Ein neuer Typ von Ingenieur

28.05.1982

Wenn ich mit der Feststellung beginne, daß Wes den Telekommunikations-Ingenieur offiziell gar nicht gibt, weil weder ein fest definiertes Berufsbild noch eine allgemein anerkannte Berufsbezeichnung existieren, so sollte daraus jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß meine Ausführungen an dieser Stelle bereits wieder zu Ende seien. Ganz im Gegenteil und gerade deshalb halte ich es für außerordentlich wichtig und dringend, daß wir uns nicht nur über den technologischen Wandel und seine Auswirkungen auf unsere Gesellschaft Gedanken machen, sondern auch die damit verbundenen Anforderungen an unsere Ingenieure der Nachrichtentechnik überdenken und neu formulieren. Tatsächlich bildet sich mit dem technologischen Wandel in der Nachrichtentechnik ein neuer Typ Ingenieur im weiten Feld seiner Disziplin heraus. Es liegt nahe, ihn entsprechend seinem Tätigkeitsfeld Telekommnikations- oder einfacher Telecom-Ingenieur zu nennen.

Der Telecom-Ingenieur in der Gesellschaft

Das Berufsbild des Telecom-Ingenieurs wird zunehmend auch durch gesellschaftliche und ethische Problemstellungen geprägt. Die vielen neuen kommunikationstechnischen Systeme und Dienste sensibilisieren die Öffentlichkeit heute stärker für die Arbeit des Ingenieurs. Zu Recht, wie ich meine, denn die neuen Technologien haben in der Tat weitreichende Auswirkungen auf unser Zusammenleben. Seine früher rein technisch ausgelegte Verantwortung muß der, Telecom-Ingenieur heute im Grundsatz um gesellschaftliche und auch gesellschaftsverändernde Aufgaben erweitern.

Damit verbunden ist ein neues Selbstverständnis. Er darf sich nicht verstehen als passiver Entwickler vornehmlich einzelner Produkte nach vorgegebenen Aufgabenkategorien, sondern er muß sich in erster Linie begreifen als

- aktiver Gestalter einer neuen, kommunikationsorientierten Welt und als

- schöpferischer, innovativer Gestalter von Systemen und Diensten, die aus der Integration von Sprache, Text und Daten und deren vielfältigen Produktspektren entstehen.

Die Telekommunikation besitzt ein erhebliches Wachstums- und Innovationspotential, das der Telecom-Ingenieur zur Verbesserung gesellschaftlichen und sozialen Lebens nutzen muß, mit dem er sogar gesellschaftliche Entwicklungen induzieren kann. Mit diesem neuen Rollenverständnis ist eine hohe Verantwortung, aber auch eine, Aufwertung des gesamten Berufsbildes verbunden.

Allerdings glaube ich, daß dieses Berufsbild einer größeren Akzeptanz in unserer Bevölkerung bedarf, und dies setzt voraus, daß wir eine positive, bejahende Einstellung zur Technik und zum technischen Fortschritt zurückgewinnen. Technik muß sachlich in ihren Risiken, aber auch in ihren enormen Chancen und Vorteilen, wie sie gerade in der Telekommunikation vorhanden sind, erörtert werden. In Abwandlung eines bekannten Zitats könnte man auch sagen: Es sollte nicht der technische Fortschritt sein, der uns bange macht, sondern bisweilen eher unser menschlicher Stillstand.

Wir müssen insbesondere der jungen Generation glaubhaft machen, daß sich technischer Fortschritt in Verantwortung für die Gestaltung sozialer und humanitärer Entwicklung vollzieht. Daran werden die Telecom-Ingenieure in Zukunft einen größeren und wichtigen Anteil haben.

Konsequenzen für die Bildungspolitik

Die Telekommunikation bietet unseren Ingenieuren ein attraktives Berufsfeld mit hoher Eigenverantwortlichkeit, Verantwortung für ihre Mitmenschen und weitgehend selbständiger Arbeitsweise. Junge Menschen werden diese Verantwortung aber nur dann erfolgreich übernehmen können, wenn sie in ihrer Ausbildung gezielt darauf vorbereitet werden. Gerade in der Ingenieur-Ausbildung mußte die Industrie in den letzten Jahren jedoch immer wieder auf teilweise erhebliche Qualifikationsdefizite hinweisen, die auch mit großen Anstrengungen in der betriebsinternen Aus- und Weiterbildung nur unzureichend aufgefangen werden können. Ich halte es deshalb für außerordentlich wichtig, daß die neuen Aufgabenfelder eine stärkere Resonanz in unserem Bildungssystem finden.

Folgende Grundanforderungen sollten an die Ausbildung des Telecom-Ingenieurs gestellt werden:

- Die Vielfalt der Aufgaben verbietet eine Geichsetzung von Studieninhalt und Berufsanforderung. Anzustreben ist, deshalb eine Verbesserung des Grundlagenstudiums,

- Hauptaufgabe muß die Vermittlung spezifischer Telecom-Qualifikationen sein. Darüber hinaus ist aber ein höherer Anteil berufsübergreifender, nicht-technischer Fächer wünschenswert.

- Viele Ingenieure mit Berufserfahrung plädieren für eine Intensivierung des Praxisbezugs, zum Beispiel durch eine entsprechende, Einbindung von Industriepraktika in die Ausbildung.

- Um das Berufsbild zu fördern müssen auch die Gymnasien ein stärkeres Gewicht auf technisch-naturwissenschaftliche Lehrinhalte legen, und zwar in der Form, daß in der Oberstufe ein Minimum an naturwissenschaftlichen Fächern nicht abwählbar ist. Ansätze dazu sind in verschiedenen Bundesländern bereits vorhanden.

Wenn wir in unserer Gesellschaft, die ihren Wohlstand weitgehend auf einer leistungsfähigen Technik aufbaut, die Vermittlung und Förderung technischen Wissens hintanstellen, so sehe ich darin einen unvertretbaren Widerspruch. Die Beseitigung dieses Widerspruchs scheint mir eine der wesentlichsten Voraussetzungen dafür zu sein, daß wir die Aufgaben, die uns die Telekommunikation in den nächsten Jahrzehnten stellt, mit Erfolg bewältigen.

Ich möchte mit einem Wort von Manfred Rommel aus seinem Buch Abschied vom Schlaraffenland schließen: "Der Mensch steht nicht vor der Wahl, von immer weniger immer mehr zu wissen oder von immer mehr immer weniger zu wissen, also einem Generalisten- oder Spezialistentum zu huldigen, das zum Grenzwert Null tendiert, was den Bildungsgehalt anbelangt, sondern die Wahrheit liegt - wie die Menschheit seit Aristoteles weiß - in der Mitte ."

Ausschnitte (Anfang und Ende) aus einem Vortrag, den der Vorstandsvorsitzende der Standard Elektrik Lorenz AG anläßlich des Kongresses "Telekommunikation als Berufschance" in München gehalten hat. Ausgerichtet wurde die Veranstaltung am 27. April von der überregionalen Vereinigung für Kommunikationsforschung "Münchner Kreis" (siehe CW Nr. 18/82 Seite 4).