Workflow/Siemens-Manager probt virtuelle Arbeitsformen

Elektronischer Assistent organisiert die Termine

10.04.1998

"Die Informationsgesellschaft weiß nicht, wie sie den Frosch in einen Prinzen verwandeln soll", spöttelte Pablo Martin de la Hoz von der spanischen Gewerkschaftsorganisation Fundacion Formacion y Empleo auf einem internationalen Kongreß in Berlin über Telearbeit. Bei der Siemens Automotive Relay Division scheint es anders zu sein.

Weil die Arbeitsabläufe im Laufe der Zeit ineffektiv geworden waren, strukturierte die Abteilung, die unter anderem Automobilfirmen mit elektromechanischen Komponenten beliefert, vor zwei Jahren vollkommen um. Seitdem steigen die Umsatzzahlen enorm, so daß der Bereich in letzter Zeit allein in Berlin 150 neue Mitarbeiter einstellen konnte.

Geschäftsgebietsleiter Stefaan Vandevelde begründet: "Die höhere Produktivität ist im wesentlichen auf die Beschleunigung der Verteilung und Verarbeitung von Informationen zurückzuführen. "Wichtig war aber noch ein weiterer Schritt: Jedem Zielmarkt wurde eine eigene Mannschaft zu- geordnet, die von der Entwicklung über die Herstellung bis zum Vertrieb den gesamten Geschäftsprozeß verantwortet. Früher war die Division funktional organisiert, so daß beispielsweise der Vertrieb nicht nur auf die Zielgruppe Automobilindustrie ausgerichtet war, sondern alle möglichen Abnahmebranchen bedienen mußte.

Durch die neue Struktur fielen einige Hierarchiestufen weg. Die Konsequenz daraus, so Vandevelde: "Die einzelnen Mitarbeiter müssen nun mehr entscheiden. "Dazu fehlten ihnen aber bis vor kurzem die Informationen. Also baute der Unternehmensteil, der 2000 Mitarbeiter an 15 verschiedenen Standorten mit Fertigungsstätten in Asien, Südamerika, USA und Europa beschäftigt, ein weltweites Netzwerk mit Lotus Notes auf, das Daten strukturiert ablegen und Datenbestände replizieren kann.

Bedingung war: "Wir müssen schnell erkennen können, welche Infos neu hinzugekommen sind. Deshalb sind alle aktuellen Meldungen rot markiert", so der Münchner Manager. Obwohl viele Unternehmen in Richtung Internet und Intranet tendieren, hat sich die Automative-Relay-Abteilung für Lotus Notes entschieden. Die Begründung: "Das Internet ist noch nicht reif genug. Es läßt nicht alle Applikationen zu. Wir müssen aber jetzt schon arbeiten. "

Da Lotus auf den Internet-Zug aufgesprungen sei, bereite den Siemensianern die Zukunft keine Angst.

Das Internet ist aber nicht außen vor, sondern wird in der Relay-Division hauptsächlich für Recherchen und E-Mails genutzt oder auch, um das Unternehmen zu präsentieren.

Trotz IT-Unterstützung reist Vandevelde jetzt mehr. Sein virtueller Schreibtisch, das Notebook, begleitet ihn stets. Videokonferenzen oder Meetings protokolliert er, korrigiert das Protokoll nochmals im Flugzeug, wählt sich am nächsten Flughafen in den Netzknoten ein und schickt seine Messages auf 18 weltweit verteilte Datenspeicher. Das erwartet der Boß auch von seinen Mitarbeitern. Selbst beim Telefonieren tippt er fleißig mit, um die Gespräche gleich zu dokumentieren. Dadurch hält er seine Kollegen an allen Standorten rund um den Erdball stets auf dem laufenden, was bedeutet, daß Entscheidungen schnell getroffen werden können. Sobald der fliegende Manager Infos ins Corporate Network von Siemens speist, füttert er automatisch sein Notebook mit aktuellen Meldungen, die seine Mitarbeiter produziert haben.

Muß Vandevelde Meetings organisieren, überläßt er das lieber dem elektronischen Assistenten, denn nur er kennt die Pla-nung der anderen Kollegen und schlägt dann den bestmöglichen Termin vor.

Haben alle Mitarbeiter bestätigt, so reserviert der elektronische Sekretär unaufgefordert ein Besprechungszimmer in Berlin und schickt automatisch per Netz Einladungen an die Teilnehmer. Auf die Frage, ob es noch lebende Sekretärinnen bei Siemens gibt, antwortet Vandevelde: "Natürlich, das Aufgabengebiet hat sich allerdings verändert. Selten schreiben sie Briefe, sie koordinieren und verwalten. "Reiseplanung und -abrechnungen seien zur Hauptaufgabe geworden.

Jeder muß sich an die Regeln halten

Damit die Informationen problemlos fließen, muß sich jeder Mitarbeiter an strenge Regeln halten, stets seinen Zeitplan im Computer pflegen, Telefonnotizen oder Tagesprotokolle immer nach entsprechenden Mustern eingeben. Das erfordert viel Konsequenz, gibt Vandevelde zu, die er als Chef vorleben muß. Der Manager gesteht, daß die Terminplanung noch nicht so perfekt laufe, wie er es sich wünscht.

Aufgrund des schnellen Informationsflusses kann die Abteilung nun im globalen Business wirtschaftlich agieren: "Wir liefern heute unsere Produkte auch nach Japan", so der Telemanager, was vorher nicht der Fall gewe-sen sei.

Die Kommunikation über Kontinente hinweg laufe nach einigen Startschwierigkeiten problemlos. Die Siemens-Fertigung in Atlanta und die in Berlin sind vernetzt, so daß die beiden Standorte immer Bescheid wissen, was beim jeweils anderen gerade läuft.

Bleibt die Kreativität auf der Strecke?

Kundenbetreuer und Entwickler sitzen ebenfalls in verschiedenen Zeitzonen, zum Beispiel in Detroit und in Berlin. Hat ein Mitarbeiter Fragen, stellt er sie abends ins Netz und kann damit rechnen, daß er sie am nächsten Morgen beantwortet vorfindet.

Feste Unternehmensstrukturen und enge Arbeitsbeziehungen zwischen Kollegen zerfallen auf diese Weise. "Wo bleiben da der Mensch und die Kreativität?" fragte ein Teilnehmer, als Vandevelde auf einem Kongreß über virtuelle Unternehmen seinen Alltag schilderte. Statt mehr Freiheit und Flexibilität für den Mitarbeiter, so der Eindruck des Auditoriums, werde der Mensch durch die Technik immer mehr eingeengt und in Muster gepreßt. "Natürlich fühle ich mich durch die Technik hin und wieder unter Druck", gibt der Manager zu. "Andererseits habe ich durch den beschleunigten Prozeß mehr Zeit, kreativ zu sein. "

Hilde-Josephine Post ist freie Journalistin in München.