MRP versagt bei interner und externer Logistik

Eine bessere Planung mit Supply-Chain-Management?

23.04.1999
Das Erfolgsrezept zur Planung und Kontrolle einer durchgängigen Logistikkette heißt derzeit Supply-Chain-Management (SCM). Viele Anwender bezweifeln jedoch, ob aufwendige SCM-Projekte einen Vorteil gegenüber den bereits eingesetzten Spezialwerkzeugen oder denen der ERP-Pakete versprechen. Dr. Bernhard Schwister, Geschäftsführer des SCM-Anbieters Manugistics GmbH in Ratingen, und sein Marketing-Chef Dirk Kansky wollen im Gespräch mit CW-Redakteur Stefan Ueberhorst vom SCM-Ansatz überzeugen.

CW: Die Aussicht auf eine Echtzeitplanung der Logistikkette war lange Zeit ein wichtiges Argument für SCM. Läßt sich dieses Versprechen überhaupt erfüllen?

Schwister: Mit der Perspektive auf eine echtzeitfähige Logistikplanung wurden die Anwender in die Irre geführt. Einige Hersteller haben inzwischen umgedacht. SAP hat sich zum Beispiel lange Zeit mit einer Realtime-Integration von Planungsfunktionen in R/3 beschäftigt. Man ist davon abgerückt und bietet nun die Supply-Chain-Komponente APO als Planungs-Add-on ohne Echtzeitfunktionen zu R/3 an.

CW: Funktioniert Echtzeit nicht, oder hat sie sich für die Planung als nicht sinnvoll erwiesen?

Schwister: Letzteres. Man muß sich zwei Ebenen vorstellen, eine davon bildet das ERP als echtzeitgetriebenes Transaktionssystem. Aktuelle Änderungen sollten hier möglichst schnell eingearbeitet werden. Um allerdings Planungsszenarien mit What-if-Analysen durchspielen zu können, müßte das ERP für die dazu benötigte Zeit auf einem bestimmten Zustand eingefroren werden. In der Praxis ist das natürlich Unsinn. Deshalb arbeitet SCM auf einer darüberliegenden Ebene. Dort wird das Tool mit den ERP-Daten gefüttert und erlaubt drei Planungsvarianten: eine operative, also kurzfristige im Sekunden- bis Tagesbereich, eine mittelfristige oder auch als taktisch bezeichnete Planung im Wochen- und Monatsrhythmus sowie eine über Jahre reichende strategische Planung. Für 99 Prozent dieser Fälle hat Echtzeit jedoch keinen Sinn. Natürlich sollten Veränderungen bei den ERP-Daten möglichst schnell an das SCM-System gemeldet werden, ein laufendes Planungsszenario darf damit aber nicht ständig zerstört werden.

CW: Böse Zungen behaupten, daß die Praxis im PPS-Umfeld den Anwendern ohnehin nur unzuverlässige Planungsdaten liefert. Kann SCM als isolierte Schicht überhaupt funktionieren, wenn oft nur überholte Informationen zur Verfügung stehen?

Schwister: Natürlich müssen für eine gute Planung die Daten stimmen. Das heißt, Stücklisten sollten vollständig, Angaben in Teilestämmen korrekt sein. Das Problem ist, daß man die Fehler im PPS-System selbst nicht erkennt. Hier liegt die Stärke von SCM. Wenn operative Daten in das Simulations-Tool geladen werden, lassen sich die Schwachpunkte aufdecken. Lücken werden im Planungswerkzeug eingekreist, so daß man gezielt die Datenbasis bereinigen oder die Buchungslogik in Ordnung bringen kann. Zudem ergibt sich ein besonderer Vorteil von SCM dadurch, daß es nicht nur Daten aus der PPS, sondern auch aus anderen Transaktionsquellen für einen Plausibilitätscheck aufnehmen kann.

CW: Können Sie ein Beispiel nennen?

Schwister: Nehmen Sie die Chemieindustrie, wo ein Unternehmen beispielsweise das ERP-Produkt BPCS von SSA, für die Finanzbuchhaltung R/3 und zusätzlich noch eine spezielle Transportlösung einsetzt. Im Normalfall kommunizieren die drei Bereiche nur wenig miteinander. SCM läßt sich hier als Bindeglied verwenden, um Inkonsistenzen zu erkennen und auszuräumen.

CW: Diese Probleme sollten sich doch auch mit den Werkzeugen von ERP-Systemen lösen lassen.

Schwister: Hinter dem Planungs-P von ERP steckt noch die sogenannte MRP-II-Logik. Vereinfacht heißt das, einer Kapazitätsbetrachtung wird eine unbegrenzte Materialverfügbarkeit suggeriert.

Sollen umgekehrt die benötigten Materialien ermittelt werden, geht die Kalkulation von einer unbegrenzten Kapazität in der Fertigung aus. Die Pläne aus derartigen Berechnungen sind natürlich nur bedingt verwertbar. Versuche, mit einem Leitstandaufsatz diese Probleme in den Griff zu bekommen, waren kaum befriedigend. Mit SCM lassen sich dagegen Materialien und Kapazitäten gleichzeitig betrachten. Außerdem können bestimmte Rahmenbedingungen, sogenannte Constraints, in der Fertigung wie Maschinenbelegung oder Arbeitszeitmodelle definiert werden. Auf diese Weise erhält man, anders als mit MRP, einen tatsächlich ausführbaren Plan.

Hinzu kommen betriebswirtschaftliche Faktoren. So legt MRP statische Durchlaufzeiten und Losgrößen zugrunde, während SCM von dynamischen Werten ausgeht. Dies sind nur einige Beispiele für die Unterschiede.

CW: In eine verzweigte Supply Chain müssen auch die kleinen Zulieferbetriebe eingebunden werden. Wie hoch ist die Abhängigkeit dieser Firmen vom SCM-Diktat der auftraggebenden Konzerne? Entsteht hier nicht eine ähnliche Situation wie bei den CAD-Systemen in der Automobilindustrie, wo manche Hersteller ihren Zulieferern die einzusetzende Software aufgezwungen haben?

Kansky: Eine globale Supply-Chain-Planung hat natürlich mehr Sinn, wenn viele Unternehmen der Lieferkette beteiligt sind. Unter den Partnern stellt sich dann zwangsläufig die Frage, wer bestimmt und kauft die Software? Um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Ein Zulieferer weiß nicht, ob er den Automobilhersteller im nächsten Jahr noch bedienen wird oder ob ein anderer Auftraggeber von ihm einen Systemschwenk verlangt. Diesem Dilemma kann man auf zwei Arten begegnen. Zum einen sollten SCM-Produkte möglichst offen zur Konkurrenz sein. Das ist jedoch ein Argument, das die Anwender von allen Seiten hören, die IT-Praxis sieht dann oft anders aus.

Überzeugender sind deshalb nach unserer Meinung bestimmte Lizenzmodelle. Sehr attraktiv erscheint uns ein transaktionsorientiertes Konzept. Das heißt, der Zulieferer braucht kein Komplettsystem für einen Millionenbetrag einzuführen, sondern zahlt nur für die SCM-Transaktionen, die er mit seinem Auftraggeber tatsächlich abwickelt. Hier handelt es sich um Pfennigbeträge pro Transaktion.

CW: SCM-Anbieter werben gerne mit einem schnellen Return on Investment (ROI). Was ist hier möglich?

Kansky: Das ist je nach Modul verschieden, und wir können hier natürlich nur von unseren Produkten sprechen. Die SCM-Transportkomponente läßt sich beispielsweise in zwei bis sechs Monaten implementieren, in einem ähnlichen Zeitraum ist erfahrungsgemäß auch ein vollständiger ROI möglich. Andere Module benötigen zur Einführung zwar länger, amortisieren sich aber meist ebenfalls innerhalb eines Jahres. Vergleichen Sie dazu ERP-Systeme, die über einige Jahre eingeführt werden und bei denen der ROI, wenn es überhaupt einen gibt, erst nach mehreren weiteren Jahren eintritt.

CW: Nehmen wir an, die finanzielle Frage ist geklärt. Wo beginnt man sinnvollerweise mit der Verbesserung seiner Logistikkette?

Kansky: Es besteht die Möglichkeit, die Logistik intern vom Wareneingang bis zum Versand zu verbessern und dann die externe Planung mit einem Kunden oder Lieferanten einzubeziehen. Womit ein Unternehmen anfängt, hängt von den größten Problemzonen beziehungsweise Potentialen ab. In der Regel liegen diese in der internen Logistik. In einigen Branchen drückt der Schuh aber überwiegend außerhalb der Firma. So wollen Konsumgüteranbieter mit ihren Produkten möglichst durchgehend an den Verkaufsstellen vertreten sein, ohne deshalb große Lagerbestände vorhalten zu müssen.

CW: Manche Zulieferer befürchten, daß sie als Beteiligte an einem SCM-Konstrukt Dritten ungewollt Einblick in ihre DV gewähren.

Kansky: Diese Gefahr besteht nicht. Welche Daten innerhalb der Supply Chain zur Verfügung gestellt werden, ist genau geregelt. Zu den planungsrelevanten Daten gehören zum Beispiel Bestände und Auftragseingänge. Hier handelt es sich nicht um sensible Informationen etwa zur Preiskalkulation oder aus der Produktion. Im Prinzip kann man von einem geschützten System ausgehen, bei dem jeder SCM-Teilnehmer selbst bestimmt, welche Daten er veröffentlichen will.

CW: Mit welcher Marktentwicklung können die Anwender rechnen?

Schwister: Die Bedeutung von SCM ist vielfach noch unbekannt, der Markt befindet sich gerade erst in den Startlöchern. Etwa zwei Drittel aller Projekte laufen derzeit bei Großunternehmen, der Rest entfällt auf erste, innovativ denkende Mittelständler. Unter den Herstellern zeichnet sich aber bereits jetzt ab, daß globale Projekte auf die drei großen Anbieter SAP, i2 und Manugistics aufgeteilt werden. Für punktuelle Probleme wird es zahlreiche kleinere Hersteller mit Speziallösungen geben. Von anderen ERP-Anbietern befürchten wir insofern keine Konkurrenz, als sie sich den SCM-Entwicklungsaufwand, wie SAP ihn aufgebracht hat, kaum leisten können. Hier stehen eher Kooperationen an.