Die IT-Branche steht unter Dauerfeuer: Wie kaum eine zweite Disziplin ist sie davon betroffen, sich anzupassen, zu erneuern und Antworten auf nicht gekannte Fragen zu finden. Dabei schält sich als eines der Handlungsfelder die Zerreißprobe heraus, die aus dem gleichzeitigen Bedienen von widersprüchlichen Anforderungen besteht.
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Auf der einen Seite finden sich das Streben nach Effizienz, Stabilität, Qualität, die Einhaltung von Service-Level-Agreements, das Management von Bestands- beziehungsweise Legacy-Systemen und die Absicherung etablierter, standardisierter Prozesse, die klaren Anforderungen genügen müssen. Auf der anderen Seiten sehen wir uns mit der fortschreitenden Digitalisierung konfrontiert, die unser Wirtschaftsgeschehen immer stärker beeinflusst. Mit ihr wächst das Streben nach Innovation, agilem Vorgehen und immer kürzeren Entwicklungszyklen (time 2 market), in denen eine IT-Dienstleistung am Markt erscheinen und sich bewähren muss.
Steuerung und/oder Selbstorganisation?
Neben diesen Anforderungen haben sich auch neue Arbeitsformen in den IT-Bereiche durchgesetzt. Das traditionelle Paradigma von Kontrolle/Steuerung anhand zentraler KPIs stellt sich als widersprüchlich zu eigenverantwortlichem Arbeiten, verteilter Führung und der Berücksichtigung individueller Personen und deren Entwicklungszielen dar. In dieser Gemengelage Struktur, Sortierung sowie Orientierung und damit Handlungsfähigkeit zu gewinnen, wird zunehmend zum neuen Arbeitsfeld für IT-Führungskräfte.
Die beste Möglichkeit, diese Widersprüchlichkeit zu managen, bietet die organisationale Ambidextrie. Mit Ambidextrie ist ausdrücklich der Widerspruch aus dem Erhalten und Optimieren bewährter Dinge einerseits und der Erforschung neuer Wege - also Innovation - andererseits gemeint. Obwohl beide Ziele für Unternehmen wichtig und relevant sind, bleiben in ihren Konsequenzen, Grundannahmen und Werkzeugen doch konträr.
Ambidextrie bedeutet wörtlich "Beidhändigkeit" und bezieht sich eigentlich auf Personen, die mit beiden Händen annähernd gleich gut schreiben können. Übertragen auf Organisationen heißt dies, dass Unternehmen sich für stabile, verlässliche Prozesse und gleichzeitig die Auflösung und Disruption vorhandener Strukturen engagieren müssen. Es ist offensichtlich: Beides geht nicht einfach so, der Widerspruch muss aufgelöst werden. Nur wie?
Mit der richtigen Hand anpacken
Wie beim Schreiben kann man zwar als Rechtshänder mit der linken Hand ein längeres Stück Text abschreiben. Es gibt dabei aber verschiedene Probleme: Das Schriftbild sieht schief und verwackelt aus (Qualitätsproblem), man braucht entschieden länger (Quantitätsproblem) und außerdem verkrampft die Hand beim Schreiben, man ermüdet leichter und ist schließlich mit dem Verhältnis zwischen hohem Aufwand und schlechtem Ergebnis unzufrieden. Die Lösung muss also sein, die entsprechenden Arbeiten, Projekte und Aufgaben bewusst und transparent mit der "richtigen Hand" anzupacken.
Ambidextrie kann man sich mit dem Prinzip der bimodalen IT vergegenwärtigen, die schon länger genau diesen Widerspruch aufzulösen versucht: Auch hier wird das große Spielfeld der IT in jene Bereiche eingeteilt, wo stabile und an Standards orientierte Prozesse für Zuverlässigkeit sorgen. Solche Projekte haben oft einen längeren Planungshorizont und die Ergebnisse sollen längerfristiger eine stabile Basis liefern. Dem gegenüber stehen jene Bereiche, in denen kurzfristig, spontan und meist durch Versuche mit Prototypen grob in eine Richtung entwickelt wird.
Explore und Exploit harmonisieren
Die beiden Spielfelder unterscheiden sich dadurch, dass beim ersten das Problem oft klar ist, die Werkzeuge vorhanden oder zumindest bekannt und das Ziel meistens gut beschreibbar ist. Hier geht es darum zu optimieren. Die Anhänger der Ambidextrie sprechen von "Exploit". Im zweiten Fall ist oft nur klar, dass es ein Problem gibt. Das Ziel ist nur teilweise oder mit wenigen Eigenschaften bekannt, der Weg dahin kann verschieden sein und auch die Werkzeuge sind nicht vorhanden oder müssen sogar erst geschaffen werden. Dieser Bereich wird mit dem Begriff "Explore" beschrieben.
Zwischen beiden Vorgehensweise ist nicht zuletzt auf Basis der Debatte um die Agilität ein Grabenkampf eröffnet worden, der den Eindruck erweckt, nur eine der beiden Vorgehensweisen sei richtig. Die Ambidextrie positioniert sich hierzu klar und beschreibt, wie wichtig beide Prinzipien für gelingendes Arbeiten sind. Es kommt nicht darauf an, sich für eines der beiden zu entscheiden, sondern beide je nach Bedarf einzusetzen und zu steuern. Führungskräften kommt, wie so oft, im ganzen Geschehen eine Schlüsselrolle zu. Sie sind diejenigen, die im Bedarfsfall den Überblick über Aufgaben, Ziele und einzuhaltende Vorgaben haben. Auf dieser Grundlage können sie eine gezielte Steuerung von Ressourcen vornehmen.
- 9 Gründe, weshalb agile Unternehmen ihr Business und Krisen besser meistern
Agile Methoden haben in vielen Unternehmen zwar schon Einzug gehalten, meist aber nur in Einzelbereichen wie zum Beispiel der IT. Eine Studie der Technologieberatung BearingPoint zeigt jedoch, dass Unternehmen mit einer durchgängig agilen Organisation sowie in der Unternehmenskultur verankertem agilen Mindset den Alltag und Krisen schneller und besser meistern. Gute Gründe für mehr Agilität. - Vereinfachte Prozesse
Agile Organisationen zeichnen sich durch hohe End-to-End-Prozessverantwortung, schlanke Prozesse, hohe Prozessautomatisierung und -standardisierung aus. Je leichtgewichtiger und standardisierter Prozesse sind, umso kosteneffizienter können Organisationen agieren. - Vereinfachte Steuerungslogik
Organisationen, die in Abhängigkeit von Prioritätsänderungen flexibler steuern können, sind in Krisenzeiten besser in der Lage, schnell auf geänderte Parameter zu reagieren. - Vereinfachte Organisationsstruktur
Agile Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass anhand der Wertschöpfungskette durchgängig verantwortliche, autonome und cross-funktionale Teams aufgebaut und Abteilungsgrenzen aufgelöst werden. In Krisenzeiten profitieren agile Organisationen durch bessere Zusammenarbeit über Teams, Abteilungen oder Business Units hinweg. - Höherer Innovationsgrad
Interdisziplinäre Teams wirken als Brutkasten für innovative Ideen und Ansätze. Außerdem verfügen agile Organisationen öfter über offene Ökosysteme und profitieren in Krisenzeiten von diesem Netzwerk. - Schnelle Reaktionsfähigkeit
Es gilt, die Krise als Chance zu sehen und Änderungen willkommen zu heißen. Strukturen und Prozesse wie agiles Portfolio Management oder Objektive and Key Results helfen kontinuierlich neu zu bewerten. Agile Organisationen arbeiten iterativ mit vielen Feedback-Schleifen und das ständige Hinterfragen und Reagieren auf Änderung ist Teil ihrer DNA. - Kundennähe und Kundenzentriertheit
Gerade in Krisenzeiten muss den Kundenbedürfnissen entsprechend noch zielgerichteter agiert werden. Schnelles Feedback ist hier extrem wertvoll. Als Organisation muss bewusst auch mit Teilprodukten auf den Markt zu gegangen werden, um etwaige Kundenwünsche oder Adaptionen früh genug berücksichtigen zu können. - Hohe Selbstorganisation und Teamwork
Teams, die es gewohnt sind, auch selbst Entscheidungen zu treffen, sind in Krisenzeiten flexibler und besser vorbereitet. Organisationen, deren Management sehr stark auf Selbstorganisation setzt und Entscheidungsbefugnisse weitgehend an die agilen Teams delegiert haben, sind schneller, was auch in Krisenzeiten ein immenser Vorteil ist. - Neuer Leadership-Stil
Führungskräfte sind in Krisenzeiten besonders gefordert und profitieren von Skills, die für agile Organisationen typisch sind. Eine starke und offene Kommunikation kann Sorgen und Unsicherheiten ausräumen und psychologische Sicherheit vermitteln. Führungskräfte, denen es gelingt, eine nachhaltige Fehlerkultur zu etablieren, fördern nicht nur das kontinuierliche Lernen, sondern sorgen auch dafür, dass Mitarbeiter bereit sind, Entscheidungen und Risiken zu treffen. - Technologie-Führerschaft
Agile Organisationen zeichnen sich durch eine Technologieführerschaft und den Einsatz moderner State-of-the-Art-Technologien aus. Organisationen, die bereits vor der Krise begonnen haben, ihre Kernsysteme auf eine Micro-Service-Architektur mit losen gekoppelten Services umzubauen und den Einsatz von Continuous-Integration-Systemen forciert haben, sind in der Lage, schneller und unabhängiger zu produzieren und kontinuierlich Releases zu veröffentlichen.
Orga-Check: Von der Analyse zur Verbesserung
Um vom Zufall zur gezielten Steuerung zu kommen, sind zwei Komponenten nötig: Eine Analyse kann die momentane Praxis erheben und aufdecken, wie derzeit gearbeitet wird, gegebenenfalls getrennt nach Abteilungen oder Gruppen. Dieses Ergebnis sollte im Anschluss kritisch hinterfragt werden. Wo der Exploit-Modus stark ausgeprägt ist, sollte Raum für Innovation und Veränderung geschaffen werden. In Bereichen mit starker Explore-Ausprägung sollte immer wieder auf die Möglichkeit geachtet werden, sinnvoll Prozesse zu standardisieren und formalisieren, um Qualität zu sichern und mit den Ressourcen zu haushalten.
Der folgende "Quick Check Ambidextrie" unterstützt IT-Führungskräfte dabei, ihre Abteilung oder Tätigkeitsfelder auf die Ausprägung in Sachen "Explore" und "Exploit" zu untersuchen und daraus Verbesserungsmaßnahmen abzuleiten.