Virtuelle Unternehmen/

Einige Visionen sind Realität geworden

13.09.1996

Auch in deutschen Landen wird sich bald herumsprechen, daß perfekter Service mit schneller, flexibler Präzision beim Ausführen des Kundenwunschs zum erfolgreichen Geschäft und wirtschaftlichen Wohlergehen gehört. Addiert man zu dieser (manchmal sehr unbekannt scheinenden) Basiserkenntnis den Teamgeist, so ist in groben Zügen der Grundgedanke des Aufbaus eines virtuellen Unternehmens und einer neuen Unternehmenskultur charakterisiert.

Virtuelle Organisationen oder Unternehmen präsentieren sich nach einer Überlegung Stefan Kleins von der Hochschule St. Gallen, Institut der Wirtschaftsinformatik, gewissermaßen in Form einer "Als-ob"-Organisation: Sie verstehen sich als große, durchaus auch multinationale Körper, obwohl sie laut Klein faktisch nur aus einem Netzwerk unabhängiger Organisationen gebildet sind. Sie verfolgen eine gemeinsame Zielsetzung, zum Beispiel ein Forschungsprojekt oder das Bereitstellen einer Serviceleistung.

Ihnen eigen seien die Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen sowie die Auflösung des Widerspruchs von Dezentralisierung und Zentralisierung damit würden sie die Vorteile verteilten Operierens, dezentral verteilten Wissens und lokaler Präsenz erschließen, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler aus der Schweiz. Gering sei der Grad an Formalisierung, jedoch besäßen gemeinsame Ziele und Wertvorstellungen einen extrem hohen Stellenwert. Der perfekte Servicegedanke zählt dazu.

Als eine erfolgreiche Realisierung führt Klein die Rosenbluth Travel Agency an, die globale Informationsdienstleistungen auf Basis einer IT-Infrastruktur und eines Netzwerks von Kooperationspartnern offeriert.

Die Deregulierung der Flugtarife hat in den USA zu einer starken Diversifizierung und zu einem erhöhten Buchungsaufkommen über Reisevermittlungsagenturen geführt. Rosenbluth hat sich nun darauf spezialisiert, nach vorher abgefragten individuellen Profilen die jeweils für den Kunden günstigsten Angebote auszuwählen. Gerade Umbuchungen der Geschäftskunden auch von unterwegs fordern flexibles Reagieren, will man die Klientel mit gutem Service halten.

Im Rahmen seiner Dienstleistung hat Rosenbluth mit mehr als 30 Partnern Kooperationen vereinbart, die die Kunden global und gleichzeitig auf Basis ihrer Kenntnisse vor Ort betreuen können. Zugriff bekommen die Mitglieder über das Buchungssystem Galileo. Sie haben aber außerdem Zugriff auf unternehmensspezifische Anwendungen wie einen kostenorientierten Angebotsvergleich, die Unterstützung der Buchungsprozesse oder - sehr wichtig - ein kundenorientiertes Auswertungsprogramm. Ebenso relevant ist in diesem Verbund, daß die jeweiligen Kundeninformationen direkt verfügbar sind.

Der Aufbau einer virtuellen Organisation oder eines virtuellen Unternehmens ist indes nicht ganz so leicht, wie es den ersten Anschein hat. Es reicht nicht aus, weit verteilt in Bayern oder Heidelberg und Münster zwei bis fünf Mitarbeiter sitzen zu haben, um als virtuell zu firmieren, so wie es einige kleinere Softwareschmieden aus Marketing-Gründen gerne vorgeben.

Die lernende Organisation

Einer der Grundsätze, die sich bei der Recherche über die wenigen, bislang existierenden, echten virtuellen Unternehmen (VU) ergeben haben, liegt in der Bereitschaft, neue Mitglieder nach bestimmten Kriterien aufzunehmen und in den Verbund einzufügen. Insofern ist ein VU eigentlich der Prototyp einer "lernenden Organisation", so wie es David Skyrme vom Beratungsunternehmen David Skyrme Associates formuliert hat: "Lernende Organisationen sind solche mit eingeführten Systemen, Mechanismen und Prozessen, die kontinuierlich ihre Fähigkeiten und auch die Möglichkeiten derer erweitern, die mit ihnen arbeiten, um gesetzte Ziele zu erreichen - für sich selbst und für die Gemeinschaft, an der sie teilhaben."

Zur Verwirklichung dieses Gedankens seien lernende Organisationen ihrem externen Umfeld gegenüber grundsätzlich sehr aufgeschlossen, erweiterten konstant ihre Fähigkeit zur Aufnahme und Adaptierung neuer Gedanken, förderten das individuelle und gruppenbezogene Lernen und nutzten die Ergebnisse zur Verbesserung ihrer eigenen Resultate, führt Skyrme aus.

Ein solches Unternehmen ist zum Beispiel die Virtual Law Firm (VLF), ein virtuelles Anwaltsbüro in Kalifornien. Die VLF versteht sich als weltweite virtuelle Kanzlei, die zugelassene Anwälte vereint, um Fragen und die juristischen Probleme ihrer Kunden weltweit betreuen zu können.

Einer der großen Unterschiede zu anderen weltweit tätigen Kanzleien und juristischen Kooperationen ist nach eigenem Bekunden der, daß das Internet sowohl zur Kommunikation untereinander als auch zum Austausch mit den Klienten bei der Lösung von Rechtsfragen und rechtlichen Problemen genutzt wird. Zudem stehen umfangreiche juristische Datenbanken online für Anwälte und Kunden zur Verfügung. Es gibt kein zentrales (physisches) Kanzleibüro, wohl aber eine zentrale Verwaltungsstelle.

Die Klienten stammen, so die VLF, derzeit vornehmlich aus jungen und mittelständischen Unternehmen, aber es finden sich auch mehr und mehr Großunternehmen ein, die auf neue Technologien setzen.

Seitens der Rechtsanwälte, die sich als Assoziierte diesem Verbund anschließen, bestehen auch als Mitglieder der VLF keine Beschränkungen hinsichtlich der Durchführung ihres eigenen Betriebs oder der Kooperation auch mit Non-Internet-Kanzleien. Die Vorschriften und Qualitätsnachweise, die Anwälte zu erfüllen haben, bevor sie diesem Verbund beitreten dürfen, sind sehr stringent und werden vom Initiator der virtuellen Kanzlei, Thierman Laws, bewertet und überwacht. So müssen die Juristen mindestens fünf Jahre praktische Tätigkeit - egal ob als freier oder angestellter Rechtsanwalt - nachweisen.

Eine der Grundvoraussetzungen zum Aufbau einer virtuellen Organisation ist neben der Offenheit das Vertrauen in die Partner, das nur durch gegenseitiges Offenlegen relevanter Informationen zu einem tragfähigen Gleichgewicht wird. So gibt Rosenbluth die neuesten Informationen über seine eigenen Kunden via Internet an die Kooperationspartner weiter und erwartet auch von diesen entsprechende Loyalität und Unterstützung der gemeinsamen Zielsetzung zum Wohl des Vorhabens.

Im Falle der VLF greifen ähnliche Mechanismen über den Austausch von Profilen und die Bereitschaft, anhängige Fälle offen zu diskutieren und sie auch unabhängig einer (Qualitäts- und Vorgehens-)Kontrolle zu überantworten. Auch von den Kunden wird diese Offenheit und Ehrlichkeit über das anonyme Internet eingefordert - das scheint bislang nicht zu Datenschutzproblemen geführt zu haben.

Neben diesem Vertrauensvorschuß, der sich im Verlauf einer Zusammenarbeit nivellieren dürfte, besteht eine Reihe organisatorischer Schwierigkeiten, die es im Vorfeld zu klären gilt. Ein beredtes Zeugnis hierüber gibt ein Sitzungsprotokoll der Agile Virtual Enterprise Group (AVE). Dieser Zusammenschluß von Mitarbeitern der verschiedensten US-Unternehmen erarbeitet quasi als virtuelles Unternehmen in Workshops die Grundzüge einer praktischen virtuellen Unternehmung, nicht zuletzt, um den eigenen Betrieben Möglichkeiten für die Zukunft aufzuzeigen.

Neben einer ganzen Reihe von Überlegungen, die von der Zieldefinition bis hin zum Ressourceneinsatz reichen, ist die wohl interessanteste Schlußfolgerung an dieser Stelle eine Kategorisierung in drei Phasen, die ein virtuelles Unternehmen zu durchlaufen hat:

In der ersten Kategorie werden externe Anforderungen oder wirtschaftliche Zwänge (constraints) in eine interne Struktur transformiert, die als ein System aus Zielen, Firmenpolitik und Prozeduren gesehen werden kann. In der zweiten Kategorie oder Phase werden die Ressourcen der Unternehmen evaluiert und auf den Einsatz im virtuellen Raum vorbereitet.

In der Endphase schließlich, die sich aus Design, Marketing, Herstellung und Distribution bildet, wird die Summe der Inputs in die gewünschten Outputs oder Ergebnisse des Unternehmens umgewandelt.

Die virtuelle Arbeitsgruppe der AVE leitet für die praktische Arbeit auch Schlußfolgerungen ab, ohne die ihrer Meinung nach ein Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Dazu gehört die Identifizierung von inhaltlichen und technischen Interfaces genauso wie die von Partnerattributen, wie zum Beispiel die Berücksichtigung kultureller Eigenarten, der technologische Wissensstand, Umfeldbedingungen oder die allgemeine Lernbereitschaft.

Die umfangreichen Vorüberlegungen führen zu Arbeiten, die der Reihe nach zu erledigen sind: die Rekrutierung von Unternehmenspartnern, die Ausbildung der Mitarbeiter, die Organisation von Arbeitsgruppen oder die Festlegung von kritischen Erfolgsfaktoren, die Beschreibung des Geschäftsablaufs und letztlich auch die Evaluierung eines Idealzustands.

Sind diese Schritte vollzogen, entstehen Gebilde wie Ibos, das Interbanken-Online-System. Es wurde von der Royal Bank of Scotland plc und der spanischen Bank Santander entwickelt und tritt nach Aussage von Stefan Klein als Nischenanbieter in Konkurrenz zu dem Interbankensystem Swift auf. Es kann - schneller als Swift -innerhalb von sieben Sekunden eine Bestätigung über eine ausgeführte Transaktion erteilen, aber, was noch wichtiger ist, auch von den teilnehmenden Banken als Distributionsplattform für gemeinsam entwickelte Produkte und Dienstleistungen eingesetzt werden.

Zur Zeit sind in Großbritannien 2600 Filialen angeschlossen, in Frankreich partizipiert die Credit Commercial de France und in Portugal die Banco de Comercio & Industria. Gegenüber ihren Kunden treten sie in bestimmten Bereichen wie eine einzige Großbank auf. Geschäftskunden können ihre Konten über Accesspoints selber führen und überwachen - Homebanking über Ländergrenzen hinweg.

Ähnlich international, aber mit einer ganz anderen Zielsetzung, arbeitet Sommerset, eine Initiative von IBM, Apple und Motorola zur Entwicklung einer neuen Generation von Mikroprozessoren. Im Rahmen dieses Joint-ventures erhielten die Mitarbeiter per E-Mail privilegierten Zugang zu Informationen und In-house-Mail-Systemen der jeweiligen Partner.

Ein neues virtuelles Kind hat im Juli dieses Jahres das Licht im Internet erblickt: Atvantage (korrekte Schreibweise "vantage"). Auf Initiative des Marktforschungsunternehmens Gartner Group ist ein Dienstleistungsangebot speziell für die Informationstechnologie entstanden, das die Erkenntnisse und Reports mehrerer Partner unter einer Netzadresse (www.atvantage.com) vereint. An diesem virtuellen Vorhaben partizipieren neben der Gartner Group die Dataquest Inc., die Digital Information Group, EDventure Holdings, Gartner-Letter, Pathfinder Research, Softletter und Amy D. Wohl's Trendletter.

In Analogie zu einem Restaurantbesuch erhält der Kunde wohlfeile Appetithäppchen aus der großen Küche der beteiligten Unternehmen, bis er sich dann entscheidet und sich in einen bestimmten Salon zur (geistigen) Nahrungsaufnahme begibt. In Form einer Subskription wird die Leistung entlohnt. Dem Kunden bieten sich nicht nur neue Formen der Recherche und Analyse, er erhält auch, so die Planer der Gartner Group, ein spezielles Forum, in dem er sich ohne viel Aufhebens mit anderen interessierten Fachleuten zu einem Meinungsaustausch oder zur Verabredung gemeinsamer Projekte treffen kann.

Mit diesem Angebot will sich die Gartner Group neben den bisherigen Kunden aus dem Kreis der Großunternehmen eine neue Zielgruppe erschließen: Mittelständler, die zum Überleben auf neue Technik und Methoden setzen. Mit Atvantage könnten sie wichtige Schritte zu virtuellen Unternehmen erlernen.

Angeklickt

Es geht um mehr als die "ArGe", die man von jeder Großbaustelle kennt. Ein virtuelles Unternehmen verlangt von Managern traditioneller Unternehmen einiges Umdenken. In einem solchen Verbund sind Prinzipien wichtig, die gewöhnlich in den Wirtschaftsbeziehungen nicht üblich sind. Dennoch funktioniert das im ersten Moment hoffnungslos theorielastig erscheinende Konzept der "Als-ob"-Firmen in der Realität durchaus. Davon zeugen diverse Beispiele - allesamt aus dem Dienstleistungsbereich, aber aus sehr unterschiedlichen Sparten.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Fachjournalist in München.