IT in der Prozeßindustrie/Planungs- und Optimierungsaufwand um 70 Prozent reduziert

Enzymproduktion: Planungs-Tool steigert Effizienz um zehn Prozent

22.08.1997

Boehringer stellt im oberbayrischen Penzberg mehr als 2000 verschiedene Reagenzien - davon rund 500 Enzyme - her, die neben der Verwendung für eigene Produkte weltweit an Diagnostica- und Pharma-Hersteller sowie Forschungslabors geliefert werden. Außer zur Erzeugung von Lebensmitteln wie Brot, Wein, Bier oder Sauerteig werden sie im Gesundheitswesen als Arzneimittelbestandteile, zur Synthese pharmazeutischer Wirkstoffe, als Diagnosewerkzeuge sowie als Forschungsreagenzien genutzt.

Die Mitarbeiter des Bereichs Enzymproduktion stellen in der Regel 20 verschiedene Enzyme gleichzeitig her. Die Prozesse dauern ein bis zwei Wochen und erfordern teilweise bis zu 40 Arbeitsschritte. Die Ausgangsstoffe, aus denen die Enzyme gewonnen werden, sind pflanzliche und tierische Rohstoffe wie Meerrettichwurzeln, Schwertbohnen oder Leber- und Muskelfleisch, aber auch Mikroorganismen wie Bakterien, Hefen und Pilze.

Aufgrund der Vielfalt der Produkte müssen bei Boehringer Mannheim wie bei vielen chemisch-pharmazeutischen Unternehmen die Produktionsanlagen oft und schnell umgerüstet werden sowie variabel in Größe und Verwendungszweck sein. Deshalb wird in dieser Branche meist im sogenannten Mehrzweckbetrieb produziert, das heißt auf den vorhandenen Anlagen werden unterschiedliche Erzeugnisse hergestellt. Dies ermöglicht eine flexible Reaktion auf die Produkt- sowie Just-in-time-Anforderungen des Marktes, die immer kürzer werdenden Planungs- und Produktionszeiträume sowie die schnelle Verderblichkeit des pflanzlichen und tierischen Rohmaterials. Da die Produkte sich jedoch hinsichtlich Ressourcen und Prozeßwegen stark unterscheiden, ist die Anlagenbelegung und -umrüstung mit einem extrem hohen Planungsaufwand verbunden. Leerläufe und Engpässe sollen vermieden sowie die Anlagen- und Mitarbeiterkapazitäten optimal genutzt werden.

Vor Projektbeginn konnten bei Boehringer Mannheim die Planungen nicht simuliert werden, so daß ihre Auswirkungen sich nur bedingt abschätzen ließen.

Die bis dato vorhandenen Planungsinstrumente unterstützten lediglich die Ressourcenverwaltung. Ebenso konnte der Personalbedarf nur grob abgeschätzt und nicht nach Qualifikationsgraden eingeteilt werden; für Ressourcenkonflikte wie Überlastungen wurden keinerlei Hilfestellungen geboten.

Diese Situation führte dazu, daß ein Projekt zur effektiven Ressourcennutzung ins Leben gerufen wurde. Ziel war es, zunächst für die Abteilung Enzymproduktion eine Art virtuelles System zu konzipieren, mit dem für Produktionsaufträge mehrere Modellplanungen unter unterschiedlichen Voraussetzungen simuliert werden können. Bei Erfolg sollte das System auf weitere Bereiche des Werkes übertragen werden.

Gemeinsam mit dem externen Beratungsunternehmen und Software-Anbieter DMC KGC GmbH, München, wurde ein betriebsspezifisches Planungsinstrument konzipiert, das aus Kostengründen ein Maximum an Standardsoftware enthalten sollte. Für die Datenbank und die Dialoge fiel die Wahl auf Oracle. Die Verwaltung der Vorgänge, Qualitätsdaten, des Lagers etc. werden teilweise mit SAP/PP realisiert.

Für die Planungsfunktion, das heißt die Berechnung der verschiedenen Modelle, wurde als Basis das "Decision Optimization Tool Orion-PI" (Optimization of Resource Utilization in Process Industry) herangezogen. Es erzeugt detaillierte Pläne.

Die Ressourcenplanungssoftware sollte nicht nur den Geräte- und Mitarbeiterbedarf berechnen, sondern noch einiges andere schaffen können:

-Vermeidung von Liegezeiten der Produkte zwischen den einzelnen Bearbeitungsschritten,

-Unterbrechung der Produktion eines Ansatzes nur an bestimmten, definierten Arbeitsschritten,

-Einsatz vorhandener Alternativgeräte nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Produkt,

-Verwaltung der detaillierten Stammdaten der Produkte sowie der Anlagen- und Personalressourcen sowie

-diverse Darstellungsmöglichkeiten und Ausdrucke der Ergebnisse als Apparatenbelegungsplan, Plantafel und Belastungsdiagramm.

Vor Beginn der Berechnung der verschiedenen Herstellungswege für ein bestimmtes Produkt werden von den Planungsverantwortlichen jeweils spezifische Vorgaben wie Prozeßstart, Prozeßweg oder Kapazitätenrestriktionen eingegeben. Zwischen den einzelnen Iterationen werden die in dem jeweiligen Modell auftretenden Probleme, zum Beispiel Ressourcenknappheit, gespeichert und bei den darauffolgenden Iterationen berücksichtigt und verbessert oder Alternativen aufgezeigt. Somit können Prozeßwege, in denen potentielle Konflikte im Zugriff auf Ressourcen vorkommen, vermieden werden. Dieser Ablauf gestattet ein Maximum an Freiheit in der Festlegung der Prozeßwege und Produktionsabläufe.

Die beste Lösung wird gesondert gespeichert und dem Anwender nach Ablauf aller Iterationen vorgeschlagen. Es kann jedoch auch vorkommen, daß aufgrund von Störungen oder falschen beziehungsweise widersprüchlichen Vorgaben kein praktikanbler Plan berechnet werden kann. Aus diesem Grund wurde in die Software eine Protokollfunktion integriert, die Informationen über Probleme und Restriktionen, gegen die verstoßen wurde, generiert und an den Anwender ausgibt. In der Praxis haben sich diese Auswertungen als außerordentlich hilfreich erwiesen.

Stammdatenqualität ist entscheidend

Einer der entscheidenden Faktoren für eine erfolgreiche softwaregestützte Produktionsplanung ist die hohe Qualität und Aktualität der Stammdaten. Da sich der Arbeitsbedarf für einzelne Tätigkeiten aufgrund geänderter Betriebsabläufe oder besserer Qualifikation der Mitarbeiter laufend ändert, müssen die Vorgaben entsprechend modifiziert werden. Durch die Integration eines Archivs können die Daten aller Aufträge, die abgearbeitet wurden, gespeichert, auf Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Produktionsprozeß überprüft und auf Verbesserungsmöglichkeiten etc. ausgewertet werden.

Da sämtliche Daten des Betriebs in der Planungssoftware enthalten sind, bot es sich an, diese auch für eine vorausschauende Simulation von Investitionen oder Organisationsveränderungen einzusetzen. Aus diesem Grund wurde in die Software die Möglichkeit integriert, neben der echten auch mehrere Simulationsumgebungen anzusprechen, in denen die Stammdaten entsprechend verändert werden können. Somit können Planszenarien verschiedenster Art durchgespielt werden und Auswirkungen von Investitionen oder Kapazitätsveränderungen untersucht werden.

Grundlage für die Umsetzung der Berechnungen in die tatsächliche Produktion ist der in Grafikform ausgegebene Verfahrensablaufplan, aus dem die zeitlichen Herstellabläufe, notwendigen Ressourcen und Apparate, Rüst-, Prozeß- und Reinigungszeiten, Termine und stabilen Produktionszwischenstufen ersichtlich sind. Anhand dieses Planes arbeiten die Mitarbeiter die einzelnen Arbeitsschritte ab, die die Software vorgibt. Die stabilen Zwischenstufen enthalten Informationen über kritische, unbedingt in einer bestimmten Reihenfolge abzuarbeitende Produktionsschritte sowie über Möglichkeiten, die Produktion im Falle von unvorhergesehenen Schwierigkeiten zu unterbrechen.

Im Zuge der Einführung des Tools konnte das bestehende Arbeitszeitmodell verbessert werden. Zwischen Mitarbeitern und Betriebsleitung wurden Vereinbarungen über die einzuplanende Arbeitsbelastung für einen vollkontinuierlichen Schichtbetrieb von Montag früh bis Samstag früh getroffen, die von der Planungssoftware berücksichtigt werden.

Die Planungssoftware wurde in einem Teilbereich der Enzymproduktion im März 1994 in Probebetrieb genommen. Bis zur endgültigen Abnahme im Juli 1994 wurden anhand der Praxisergebnisse noch zahlreiche Verbesserungen eingefügt. Die Rechenzeiten sind erstaunlich kurz: je nach Komplexität und Volumen des zu planenden Produktionsprogrammes betragen sie zwischen 30 Sekunden und zwei bis drei Stunden.

Die Planungssoftware wird sowohl von der Betriebsleitung als auch von den Mitarbeitern gut aufgenommen. Auch die gesteckten qualitativen und quantitativen Ziele wurden erreicht: Gleichmäßigere Arbeitsauslastung der Mitarbeiter, um 70 Prozent verringerter Planungsaufwand, um zehn Prozent gesteigerte Effizienz bei gleicher Anlagen- und Mitarbeiterkapazität. Das Planungssystem wurde zwischenzeitlich in der gesamten Enzymproduktion in Betrieb genommen. Im Bereich Naturstoffproduktion wird es derzeit ebenfalls etabliert, und auch andere Bereiche überprüfen den Einsatz.

Die Gewinnung von Enzymen

Bei der Gewinnung von Enzymen werden zunächst die pflanzlichen oder tierischen Ausgangsstoffe (zum Beispiel Meerrettichwurzeln, Schwertbohnen oder Fleischstücke) zerkleinert, anschließend wird der enzymhaltige Saft ausgepreßt. Um die mikrobiellen Enzyme extrahieren zu können, werden die Zellen in einer kontinuierlich laufenden Mühle zum Platzen gebracht. In diesem "Rohextrakt" befinden sich mehrere tausend unterschiedliche Enzyme, aus denen im Trennungsprozeß in mehreren Fällungsreaktionen die gewünschten Bestandteile herausgelöst werden. Diese werden anschließend entweder mechanisch in Zentrifugen oder Filtrationseinheiten oder durch chemische Reaktionen von der restlichen Flüssigkeit getrennt und durch Zusätze beziehungsweise Gefriertrocknung haltbar gemacht.

Angeklickt

Gute Produktionsplanung ist in der chemisch-pharmazeutischen Industrie besonders wichtig - und schwierig: Die Herstellungsprozesse sind komplex und von Produkt zu Produkt sehr unterschiedlich. Die gleichen Anlagen werden für die Produktion verschiedener Stoffe verwendet, müssen also oft umgestellt werden. Das Penzberger Werk von Boehringer, Mannheim, hat mit Hilfe des Beratungsunternehmens DMC KGC GmbH, München, eine simulationsbasierte Planungs- und Optimierungssoftware eingeführt, mit der der Planungsaufwand um 70 Prozent reduziert und die Effizienz um zehn Prozent gesteigert werden konnte.

*Dr. Holger Wünsche ist Projektleiter und Planungsverantwortlicher für die Einführung der Ressourcenoptimierungssoftware in der Enzymproduktion bei Boehringer Mannheim. Emma Deil-Frank ist Fachautorin in München.