Ein Urteil im Prodigy-Fall verunsichert die Internet-Gemeinde Online-Anbieter wollen sich nicht als Zensoren betaetigen

09.06.1995

MUENCHEN (ls) - Ein Richterspruch, wonach Online-Diensteanbieter Prodigy fuer den Inhalt der uebertragenen Botschaften mitverantwortlich ist, hat eine Diskussion wiederaufleben lassen. Internationale Netze passen in keinen bekannten Rechtsrahmen, die Verunsicherung der Anwender ist besonders in den USA gross.

Der New Yorker Richter Stuart Ain hatte ueber nicht mehr als die Zulassung einer Klage vor Gericht zu entscheiden. Das aber gelang ihm so trefflich, dass er Schockwellen durch die Online-Gemeinde sandte. Er befand, eine 200-Millionen-Dollar-Klage der Investmentbank Stratton Oakment Inc. gegen den Online-Netzanbieter Prodigy Services Co. sei zulaessig: Ein Anwender hatte im Prodigy- Netz ungehindert Verleumdungen verbreitet, obwohl der Diensteanbieter mit Sicherungsmassnahmen fuer ein "sauberes Netz" geworben hatte (vgl. CW Nr. 22 vom 2. Juni 1995, S. 2).

Richter Ain nahm ausdruecklich Bezug auf ein Urteil aus dem Jahr 1991, das Compuserve von der Verantwortung fuer den Inhalt der Nachrichten im Netz freigesprochen hatte. Compuserve habe lediglich das Transportmedium zur Verfuegung gestellt. Prodigy aber hatte - wohl hauptsaechlich um PR-traechtig dem Verdacht der Verbreitung von Pornographie entgegenzutreten - seine "content guideline" geruehmt, die computergestuetzt und von Mailbox- Operatoren ueberwacht wuerde. Inkriminierte Meldungen wuerden geloescht.

Die Mail mit dem Vorwurf eines Prodigy-Nutzers, die jetzt klagende Bank betreibe Kursbetrug, war jedoch nicht in diesem vermeintlichen Sicherheitsnetz haengengeblieben. Richter Ain urteilte nun, der Diensteanbieter habe eine Filterfunktion versprochen und sei damit vom rechtlichen Standpunkt her wie ein Verlag zu betrachten. "Prodigy hat sich als Online-Dienst mit redaktioneller Kontrolle der Inhalte von Nachrichten dargestellt", erklaerte Ain. Das Unternehmen habe sich dadurch "ausdruecklich mit einer Zeitung gleichgesetzt".

Ueberwachung der Netze ist undurchfuehrbar

Trotz der Unterscheidung zum Compuserve-Urteil reagieren Online- Anbieter hochsensibel auf den Richterspruch. "Das ist keine gute Nachricht fuer unsere Industrie", erklaert Ellen Kirsch, Vice President von America Online. Der Richter habe wohl keine Vorstellung von den physikalischen Grenzen der Kontrolle eines grossen Netzes. "Kein Online-Service kann in zumutbarer Weise eine Ueberwachung durchfuehren, wie es Verleger koennen." Im uebrigen gehe es um ein weltweites Netz.

"Wir brauchen globale Regel", meint Kirsch.

Achselzucken auch bei Compuserve. Doch Kent Stuckey, Director Product Marketing des Online-Dienstes, laesst Sorgen erkennen: "Das Urteil wird alle Anbieter von Online-Diensten beruehren, egal, ob es Bulletin Boards, kommerzielle Dienste oder Produktanbieter mit Internet-Diensten sind."

Andere sehen sogleich die Meinungsfreiheit in Gefahr und befuerchten Zensur. In den Online-Netzen laeuft derzeit eine heftige Diskussion. Ein haeufiger Einwand gegen die moeglichen Konsequenzen des Richterspruchs: Anders als bei Obszoenitaeten sei es unmoeglich, den - immerhin nur moeglicherweise - verleumdenden Inhalt einer Nachricht zu erkennen.

"Ich betrachte mich nicht verantwortlich, wenn ich derlei Dinge nicht loesche", kommentiert ein Netzadministrator in einem Compuserve-Forum die ihn "beunruhigende Entscheidung". Sein Nachsatz verraet Verunsicherung: "Dies ist keine Rechtsauskunft."

Prodigy wird Berufung gegen das New Yorker Urteil einreichen. Man betrachte sich nicht als Verlag, bekundet Prodigy-President Ed Bennett: "Wir sind ein Kanal fuer Meinungen und Informationen wie ein Buchladen oder eine Bibliothek. Prodigy schafft nicht den Inhalt der Bulletin Boards. Wir machen die Post der Mitglieder nicht druckfertig."