Ratgeber zur Auswahl des Netzbetreibers

"Einen Carrier wechselt man nicht wie das Reisebüro"

11.10.1996

Am 1. August 1996 hätten bei den deutschen Anwendern eigentlich die Sektkorken knallen müssen. Der Gültigkeitsbeginn des neuen Telekommunikationsgesetzes markiert einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zur Liberalisierung der TK-Märkte. Konkret heißt das: Das Übertragungswegemonopol der Deutschen Telekom AG ist gefallen, der Weg für alternative Carrier und mehr Wettbewerb frei.

Gegenwärtig sieht die Praxis jedoch noch anders aus. "Der große Knall ist ausgeblieben", zog Professor Torsten Gerpott auf einem Symposium der Telak GmbH zum Thema "Wechsel des Carriers" in Bonn eine erste Bilanz. Für den Inhaber des Lehrstuhls Planung und Organisation an der Gerhard-Mercator-Universität in Duisburg liegt der Hauptgrund für den noch nicht eingetretenen Run der IT-Manager ins Lager der Alternativen auf der Hand: Die Telekommunikation ist ein langfristiges Infrastrukturgeschäft.

"Lassen Sie sich nicht von den schönen Hochglanzbroschüren der neuen Netzbetreiber blenden", warnte der Wissenschaftler deshalb das Auditorium. Laut Gerpott decken die Telekom-Konkurrenten mit ihren Netzen nur knapp 20 Prozent der Fläche Deutschlands ab und erreichen damit lediglich 40 Prozent der Bevölkerung. Diese Tatsache will er jedoch nicht als Kritik verstanden wissen schließlich habe die Telekom 50 Jahre Zeit gehabt, ihre Infrastruktur aufzubauen.

Zweifellos ist der Bonner Telecom-Riese derzeit Nutznießer seines logistischen und technischen Vorsprungs. Während die Alternativen gleichzeitig fieberhaft am Ausbau ihrer Netzwerke und Dienste arbeiten, kann die Telekom mit dem Pfund ihrer gewaltigen Ressourcen wuchern und insbesondere im Kampf um die lukrativen Großkunden rasch auf Angebote der Wettbewerber reagieren.

Gegen die Taktik des Ex-Monopolisten anzukommen ist für die Neueinsteiger im Markt äußerst schwer. Ihre Politik zielt im Moment eindeutig darauf ab, der Telekom durch günstigere Tarife Kunden abzujagen. "Ein alternativer Carrier hat heute nur dann eine Chance, wenn er preiswerter ist", bestätigt auch Wilhelm Steinmann, Leiter der Abteilung Telekommunikation bei der Kraft Jacobs Suchard Service GmbH & Co.KG mit Hauptsitz in Bremen, die derzeit vorherrschenden Marktgesetze. Trotz der lockenden billigeren Angebote schwört Steinmann zunächst aber weiter auf die Dienste der Telekom.

"Den Carrier wechselt man nicht so einfach wie das Reisebüro", gibt der TK-Experte die Tragweite eines solchen Schrittes zu bedenken. Bei einem marginalen Preisunterschied, so Steinmann, lohne sich das Risiko des Umstiegs ohnehin nicht. Selbst Rabatte von 15 Prozent und mehr seien mit Vorsicht zu genießen, auch wenn dem Controller gegenüber die Argumentation dann schon sehr schwer falle.

Die Haltung der Bremer Company dürfte stellvertretend für die Scheu vieler Unternehmen in Deutschland stehen, sich nicht Hals über Kopf in das Abenteuer Wechsel des Carriers zu stürzen. Für die Telekom sprechen, so der Tenor, derzeit vier wesentliche Punkte: erstens ihr unbestrittenes Know-how in Sachen Technik, zweitens ihr seit neuestem verbesserter Service, drittens eine mittlerweile flexible Preispolitik sowie viertens die bundesweite Flächendeckung.

Für eine Company wie Kraft Jacobs Suchard, die acht Standorte in Deutschland zählt, ist zum Beispiel das Thema Flächendeckung von großer Relevanz. "Wir unterhalten ein Werk in Fallingbostel. Da ist nichts außer Heide, Wald und der Telekom", beschreibt Steinmann den Vorteils des Ex-Monopolisten.

Über dieses Kriterium hinaus wiegt bei vielen deutschen Anwendern insbesondere das lange gewachsene Vertrauen in die Stabilität und Technik der Telekom-Netze schwer. Die Hansestädter haben sich laut Steinmann unter anderem deshalb nach Verhandlungen auch mit den drei alternativen Anbietern CNI, Worldcom und Plusnet für die Telekom als Betreiber ihres Corporate Network entschieden. Der TK- Gigant hält hierbei für seinen Kunden alle Multiplex-Systeme und Knoten vor, während die Bremer nach wie vor die Router und TK- Anlagen in eigener Regie fahren.

Die Qual der Wahl in Sachen Carrier ist für deutsche Unternehmen nicht völlig neu. Seit 1993 dürfen Drittanbieter TK-Anlagen bereits mit Hilfe von gemieteten Telekom-Leitungen zu standortübergreifenden Corporate Networks verbinden. Durch die Stufe III der Postreform erhalten die Konkurrenten der Telekom jetzt allerdings mehr Spielraum in puncto Infrastruktur, weil sie über Mehrwertdienste hinaus auch selbst Netze betreiben oder Kapazitäten gezielt einkaufen und anbieten können.

Obwohl alternative Carrier auch weiterhin aufgrund ihrer geringen Flächendeckung auf Leitungen der Telekom angewiesen sind, entwickelt sich für Anwender ein vielfältigeres und günstigeres Angebotsspektrum. Zum Beispiel die sogenannten Virtual Private Networks (VPNs), die ebenfalls auf Mietleitungen basieren, aber laut Bernd Jäger, Geschäftsführer der Telecom Consulting, Bonn, eine separierte logische Einheit eines Netzbetreibers mit nutzerspezifisch konfigurierten Daten und Bandbreiten bilden.

Für Unternehmen, die bislang selbst ein Corporate Network auf Basis von Monopolleitungen der Telekom betrieben, könnten VPNs eine interessante Alternative darstellen. Bei diesen Netzen profitiert der Nutzer von geringeren Kosten, weil die Anbieter nur für die tatsächlich genutzte Bandbreite kassieren. Weitere Vorteile, die zu Buche schlagen können, sind Ausfallsicherheit durch Redundanz, Wegfall von Investitionen für die Integration von TK-Anlagen, kein Personalaufwand sowie Services on demand.

Jürgen Melzer, Geschäftsführer der Pecos GmbH, Hamburg, warnt jedoch vor einem überhasteten Schritt in Richtung Corporate Network, VPN sowie neuem Carrier. Einer solchen Maßnahme sollte, so der Berater, eine Kommunikationsanalyse des Unternehmens, die Erstellung eines Anforderungsprofils sowie eine Kosten-Nutzen- Rechnung vorausgehen (siehe Grafik und Kasten).

Die gewonnene Freiheit bei der Wahl der Dienstleister hat für IT- Manager jedoch auch ihren Preis. Um überhaupt konkrete Angebote einholen zu können, müssen sie künftig permanent präzise Informationen über das Kommunikationsverhalten im Unternehmen vorhalten. Diese Erfahrung hat auch schon DV-Experte Steinmann gemacht, der über Management-Systeme in den Hicom-TK-Anlagen anonymisierte Daten generiert.

Steinmann denkt nämlich nicht im Traum daran, den alternativen Netzbetreibern auf Dauer die kalte Schulter zu zeigen. Der TK- Stratege liebäugelt damit, einen oder zwei weitere Dienstleister ins Haus zu holen, die der Telekom im Sprachverkehr einheizen sollen. Funktionen wie Leastcost-Routing oder Break-out machen dies möglich. Sie sorgen dafür, daß die TK-Anlagen den preiswertesten Carrier für eine spezifische Verbindung - zum Beispiel ins Ausland - wählen oder den Verkehr so lange wie möglich im Corporate Network halten. Die integrierte Sprach- und Datenkommunikation traut Steinmann den Alternativen zunächst aber noch nicht zu.

Das Mißtrauen der Anwender in das Können beim Mix von Sprache und Daten ist derzeit eines der wesentlichen Probleme der Marktneulinge. Sie müssen dringend technische Betriebserfahrung sammeln und benötigen zu diesem Zweck Referenzkunden. Experimentierfreudige Großanwender sind deshalb in einer guten Verhandlungsposition und sollten den neuen Spielraum weidlich nutzen..

Ratgeber Carrier-Wechsel

1. Erstellen Sie vor der Entscheidung, ein Corporate Network selbst zu betreiben oder die Regie in die Hände eines Carriers zu legen, eine Kommunikationsanalyse ihres Unternehmens.

2. Entwickeln Sie nach der Analyse ein Anforderungsprofil für ihr Corporate Network, das Kriterien wie Daten- und Sprachvolumina, Lastspitzen, Komfortansprüche, Qualität sowie Performance berücksichtigt.

3. Legen Sie anhand des Profils eine Kommunikationsstrategie für Ihr Unternehmen fest.

4. Berechnen Sie die jeweilige Wirtschaftlichkeit und treffen Sie dann eine Entscheidung "Make or Buy".

5. Legen Sie, wenn ein Carrier das Corporate Network betreiben soll, ein Pflichtenheft sowie eine Liste potentieller Kandidaten fest.

6. Orientieren Sie sich bei der Leistungsbeschreibung Ihres Systems nicht am Portfolio der Carrier, sondern ausschließlich an den eigenen Anforderungen.

7. Definieren Sie vor der Ausschreibung Kriterien, die eine sachliche Bewertung der Angebote sicherstellen.

8. Berücksichtigen Sie bei der Ausschreibung bereits die spätere Vertragsgestaltung, das heißt Dauer, Kündbarkeit, Mengenrabatte sowie eine Anpassungsklausel bei sinkenden Preisen.

9. Begeben Sie sich beim Einkauf von Dienstleistungen möglichst in keine Abhängigkeit vom Lieferanten, sondern achten Sie weitgehend auf Austauschbarkeit.

10. Versichern Sie sich, wie schnell ein Carrier seine Dienste anbieten kann und welche Standards er dabei flächendeckend unterstützt.

11. Prüfen Sie, an welchen Standorten der Dienstleister in Deutschland sowie international mit eigenem Personal vertreten ist.

12. Sondieren Sie die Dienstequalität des Carriers zum Beispiel hinsichtlich Übertragungsgüte, Bereitstellung, Ausfall und Entstörung.

13. Nehmen Sie die Serviceleistung des Carriers zum Beispiel unter dem Aspekt Support unter die Lupe.

14. Prüfen Sie die Backup- sowie Netzwerk- und System-Management- Lösungen des Netzbetreibers.

15. Klären Sie, welche Migrationspfade ein Dienstleister zu neuen Netzlösungen ohne Unterbrechung des laufenden Betriebs und unter optimaler Nutzung früherer TK-Investitionen des Kunden bieten kann.

16. Testen Sie, wie flexibel ein Carrier auf einen veränderten TK- Bedarf des Kunden regieren kann, zum Beispiel bei der Schaltung von Gateways oder der Integration neuer Standorte.Quelle: Pecos/Gerpott/CW