Egoismus - unsere Stärke gegenüber den Japanern

10.04.1992

Peter Molzberger Professor an der Fakultät für Informatik, Universität der Bundeswehr München

Egoismus - unsere Stärke gegenüber den Japanern. Nein, das ist kein Druckfehler! Ich weiß, wenn ich Schwäche geschrieben hätte, so wäre das für uns alle einsichtiger, liegt doch die Stärke der Japaner in ihrer Gemeinschaftsbezogenheit. Sie stellen ihre Einzelinteressen, ihr Ego, zugunsten kollektiver Interessen zurück, sei es als Mitarbeiter zugunsten ihres Unternehmens, sei es als Unternehmen zugunsten der berühmten Japan incorporated. Wir, die rückständigen Westler, Amerikaner eingeschlossen, zerfleischen uns hingegen in internen Grabenkämpfen und zelebrieren unsere Egozentrik. Soweit der Abriß eines Denkens, das zur Zeit bei uns Mode ist und mit dem wir uns so schön bemitleiden.

Ich gebe zu, daß ich Sie mit dieser Aussage provozieren will, allerdings im guten Sinne. Mit jammern und Wehklagen ist Deutschlands und Europas technologische Zukunft nicht zu retten und auch nicht damit, daß wir hypnotisiert wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Wir sollten gründlich umdenken und müssen uns unserer Stärken bewußt werden. Paradoxerweise liegt die Stärke westlicher Kulturnationen gerade in den Eigenschaften, die wir heute so gern als Schwächen beklagen. Nach dem Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung treten sie uns dann allerdings auch tatsächlich als Schwächen gegenüber.

Es ist mein völliger Ernst, daß ich unseren ausgeprägten Individualismus als größte Stärke, ja, als den wesentlichen geistigen Entwicklungsschritt unseres westlichen Denkens ansehe. Herdentrieb ist entwicklungsgeschichtlich nichts Neues. Im Laufe der Jahrhunderte haben wir uns im westlichen Kulturkreis jedoch immer stärker als Individuen begriffen.

Zwar bezeichnete Gerald Weinberg vor 20 Jahren seine hochleistungsfähigen Software-Teams mit dem Begriff egoless, aber genau das Gegenteil ist richtig: Ein Team arbeitet dann synergetisch, mit höchster Effizienz, wenn die Teilnehmer ein hohes Maß an Autonomie, Vertrauen in sich selbst, also Ich-Stärke, aufweisen. Nur dann nämlich kann jeder die anderen neben sich gelten lassen.

Menschen mit empfindlichem, mit schwachem Ego, müssen immer wieder ihre Bedeutung vor sich selbst und anderen beweisen, ihre Schwachpunkte sorgsam verstecken, ihr ach so kostbares Wissen wie einen Goldschatz für sich behalten. Sie freuen sich im Grunde, wenn die anderen noch schwächer sind als sie selbst und werden sich daher - unterbewußt - hüten, ihre Kollegen allzu wirkungsvoll zu unterstützen. Menschen mit hohem Selbstwertgefühl, starke Persönlichkeiten, interessieren sich hingegen nicht für das kleinliche Ränkespiel, sondern stellen sich den sachlichen Herausforderungen ihres Berufs. Das macht sie erfolgreich.

"Was hat das alles mit Japan zu tun?" werden Sie fragen, "Wir sind es doch, die sich streiten, nicht die Japaner." Richtig! Noch haben wir zum großen Teil die letzte Entwicklungsphase unseres Individualismus nicht abgeschlossen. Wir sind wie Kinder im Trotzalter oder jugendliche in der Pubertät, die ihre Selbständigkeit erproben. Natürlich schießen wir dabei manchmal weit über das Ziel hinaus, und das Zwischenprodukt, unangenehme Egozentrik, scheint wenig mit dem Ziel, der ausgereiften autonomen Persönlichkeit, gemein zu haben. Bei Kindern ist das ganz ähnlich. Gott sei Dank haben wir heute begriffen, daß das für die Eltern so unangenehme Trotzverhalten keine angebotene notwendige Abnabelungsphase auf dem Weg zur Eigenständigkeit. Das Kind vollzieht damit Schritte in der Entwicklung seines Ichs, die wir als Menschheit seit Tausenden von Jahren durchlaufen.

Die Japaner sind meiner Auffassung nach noch nicht in dieser Phase. Sie hatten bisher noch keine Gelegenheit, die höchste Stufe des Individualismus auszuleben - wahrlich kein Grund, uns minderwertig zu fühlen.

Wie wird es weitergehen? Nach meiner Beobachtung sind wir in den westlichen Industrienationen gerade dabei, die letzte turbulente Phase unserer Ich-Entwicklung abzuschließen. In unseren Organisationen tritt immer häufiger ein Phänomen auf, das ich synergetische Zusammenarbeit nenne. Es entstehen Teams von Leuten, die sich freiwillig vollständig auf ein gemeinsames Ziel konzentrieren. Es entfaltet sich eine enorme Kreativität und Produktivität. Die Arbeit macht allen Freude und geht leicht, fast spielerisch, von der Hand. Frustrationen verschwinden, auch die Anzahl der Krankmeldungen reduziert sich. Die Teammitglieder haben nicht mehr das Bedürfnis, endlos über all die schrecklichen Umstände, wie das schlechte Essen und die unfähige Geschäftsleitung zu lamentieren.

An die Stelle der kleinen und großen Mauern, die wir zwischen uns zu errichten pflegten, tritt der Wille, sich gegenseitig zu unterstützen und zu ermutigen. Fähigkeiten und Kenntnisse, die einer ins Team einbringt, stehen allen zur Verfügung und werden, wenn notwendig, extrem schnell weitergegeben. Jedes Teammitglied bringt seine spezifischen Qualitäten mit.

Das vereinfacht das Management. Die Führungsfunktion wird, unabhängig von der Existenz einer formellen Hierarchie, als gleichberechtigt neben anderen Funktionen empfunden: Führen ist genauso wichtig wie Programmieren oder Sekretariatsarbeiten. Jeder fühlt sich in gleichem Maße wertvoll und verantwortlich für das Ziel, das Projekt, das Unternehmen.

Die Führungsrolle ist deshalb trotz rapide anwachsender Komplexität der Aufgaben so viel leichter, weil sich der Manager auf seine fachkompetenten Mitarbeiter verlassen kann: Er läßt sich von seinen Geführten dabei führen, das Team zu führen. Das Kontrollieren ändert seinen Charakter, indem es im vollen Einvernehmen mit den zu Kontrollierenden stattfindet. Fehler und Schwächen werden nicht mehr vertuscht, denn das würde der gemeinsamen Sache schaden.

Die Einzelinteressen und die Interessen des Teams rivalisieren plötzlich nicht mehr. Individualität und Gemeinschaftsgeist stören sich auf unerklärliche Weise nicht mehr, sondern unterstützen sich gegenseitig.

Die erste, noch etwas frühreife Explosion an Kreativität und Produktivität auf der Basis synergetischer Zusammenarbeit ist unter dem Namen Silicon Valley bekanntgeworden. Es gab dort damals genügend Arbeit, so daß die Leute sich frei fühlten, an dem Projekt mitzuarbeiten, das sie am meisten faszinierte. Die üblichen hemmenden Regularien der Firmenkultur beispielsweise Arbeitszeitregelungen waren außer Kraft gesetzt. Was herauskam, war zwar so chaotisch wie eine lebende Zelle, aber auch genauso effizient.

Ich stelle fest, daß heute die synergetische Zusammenarbeit zunehmend auf uns zukommt, zunächst in kleinen Teams direkt in der Nähe der Sacharbeit (SW-Entwicklung), vermehrt aber auch in Führungsteams, zum Beispiel in Softwarehäusern. Je monolithischer eine Organisation, desto langsamer bewegt sie sich bekanntlich. Die Industrie kommt dem neuen Trend entgegen, mit Profit-Centers und Spinoffs. Selbst bei der IBM zerbrechen die alten Strukturen, weil sie zu ineffizient werden.

Ich bin sicher, daß ein Großteil der Menschen hier zu einer neuen Form der Zusammenarbeit bereit sind, mit mehr Vertrauen, mehr Menschlichkeit und mehr Freude. Ich warte gespannt auf den Augenblick, in dem es uns zum ersten Mal gelingt, mittels eines einzigen Synergie-Seminars mit einem Führungsteam eine Kettenreaktion auszulösen, die ein größeres Unternehmen von Grund auf umwandelt. Mißtrauen ist bekanntlich ansteckend, aber Vertrauen ist es, Gott sei Dank, auch!

So, wie sich die Sache in den fünf Jahren, in denen ich mit synergetischen Teams experimentiere, entwickelt hat, bin ich sehr optimistisch, daß wir uns kurz vor diesem Umbruch befinden. Synergetische Zusammenarbeit ist für mich die stärkste Form der Mobilisierung unserer Human Resources und wird sehr bald zum Wettbewerbsfaktor Nummer eins werden. Synergetische Teams sind weitaus leistungsfähiger als herkömmliche Gruppierungen, in denen sich der einzelne unterordnen muß und seine Einzigartigkeit nicht entfalten darf. Die Japaner werden das zu spüren bekommen, denn um selbst dorthin zu gelangen, müssen sie zunächst einmal die unangenehme und energiezehrende Individualisierungsphase durchlaufen, die wir jetzt langsam hinter uns bringen.