Eine virtuelle Konkurrenz um das stärkste Auskennertum

07.08.1992

Michael Peltzer IBM Unternehmensberatung für Informations-Management in Hamburg

Wer in der Informationsverarbeitung tätig ist, wird beständig mit der Dynamik dieses Bereichs konfrontiert. Was letztes Jahr noch als Wahrheit galt, wird schon in diesem gründlich bezweifelt, um dann im nächsten aus dem Fundus jener Gedanken ausgemustert zu werden, die man noch äußern darf, ohne als "DV-Grufti" zu gelten. Mit den Produkten indes, die man auf der Basis der aktuellen Wahrheit kauft, muß man länger leben als zwei Jahre.

Das meiste von dem, was im Zentrum der aktuellen Diskussion steht, ist in seiner Bedeutung für die Praxis nicht annähernd so einfach einzuschätzen wie es die jeweiligen "Gurus" suggerieren.

Zum einen wird sehr gerne die Sache, um die es geht, als bekannt unterstellt. Die Folge ist, daß einer, der nicht schon vorher Bescheid wußte, hinterher "so klug als wie zuvor ist". Er kann auf diese Weise allerdings die Fähigkeit erlangen über relationale Datenbank-Management-Systeme, Objektorientierung und Repositories zu reden, ohne je zu wissen, was das eigentlich ist. Zwischen Moden ohne Bedeutung und echten Trends kann er freilich nicht unterscheiden.

Zum anderen ist das konkrete betriebliche Umfeld von entscheidender Relevanz, wenn man die Praxistauglichkeit einer Technologie beurteilen will. Ohne eine gründliche Analyse von Geschäftsprozessen, Organisation, Management-Struktur, Entwicklungs- und Betriebsverfahren, Daten-Management etc. läßt sich gar nicht verläßlich feststellen, ob zum Beispiel "Client-Server-Computing" genau das Patentrezept ist, das im eigenen Haus den Erfolg garantiert.

Was wirklich benötigt wird, sind konkrete Analysen und ein Verständnis der fundamentalen Konzepte. Beides ist schwierig und zusammengenommen ziemlich komplex. Was schließlich dabei herauskommt, ist häufig überhaupt nicht so modisch und aktuell.

Ein Praktiker kann meist gar nicht sehr tief in alle Gebiete eindringen und die "saure Arbeit des Gedankens leisten" gerade weil er Praktiker ist. Er

hat nämlich schlicht zuviel zu tun. Andererseits, benötigt keiner so sehr wie er das Wissen um die potentielle Nützlichkeit neuer Technologien. Es macht keinen Sinn, die gesellschaftliche Arbeitsteilung so weit zu treiben, daß diejenigen, die sich auskennen, keine Rolle in der Praxis spielen, und die, die wirklich etwas bewegen, keine Ahnung haben.

Was not tut, ist eine "Reduktion von Komplexität" (wie es der Soziologe Niklas Luhmann nennt), und zwar in dem Sinne, daß durch kluge innerbetriebliche Funktionenteilung das erforderliche Wissen auf der richtigen Ebene konzentriert wird. Der DV-Leiter muß keine Nachrichtenformate kennen, um über Objektorientierung vernünftig entscheiden zu können.

Eine solche Struktur ist nicht leicht zu organisieren, vor allem aus psychologischen Gründen nicht: jeder Beteiligte müßte ganz offen über seinen Wissensstand Auskunft geben, und Kenntnisse wären nicht mehr der Blasebalg, mit dem man sich in der virtuellen Konkurrenz um das größte Auskennertum aufblasen könnte.

Als einzelner hat man es leichter: Statt Probleme und Innovationen präzise zu untersuchen, um sie zu begreifen, schließt man sich einer Mode an und nennt sie die eigene "Philosophie". In diesem Fall bezeichnet das unschuldige Wort ein wichtiges Instrument der Komplexitätsreduktion. Indem sich der Sprecher zu einer "Philosophie" bekennt, kann jede konkrete Analyse vermieden werden. Auf diese Weise gibt er kund, daß er mächtig überzeugt ist von dem, was er sagt. Gleichzeitig macht er unmißverständlich klar, daß er an rationalen Einwänden eigentlich überhaupt nicht interessiert ist.

Ich habe es immer als Vorteil empfunden, daß in der Informatik kein solcher Pluralismus herrscht wie in den Geisteswissenschaften. Die "Philosophen" der Informationsverarbeitung versuchen, ihn einzufahren, indem sie fachliche Überlegungen durch persönliche Begeisterung für ihre Dogmen ersetzen. Sie entziehen damit der Informationsverarbeitung ein Stück dringend benötigter Rationalität. Die Dinge sind oft schon undurchsichtig genug, man sollte sich nicht zusätzlich blind machen.

Die Reduktion von Komplexität mittels "Philosophie" führt nur selten zu vernünftig vereinfachenden Abstraktionen, mit denen schwierige Probleme durchsichtiger und differenzierte Konzeptionen bewertbar würden. Viel öfter ist das Ergebnis eine mehr oder weniger elegante Verpackung von Willkürentscheidungen.

Weil sie so praktisch sind, wuchern die "Philosophien" gerade in der schnellebigen DV-Welt schlimmer als Unkraut. Statt Ontologen und Ethikern streiten sich in der Informationverarbeitung Netz-, Datenbank- und (Programmier-) Sprachphilosophen. Die Gegner sind nicht Solipsisten und Materialisten, jetzt bekämpfen OO-Philosophen ihre Widersacher von der prozeduralen Linie. Noch die banalsten Alternativen der Netztopologie werden zu hochgeistigen, eben philosophischen Gegensätzen.

Wenn es lediglich um die Redeweise im freizeitlichen Gespräch ginge, könnte ich mir alle Einwände sparen: Kulturkritik ist Luxus. Aber es geht um mehr! Führungskräfte, die über langfristige Strategien entscheiden, müssen dies aufgrund kompetenter Beratung tun, die auf konkreten Sachanalysen fußt.

Verfolgen sie statt dessen "Philosophien", sind sie eine leichte Beute für rethorisch geschickte Marketiers und lenken unter Umständen ihre Investitionen in eine modische Sackgasse. Diese Art der Komplexitätsreduktion macht auf die Dauer nicht handlungsfähig eher umgekehrt!

Eine verzerrte Wahrnehmung, gepaart mit der irrationalen Gewißheit, Recht zu haben, ist jedenfalls keine sichere Basis für langfristige Weichenstellungen. Genau diese aber würde gebraucht. Nicht gebraucht hingegen werden Leute, die ihre Fehlentscheidung, anno 1992 im wesentlichen in Assembler programmieren zu lassen, für einen "traditionalistisch, konservativen Ansatz" halten, oder jene, die bei der Betrachtung eines Terminals ohne grafische Benutzeroberfläche sofort einen tiefphilosophischen Widerwillen empfinden.

Die Informationsverarbeitung sollte als rationaler Prozeß zur Unterstützung von Geschäftsprozessen gestaltet werden - jedenfalls soweit das möglich ist. Es gibt noch Unwägbarkeiten genug, allein schon, weil in hierarchisch organisierten Gruppen psychische Prozesse eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. "Philosophien" fördern hier nur eine nutzlose Emotionalisierung der Entscheidungsprozesse. Machen wir Schluß damit!

Übernommen aus "EDV-Aspekte" Nr. 4/92, Computerwoche Verlag GmbH, München.