Full-Stack und No-Stack

Entwickler werden künftig zu Entscheidern

27.07.2015
Von 
Thomas Cloer war Redakteur der Computerwoche.
Früher unterstützte Software Geschäftsprozesse. Heute erfindet sie komplette Branchen neu - mit schwerwiegenden Folgen.

Diese These vertreten der Venture Capitalist Maxwell Wessel und Twilio-COO Roy Ng in einem Kontributoren-Beitrag für "TechCrunch". Die Geschichte der Software werde (noch) dominiert von Unternehmen, die das Geschäft großer Konzerne automatisierten, schreiben die beiden - IBM habe Bürotätigkeiten automatisiert, SAP die Firmenfinanzen vereinheitlicht und Siebel den beziehungsgetriebenen Vertrieblern die Rolodexe digitalisiert. All die Innovation, welche die Beziehungen zwischen IT-Anbietern und Fortune-500-Unternehmen dem Business gebracht habe, habe aber auch ihren Preis gehabt - ein einzigartiges Patchwork unvereinbarer Technologien, das nun globale Konzerne treibe. "Der typischen IT mangelt es an Flexibilität und Effizienz", schreiben Wessel und Ng, "und oftmals schafft sie es nicht, ihr Versprechen gegenüber Kunden zu erfüllen."

Blicke man unter die Haube der meisten globalen Konzerne, dann finde man etwas, das an einen Ford Model T gemahne, den ein erfahrener Mechaniker ständig repariert habe, um ihn ein Jahrhundert lang auf der Straße zu halten. Eine Ingenieurs-Großtat vielleicht, aber ein solches Auto werde so bald nicht fahrerlos unterwegs sein. Und aus Sicht der beiden Autoren noch viel schlimmer: Diese klobigen technischen Landschaften irritierten nicht bloß Mitarbeiter und Kunden, sondern gefährdeten auf lange Sicht das Überleben des Unternehmens.

Software erfinde wie gesagt ganze Branchen neu, heißt es weiter - Uber helfe uns dabei, uns durch unsere Stadt zu bewegen, Nest senke unsere Nebenkosten und Netflix bringe Qualitätsinhalte on-demand auf unsere Fernseher (pure Ami-Sicht natürlich, Anm. d. Red.). Für derartige neue Erfahrungen werde eine vollständig neue Infrastruktur von Grund auf neu konstruiert. Chris Anderson von Andreessen Horowitz habe diesen Trend als Aufkommen des "Full-Stack-Startup" bezeichnet - mit "Full-Stack" meine er dabei den kompletten Stapel Fähigkeiten, den man beziehungsweise eine Firma zum Überleben brauche. Die Neugründungen entwickelten nicht bloß Code, sondern versuchten bei Verkauf, Marketing, Support, Fertigung, Lagerhaltung und so weiter ganz neue Wege zu gehen.

Full-Stack und No-Stack sind keine Gegensätze

Dafür nutzten sie Software, die eher unglücklich als "No-Stack"-Technologie bezeichnet werde - deswegen, weil die Firmen, die sie nutzen, eben nicht ihren eigenen unterliegenden Tech-Stack bauen. Stattdessen greifen sie tendenziell zu API-basierten Micro-Services. Aufgrund der ähnlichen Begriffe würden viele denken, so Wessel und Ng, dass sich Full- und No-Stack diametral gegenüberstünden - dabei sei das Gegenteil der Fall.

Der Fahrdienstvermittler Uber als prototypisches Full-Stack-Startup arbeite in vielen wichtigen Bereichen mit No-Stack-Technologien; statt Hunderte für Entwicklern mit Fähigkeiten weitab seines Kerngeschäfts anzuheuern, verlasse sich die Firma auf API-basierende Dienste, um große Teile ihrer Kommunikation zu betreiben. Wenn man sich orten lässt und ein Uber-Auto ordert, routet Uber seine Fahrer derzeit mittels Google Maps zum wartenden Fahrgast. Erhält dieser eine SMS, dass der Fahrer unterwegs ist, läuft das über die APIs von Twilio (dort ist Auto Ng für den Betrieb zuständig, Anm. d. Red.). Und wenn die Rechnung in der Inbix landet, steckt dahinter das transaktionale E-Mail-System von Sendgrid.

Dank der No-Stack-Technologien könne Uber die Bedürfnisse seiner Kunden geschmeidig und nahtlos erfüllen, schreiben die Autoren. Selbst mit seinem full Stack an Software, Marketing, Vertrieb und Support könnte Uber gar nicht alle Dienste entwickeln und verwalten, die seine No-Stack-Anbieter liefern (und es würde das auch gar nicht wollen). Bei Full-Stack-Innovation gehe es darum, die Kundenerfahrung durch digitalisierte Geschäftsmodelle zu optimieren. Firmen müssten dazu die "Customer Journey" konstruieren und kontrollieren. Dazu müssten sie freilich nicht jedes Stück Technologie in diesem Prozess bauen und besitzen - es komme nur darauf an, dass die Technologie das tut, was nötig ist. Erfreulich für Gründer sei, dass No-Stack-Technologieanbieter wie AWS, Twilio (klar, Anm. d. Red.), Stripe, Sendgrid, Zipments, PubNub, Box und viele andere mehr dies in immer größerer Geschwindigkeit möglich machten.

Drei Trends der software-definierten Welt

Der resultierende Paradigmenwechsel eröffnet aus Sicht von Wessel und Ng neue Chancen für Innovation auf- und abwärts der Wertschöpfungskette. Dabei haben die Autoren drei zentrale Trends ausgemacht:

  1. Flexibilität und Deployment-Geschwindigkeit werden bestimmende Charakteristika guter Software. Um in der Full-Stack-Welt zu gewinnen, sind die Fähigkeiten entscheidend, neue Erfahrungen schnell an den Kunden zu bringen und auf Basis von dessen Feedback zu iterieren. Eine Auswahl aus Technologien, die man reibungslos ausprobieren sowie zuverlässig und unendlich skalieren könne, werde entscheidend dafür sein, dass neue Software die Kunden kontinierlich erfreue.

  2. Entwickler werden wichtige Entscheider. In einer durch Software definierten Welt entscheiden Entwickler über die Kundenerfahrung. CIOs können zwar den Betrieb partiell unterstützen, daber die eigentlichen Entscheidungsträger werden de facto die Developer. Um sie zu überzeugen, sind Kosten ein Faktor, Dokumentation und Support nöitg und Performance entscheidend. Um etwas in dieser neuen Welt zu verkaufen reicht etwas "on its way" nicht aus.

  3. Die (Kunden-)Erfahrung wird integriert, die Technologie zerlegt. Um möglichst viele mögliche "Experiences" anzubieten, muss die unterliegende Technologie wirklich modular werden. Man braucht die Entsprechung von Legosteinen, um eine große Bandbreite von Designs einfach und effizient zu ermöglichen. Software-Innovatoren müssen ihre Lösungen für die Entwickler, die darauf angewiesen sind, auf die niedrigste bekannte Ebene herunterbrechen.

Diese Welle an Full-Stack-Innovation sei bereit, alles zu verändern, schreiben ihre zwei Protagonisten weiter. Die vertrauten Fortune-500-Marken müssten sich daran anpassen; Softwarefirmen müssten die Art und Weise verändern, wie sie ihre Services bereitstellen. Ganz unabhängig davon, wer dabei gewinne oder verliere - die Kundenerfahrungen würden nie wieder die gleichen sein.