Satellitengeodäsie macht es aus 6750 Kilometer Höhe möglich:

Ein zentimetergenaues Bild der Erde

15.09.1989

Wer in der Nähe von Wettzell im Bayerischen Wald Urlaub macht, kann in klaren Nächten ins Staunen kommen: Plötzlich schießt mitten aus der ländlichen Abgeschiedenheit ein smaragdgrüner Laserstrahl nach einem unsichtbaren Ziel am Himmel. Star Wars in Germany? Mitnichten! Die Wettzeller Laseranlage dient durchaus friedlichen Zwecken: Mit ihr vermessen Wissenschaftler die Erde praktisch auf den Zentimeter genau.

Die Szene könnte aus einem Science-Fiction-Film sein: Scheinbar aus dem Nichts taucht am Nachthimmel ein schmaler grünen Lichtstral auf, der nach den Sternen zu greifend scheint. In einigen Kilometern Höhe verliert sich seine Leuchtspur im nächtlichen Dunkel. Was der Beobachter nicht sieht, ist das Ziel des pulsierenden, hochenergetischen Laserstrahls: Es ist der US-Satellit "Lageos", der in 6750 Kilometern Höhe seine Bahn um die Erde zieht.

Also doch Star Wars? Nein, denn "Lageos" wird dabei nicht etwa zerstört - dazu ist die Energie von 1,25 Gigawatt die in jedem der rund 2000 Lichtpakete steckt, die während eines

Versuchs auf den Satelliten geschossen werden, viel zu klein. Aber sie genügt, damit das Licht nach Reflexion am 410 Kilogramm schweren und 60 Zentimeter großen Satelliten von der Bodenstation in Wettzell wieder aufgefangen werden kann. Dort berechnen dann Spezialisten in einem ausgeklügelten Verfahren mit Computerhilfe die genaue Position von "Lageos".

2000 mal mit allem erdenklichen technischen Aufwand die Lage einer simplen Metallkugel am Himmel bestimmen, und das wenn möglich Nacht für Nacht - was soll der ganze Zauber? Nun, die Sache hat wirklich nichts mit "Science-Fiction" zu tun, sonder viel mehr mit "Science", genauer: mit dem Spezialgebiet der Geodäsie - es geht darum, die Erde möglichst genau zu vermessen. Das ist jedenfalls das Ziel der Wissenschaftler, die aus verschiedenen Hochschulen und Forschungsinstituten - beteiligt sind die technische Universität München, das Institut für Angewandte Geodäsie in Frankfurt, das Deutsche Geodätische Forschungsinstitut München und die Universität Bonn - nach Wettzell kommen.

Wenn man mit der teuren Anlage nur exaktere Landkarten bekäme, würde sich die Sache allerdings kaum lohnen. Die Satellitengeodäsie liefert aber auch wertvolle Hinweise über den Bau des Erdinnern, die Kontinentalverschiebung, über Erdbebenzonen, Rohstofflagerstätten usw.

Interessanterweise lassen sich diese zusätzlichen Informationen mit der Satellitengeodäsie gerade deshalb gewinnen, weil das Verfahren so kompliziert ist: Der mit dem Laserstrahl angepeilte Satellit kurvt nämlich nicht genau in der schönen Ellipsenbahn um die Erde, die man eigentlich von ihm erwarten würde. Der Grund: "Lageos" gehorcht der Schwerkraft, und die ist nicht überall gleich groß - vor allem, weil die Erde keine homogene, -kugelförmige Masse ist. Auch Sonne und Mond beeinflussen die Bahnkurve. Der Satellit wird außerdem gebremst durch die dünne Atmosphäre, in der er sich bewegt. Weitere Einflüsse - zum Beispiel der sogenannte Strahlungsdruck - spielen ebenfalls eine Rolle.

Die Geodäten versuchen nun, die verschiedenen Komponenten der Bahnabweichung rechnerisch auseinanderzusortieren und so Rückschlüsse über den Bau der Erde zu gewinnen. Das ist eine komplizierte und aufwendige Sache, die man nur mit Computerhilfe bewältigen kann.

Die Schwierigkeiten beginnen aber bereits vorher, nämlich bei den Messungen selbst. Den kleinen Satelliten mit dem Laserstrahl zu treffen, kann man vergleichen mit dem Versuch, einen Stecknadelkopf aus einer Distanz von einem Kilometer anzupeilen. Die heikle Aufgabe wird zusätzlich erschwert durch ein physikalisches Phänomen, die sogenannte Refraktion: Licht wird beim Durchdringen der Atmosphäre abgelenkt. Um den Satelliten von der Erde aus zu treffen, muß man also gewissermaßen daneben zielen!

Wieviel diese Korrektur ausmacht, ermittelt der Computer, der auch die Satellitenbahn vorausberechnet. Die Resultate weiden an die Steuerelektronik weitergeleitet. Sie stimmen zwar nicht haargenau, sind aber doch genügend präzise, daß das Sende/ Empfangsteleskop den Satelliten verfolgen kann.

Eine 100 Meter tiefe Mulde im Atlantischen Ozean

Um Form und Figur der Erde exakt zu bestimmen oder Bewegungen der Erdkruste mit hinreichender Genauigkeit zu registrieren, benötigen die Geodäten Meßdaten weiterer Beobachtungsstationen - zum Beispiel von der Schweizer Station in Zimmerwald, die vom astronomischen Institut der Universität Bern betrieben wird.

Bei der Auswertung der Datenflut müssen die Forscher schrittweise vorgehen. Am Anfang kennen sie trotz der vielen Messungen die Satellitenbahn nur näherungsweise. Auch das Schwerefeld der Erde ist zu diesem Zeitpunkt nicht genau bekannt. Komplizierte Computerprogramme - es sind Gleichungssysteme mit mehreren hundert Unbekannten zu lösen - ermitteln dann ein detaillierteres Bild dieses Feldes. Damit läßt sich die Satellitenbahn genauer berechnen. Im nächsten Schritt wird das Schwerefeld präziser bestimmt. Dann sind wieder Bahnberechnungen an der Reihe und so weiter. Diese Methode des schrittweisen Herantastens liefert sehr gute Näherungen für die tatsächlichen Werte von Satellitenbahn und Schwerefeld.

Die unterschiedliche Massenverteilung auf der Erde bestimmt das Schwerefeld unseres Planeten. Sie bewirkt, daß sich die Oberfläche der Ozeane, die ja das Niveau von Null Metern Meereshöhe definiert, zu veritablen Buckeln und Mulden verformt. So liegt beispielsweise der Spiegel des Atlantiks bei Island 65 Meter höher als in seiner Mitte, während der indische Ozean eine Mulde von 110 Metern Tiefe aufweist.

Wenn man sich eine vollständig von Wasser bedeckte Erde denkt, erhält man eine räumliche Vorstellung vom Schwerefeld unseres Planeten. Die Wasseroberfläche bildet dann eine Niveaufläche von Null Metern Meereshöhe, ein sogenanntes Geoid. Charakteristisch daran ist, daß auf dieser Fläche der Schwerkraftvektor an jeder Stelle senkrecht steht.

Die Geodäten haben nun aus den Satellitenmessungen mit Computerhilfe das Geoid berechnet. Es zeigt geringfügige, aber bedeutsam Abweichungen von einer Kugel. In erster Annäherung erhält man ein Ellipsoid (eine abgeplattete Kugel), wobei die Differenz zwischen den beiden über 6300 Kilometer langen Halbachsen rund 21 Kilometer beträgt. Das entspricht einer Kugel von sechs Metern Radius, bei der man oben und unten je einen Zentimeter weggeschliffen hat.

Wenn man das Geoid genauer betrachtet, sieht man auch Abweichungen vom Ellipsoid: Stark übertrieben gezeichnet, gleicht die Figur einer Kartoffel (siehe Abbildung).

Daß die Erdanziehung von Ort zu Ort so variiert, hat vor allem mit den regionalen Unterschieden in der Beschaffenheit der Erdkruste zu tun. Der Boden unter der Oberfläche enthält eben nicht überall gleichviel Masse pro Volumeneinheit. Da die Schwerkraft proportional ist zur Massendichte, hat jede Region ihr eigenes, charakteristisches Schwerkraftprofil - ein Profil, das wertvolle Hinweise auf die Beschaffenheit des Untergrundes gibt.

Der "Spinner" hatte doch recht

Nun ist die Erdkruste nicht nur unregelmäßig aufgebaut - sie verändert sich auch laufend. Behauptet hat dies der Geologe Alfred Wegener zwar schon vor über 70 Jahren; aber keiner nahm ihn ernst. Fachkollegen belächelten seine Theorie von der Kontinentalverschiebung als Erfindung eines Spinners.

Seit etwa 20 Jahren weiß man, daß der "Spinner" doch recht hatte: Die Erdkruste besteht tatsächlich aus rund einem Dutzend kontinentgroßen und auch kleineren Platten, die sich jährlich um einige Zentimeter gegeneinander verschieben und verdrehen. Das entspricht etwa der Geschwindigkeit, mit der unsere Fingernägel wachsen.

Die Platten werden in den rund 60 000 Kilometer langen Aufbruchszonen unter den Ozeanen neu gebildet und an den kontinentseitigen Stoßstellen wieder eingeschmolzen. Wo soviel in Bewegung ist, gibt es auf der anderen Seite auch Erdbebenherde und Vulkanismus; überdies ist die Plattentektonik der Motor der Gebirgsbildung.

Heute können die Erdwissenschaftler mit Satelliten oder Radioteleskopen direkt messen, wie sich die Kontinente verschieben. Erstaunlich ist, welcher Grad an Präzision dabei erreicht wird: Die Satellitengeodäsie ermöglicht Ortsbestimmungen auf wenige Zentimeter genau.

Ebenso präzise geht es mit der Radioastronomie, bei der riesige Teleskope die Funksignale weit entfernter Sterne oder von sogenannten Quasaren auffangen.

Wenn man die Laufzeitunterschiede der Signale zu verschiedenen Radioteleskopen mit Atomuhren mißt, auf Band registriert und später in einem Korrelationsrechner vergleicht, ergibt das Distanzmessungen über Kontinente hinweg, die praktisch auf den Zentimeter genau stimmen.

*Felix Weber ist freier Journalist in Zürich