EWE, Oldenburg, organisiert sich schrittweise um

Ein Energieversorger auf dem Weg zur dezentralen DV

29.06.1990

Noch stehen in der Hauptverwaltung der EWE Energieversorgung Weser-Ems zwei IBM-Rechner, die die Kunden- und die technischen Daten verwalten. Die Ära der Hosts nähert sich jedoch ihrem Ende. Mit Anwendungen, die sich leicht von dem zentralen Host auf Unix-Anlagen portieren lassen, beschreitet das Unternehmen den Weg zur dezentralen DV.

Die EWE Energieversorgung Weser-Ems AG in Oldenburg versorgt etwa 565 000 Kunden mit Strom und Erdgas. Das Unternehmen betreibt keine eigenen Kraftwerke, sondern fungiert als Verteiler. Den Dreh- und Angelpunkt in der DV des Energieverteilers bildet daher die Verkaufsabrechnung, die den dezentralen Betriebsabteilungen der EWE obliegt.

870 000 Strom- und Gaszähler im Einsatz

Die neun Betriebsabteilungen der EWE sind über das Versorgungsgebiet verteilt. Zu jeder Abteilung gehören vier bis sechs Bezirksmeistereien. In jeder Abteilung einschließlich der Bezirksmeistereien arbeiten zwischen 80 und 140 und in der Hauptverwaltung in Oldenburg zusätzlich rund 400 Mitarbeiter. Bei den Kunden messen rund 870 000 Strom- und Gaszähler den Verbrauch. Insgesamt nahmen 1988 die Haushalte und Betriebe des Versorgungsgebietes 5377 Millionen kWh Strom und 20 924 Millionen kWh Gas ab. Der Anteil des Erdgases am Energieaufkommen lag mit 68 Prozent weit über dem Bundesdurchschnitt von 28 Prozent.

Struktur entspricht noch nicht der Organisation

Da die Region mit 128 Einwohnern je Quadratkilometer in Vergleich zum Bundesdurchschnitt mit 245 Einwohnern je Quadratkilometer relativ dünn besiedelt ist, muß die EWE wesentlich mehr Meter an Gas- und Stromleitungen als andere Energieversorger verlegen und instandhalten. Da auch die ostfriesischen Inseln zu dem Versorgungsgebiet gehören, von denen jede über drei 20-kV-Seekabel an die Stromversorgung des Festlandes angeschlossen ist, darf der Aufwand für die Instandhaltung der Kabel nicht unterschätzt werden. Die Sanierung des Leitungsnetzes, die Vorbeugung von Störfällen, Reparaturen und der Bau von Anschlußleitungen fällt in den Kompetenzbereich der einzelnen Abteilungen. So wurden 1988 etwa 262 Millionen Mark in technische Anlagen investiert.

Gegenwärtig entspricht die DV-Struktur aber noch nicht der dezentralen Organisation des Unternehmens. Zwei Rechner des Typs IBM 4381-R14 beziehungsweise IBM/38 in der Hauptverwaltung speichern sämtliche Daten des Unternehmens. Die Betriebsabteilungen sind über Standleitungen an die Hosts angeschlossen. In jeder Abteilung stehen zwischen 25 und 35 Terminals. Insgesamt besitzt die EWE 400 Terminals und 75 Terminaldrucker. Die Verkaufsabrechnung erfolgt mit der Anwendung VKIS, die von der EWE selbst entwickelt wurde. VKIS arbeitet unter dem Betriebssystem VSE auf der IBM 4381-R14. Auf demselben Rechner laufen auch die SAP-Produkte RF, RK und RA für die Finanzbuchhaltung, die Kosten und die Auftragsabrechnung und für die Anlagenbuchhaltung. Das Personalwesen wird mit Paisy verwaltet. Auf dem zweiten Rechner (IBM/38) laufen die Anwendungen Materialwirtschaft DIA-MAT und Einkauf DIA-EK, die jedoch später durch weitere SAP-Produkte abgelöst werden sollen. Für die vorgenannten Anwendungen wird noch kein Datenbanksystem eingesetzt.

Entscheidung gegen die IBM-Systeme

Der Energieversorger muß sich jederzeit über den Zustand der Verteilerstationen und der Leitungen informieren können. Er braucht eine allumfassende Dokumentation über seine technischen Einrichtungen, um seine Instandhaltungsaufgabe erfüllen zu können. Wenn beispielsweise ein Störfall eintritt, muß die technische Mannschaft wissen, welche Ersatzteile mitzunehmen sind. Wenn sich etwa ein Betriebsmittel eines Herstellers als besonders störanfällig erweist, muß man schnell feststellen können, wo Betriebsmittel dieser Art verlegt wurden, und was es kostet, sie zu ersetzen. Die EWE wollte die Daten über ihre technischen Anlagen mit einem Datenbanksystem verwalten, das in der Datenauswertung flexibel ist. Die Planer können heute oft noch nicht wissen, welche Fragen in der Zukunft auftauchen. Trotz vorhandener IBM-Hardware entschied sich die EWE bereits 1987 aus strategischen Gründen für das Datenbanksystem Oracle.

Hans Peter Schmidt, DV-Leiter der EWE, stand vor den bei den Alternativen entweder weiter in das zentrale System zu investieren oder mittelfristig ein dezentrales Rechnerkonzept mit einem Netzwerk und Unix-Servern zu verwirklichen. Die dezentrale Organisation des Unternehmens sprach für das dezentrale Rechnerkonzept. Außerdem bestand der Wunsch, die enge DV-Bindung an die IBM zu lockern. Auch die Datenbanksysteme, die die IBM anbot, entsprachen nicht den Vorstellungen des DV-Leiters. Unter den bei der EWE installierten Betriebssystemen VM und VSE läuft nur das relationale IBM-Datenbanksystem SQL/DS. IBMs DB2 steht dagegen jedoch nur für das Betriebssystem MVS zur Verfügung und hätte eine entsprechende Migration von VSE zu MVS erfordert. Aber SQL-DS genügte den Anforderungen des DV-Leiters Schmidt nicht. Die Unzureichenden Entwicklungswerkzeuge von SQL-DS waren ausschlaggebend: "Die Entwicklungswerkzeuge der IBM sind mit denen der Mitbewerber nicht zu vergleichen." Nachdem die Entscheidung gegen IBM-Systeme und für ein zukünftiges dezentrales Konzept gefallen war, mußte Schmidt ein relationales Datenbanksystem für Unix-Anlagen auswählen.

Die Offenheit des Datenbanksystems stellte für Schmidt die oberste Priorität dar: "Das Datenbanksystem sollte auf einer breiten Palette von Hardware-Plattformen lauffähig sein. Für eine Übergangszeit von mehreren Jahren mußte es auch IBM kompatibel sein."

Außerdem wollte Schmidt im Entscheidungsjahr 1987 sicher gehen, daß das Unternehmen, dessen Datenbanksystem erkauft, auch in den nächsten Jahren noch existiert. Er verglich mehrere Produkte hinsichtlich der Portabilität der mit ihnen erstellten Anwendungen. Zusätzlich schätzte er die finanzielle Lage der in Frage kommenden Datenbank-Hersteller ab. Die Entscheidung fiel schließlich für Oracle. Die Anwendungen, die inzwischen mit Oracle unter VM-HPO entwickelt wurden, sollen als erste auf Unix-Anlagen in den Betriebsabteilungen portiert werden. Wegen diverser anderer Aufgaben kann dieser Schritt jedoch erst in zwei bis drei Jahren begonnen werden.

Oracle ist nur der erste Schritt

Um die technischen Daten über Verteilerstationen und Leitungen auswerten zu können, schuf sich das DV-Team bis Mitte 1988 erst einmal mit SQL-Forms die Infrastruktur, um ihre Anwendungen effizient entwickeln zu können. Sie legten die Menütechnik fest, programmierten die Funktionstasten, regelten den Zugriffsschutz auf Transaktionsebene und bauten vier Standard-Rahmenprogramme zur Bildschirmausgabe auf. Im Normalfall sieht der Anwender genau einen Datensatz auf dem Bildschirm (Single Record Form). Der zweite Fall berücksichtigt Masken, in denen mehrere Sätze auf den Bildschirm (Multi Record Form) ausgegeben und verwaltet werden. Mit dem dritten Rahmenprogramm lassen sich Hintergrundbildschirme erzeugen. Sie zeigen beispielsweise welche Bezeichnungen sich hinter einem Code verbergen. Die vierte Variante bilden Sucht Bildschirme (ebenfalls Multi Record Form), in die man Suchbedingungen eintragen und dann für den ausgewählten Satz zur direkten Verarbeitungstransaktion verzweigen kann. Mit dieser Entwicklungsumgebung können die Programmierer der EWE nun schneller Anwendungen schreiben, da sie für eine neue Applikation nur den variablen Anwendungsteil ändern müssen.

Nachdem die Infrastruktur für Oracle-Anwendungen aufgebaut war, hat das DV-Team vom Sommer 1988 bis zum Frühjahr 1989 EBIS (Elektrisches Betriebsmittel-Informationssystem) entwickelt. Mit EBIS werden die Daten über Verteilerstationen und Stromleitungen wie beispielsweise Art, Typ, Hersteller, Verlege- oder Prüfjahr, verwaltet und vor allem auch ausgewertet. Hauptsächlich das technische Personal nutzt EBIS. Rund 300 Anwender sind berechtigt, mit EBIS zu arbeiten. Täglich führen etwa zehn Prozent der berechtigten Benutzer rund 20 000 bis 30 000 Transaktionen durch. Die Statistik der Zugriffe weist allerdings eine steigende Tendenz auf. EBIS basiert auf 18 Haupttabellen und etwa 30 Schlüsseltabellen mit insgesamt 929 Datenattributen. Die Größe der Tabellen liegt zwischen 11 000 und 45 000 Zeilen. Zur Anwendung gehören 72 Bildschirmmasken.

Abrechnung erfolgt mit dezentralen Unix-Rechnern

Im Herbst 1989 folgte GBIS (Gas-Betriebsmittel-Informationssystem), mit dein Daten über Gasverteilerstationen verwaltet werden. GBIS basiert auf zwölf Haupttabellen und zehn Schlüsseltabellen mit insgesamt 700 Datenattributen. Die Größe der Tabellen liegt zwischen 1600 und 4000 Zeilen. Zur GBIS gehören 53 Bildschirmmasken.

Die beiden Oracle-Anwendungen sollen bis 1992/93 als erste auf dezentrale Unix-Anlagen in den Betriebsabteilungen übertragen werden. Bis in die Mitte der 90er Jahre sollen weitere Anwendungen vom Host auf Unix-Anlagen verlegt werden. Die Gemeinschaftsentwicklung RIVA (Realtime Informations- und Verbrauchsabrechnungssystem für Versorgungsunternehmen) soll die Verkaufsabrechnung VKIS ablösen. Diese Entwicklungsgemeinschaft, die aus dem Softwarehaus SAP, der Andersen Consulting und 18 Energieversorgungsunternehmen besteht, arbeitet derzeit an RIVA.

Die Einführung von RIVA bei der EWE wird voraussichtlich in den Jahren 1992/93 erfolgen. Später soll dann auch die Verbrauchsabrechnung mit dezentralen Unix-Rechnern durchgeführt werden.

* Silvia Parthier arbeitet als freie Journalistin und DV-Beraterin in Eichenau bei München.