenelemente und Maschinengestaltung der RWTH Aachen (Institutsdirektor: Prof. Dr.-lng. Heinz Peeken).