Ein R/3-Tester auf Pilgerfahrt

02.02.1996

von Juergen de Haas*

Was sind Testate fuer Standardsoftware wert? Kleine Zusaetze wie "... ermoeglicht bei sachgerechter Anwendung eine den Ordnungsmaessigkeitsgrundsaetzen entsprechende Buchfuehrung" bedeuten fuer ein parametrisierbares Software-Ungeheuer lediglich, dass die Version vor dem Customizing vielleicht diesen Anforderungen entspricht, aber danach?

Da vor Mitte 96 kein R/3-Pruefleitfaden vorliegen wird, pilgern wir gen Mekka, sprich Walldorf. Gebucht wird ein Revisionskurs FI-900. Unsere Erwartung: Die hoeheren Weihen durch Insider-Infos ueber Schwachstellen des R(iesen-Systems)/3.

Wenige Wochen spaeter ist die Audienz genehmigt, obwohl wir das System nicht vorher gekauft haben. Fehlende Informationen zu Hotels oder Anreisemoeglichkeiten nimmt man der Weltfirma nicht uebel - schliesslich hat der kleine Ursprungsort d e r Standardsoftware laengst weltweites Renommee. Als erfahrener Surfer auf der Datenautobahn hat man in Sekunden mit T-Online den exakten Reiseplan per Deutsche Bahn nach Walldorf erarbeitet, dem Ziel unserer Pilgerfahrt.

Der Ort entspricht denn auch den Erwartungen an eine Pilgerstaette. Er ist verschlafen und geradezu ideal fuer die Versenkung in Abap- Tiefen. Der indische Taxifahrer lacht froehlich, als er das Ziel erfaehrt: "Walldorf SAP? Das liegt 100 Kilometer von hier im Badischen. Fuer schlappe 230 Mark fahr' ich sie hin."

Selbstzweifel quaelen uns: Trotz Bahnvorschlag haette man doch wissen muessen, dass das R/3-Mekka nicht im schnoeden Hessen liegt. Darf so dumm sein, wer R/3 pruefen will? Der freundliche Taxifahrer spendet Trost. Er faehrt die Strecke oft. Ein Wermutstropfen: Andere verirrte Pilger wurden fuer ihren Irrtum nur mit 200 Mark zur Kasse gebeten.

Nach 45 Taximinuten, endlich: Mekka. Weitgestreckt kontemplationsfoerderndes Gruen, darin ein riesiger Tempel, wir sind da! Trotz missbilligenden Blicks des Referenten holt sich der (vom Leben fuer heute genug bestrafte) Zuspaetgekommene Kursunterlagen. Das beliebte Ritual, sich und seine Erwartungen vorzustellen, laeuft noch. Jemand beschwert sich ueber den Referenten-Hinweis, ein "technischer" Kurs fuer DV-Revisoren werde erst 1996 stattfinden, sprich: die hoeheren R/3-Weihen bleiben uns versagt.

Wofuer ist man dann gekommen? Wo stand denn das in den Unterlagen? Ruhe, es geht los. Es folgen unverzichtbare Informationen fuer kuenftige Pruefer der Standardsoftware: Das Pulldown-Menue heisst in Walldorf Rollo. Man traktiert (das fast immer verfuegbare) R/3. Die variantenreiche Oberflaeche, mal mit, mal ohne Listbox, oft auch mit mehr oder minder verstaendlicher Fehlermeldung, kehrt das Verhaeltnis zwischen Quaeler und Gequaeltem bald um. Aber das soll mit Version 3.0 alles besser werden. Nur nicht an Quicken denken, das ist heute schon fuer unter 100 Mark erhaeltlich.

Zweifel ueberfallen den Pruefer, als er fuer Kanada problemlos Deutsche Mark als Landeswaehrung einrichten darf. Der Glaubensstaerke wenig foerderlich ist auch, dass das selbstgestrickte Abap durch einfaches Down- und Upload derart mutiert, dass sich numerische Felder verhundertfachen. Selbst der orthodox- fundamentalistisch auftretende Referent muss nach einiger Zeit von seiner Litanei "Bedienerfehler" Abstand nehmen und zuletzt einen Softwarefehler einraeumen. Doch im weiteren wird die unangenehme Erkenntnis wieder erfolgreich verdraengt.

Am naechsten Morgen warnt ein Aushang im Kursraum: Vor dem Schulungszentrum versuchen Agenten einer der Scientology-Sekte zugerechneten Firma, Teilnehmer in kostspielige Seminare zu locken. Das gibt zu denken. Warum lauern die Agenten gerade hier? Sind R/3-Kursteilnehmer leichte Beute? Schwaecht fundamentalistischer Glaube doch die Widerstandskraft? Fragen ueber Fragen!

Ende des Initiationsritus: Der Shuttlebus zum Hotel rauscht vollbesetzt ab. Der Rest der SAP-Juenger wird nach 20 Minuten Wartezeit bei 0iC in den Ort transportiert. Auf dem Weg herrscht Rush-hour fast wie am Mittleren Ring in Muenchen. Im brechend vollen Bus sinniert einer ueber Kamele, auf denen hier alle wieder reiten werden, wenn erst das Oel alle ist.

Bei der Rueckreise gibt sich der "richtige" Bahnhof Wiesloch/Walldorf zugeknoepft: Kein Fahrkartenverkauf nach 17 Uhr! Der Aushang raet, sich die teuerste Automatenfahrkarte zu ziehen und sie im Zug beim Schaffner zu verrechnen. Mit R/3- Unterstuetzung!?

Im Zug noch ein Alptraum: Alte, verschlungene Assembler-Routinen, die aus Graebern auferstehen und als bleiche Zombies im Gewand modernster Standardsoftware in wehrlose Unternehmen eindringen . . .

*Juergen de Haas ist Geschaeftsfuehrer der Kontext Beratungs- und Pruefungsgesellschaft fuer EDV-Systeme mbH, Anzing bei Muenchen.