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ECM: Lebenselixier für die Softwarebranche?

18.07.2003
MÜNCHEN (ajf) - Unter dem Schlagwort Enterprise-Content-Management (ECM) arbeiten Softwarefirmen mit Hochdruck daran, einen neuen strategischen Absatzmarkt zu schaffen. Dabei wollen sie vor allem den aktuellen Konsolidierungstrend bei den Anwendern nutzen. Doch bis die Früchte geerntet werden können, ist es noch ein weiter Weg.

Die schlechte Nachricht vorweg: Komplette ECM-Lösungen wird es erst gegen Ende des Jahres geben, sagt die Meta Group. Die gute Nachricht ist, dass ECM künftig gleichermaßen etabliert sein wird wie heutzutage Enterprtise Ressource Planning (ERP) - hofft zumindest Bernd Brückner, Geschäftsführer der Filenet GmbH in Frankfurt am Main. Wie man das Thema aber auch dreht und wendet: ECM gibt ein gutes Beispiel ab, wie die Softwareindustrie immer noch in ihren Grundzügen funktioniert.

Einiges ist wie bei anderen Hypes, aus denen teilweise nichts wurde. Den branchenüblichen Drei-Buchstaben-Begriff brachte Gartner in Umlauf, das Thema ist anfänglich vor allem für große Unternehmen interessant, bietet aber auch Potenzial für den Mittelstand, niemand weiß genau, was sich dahinter verbirgt, und sämtliche potenziellen Marktführer haben sich frühzeitig in Stellung gebracht, um den Moment nicht zu verpassen, wenn der Markt endlich abhebt. Content war King, Enterprise-Content-Management soll zumindest ein King-Size-Geschäft werden.

Umsätze lassen noch auf sich warten

Doch bis die Umsätze anziehen, stehen die Unternehmen auf dem Rollfeld und fächeln sich den Auftrieb mit Hilfe ihrer Marketing-Broschüren zu. Wer früher Archivlösungen verkauft hat, ist über Nacht ein ECM-Komplettanbieter geworden, der, wenn schon nicht weltweit, dann zumindest in Europa richtungsweisend ist. Wer früher HTML-Seiten verwaltet hat, ist heute für die E-Mail-Archivierung in Konzernen quasi prädestiniert. Wer einst Collaboration predigte, spricht sich heute wieder öffentlich für Workflow aus. "Der Begriff ECM lässt sich relativ weit fassen", stellt auch Brückner fest, dessen Company als eine der Ersten in das - auf besagtem Rollfeld stehende - Flugzeug geklettert ist.

Was im Übrigen nichts daran ändert, dass das wichtigste Argument der ECM-Anbieter für den Einsatz ihrer Lösungen alt ist. Nach Einschätzung der Meta Group liegen mehr als 80 Prozent der bei der Arbeit benötigten Informationen in unstrukturierter Form als E-Mails, Word-Dokumente, als Grafiken oder Multimedia-Dateien vor. Folglich muss im Umkehrschluss auch ein Bedarf an Lösungen bestehen, um die brachliegenden Informationen in die Geschäftsprozesse zu integrieren. Hierbei sei die Verknüpfung entscheidend, argumentiert auch Nathaniel Martinez, Analyst beim Marktforschungsunternehmen IDC. "Anwender müssen sicher stellen, dass die Organisation und die Informationen integriert sind, und genau das wird mit ECM versucht."

Die Funktionen der ECM-Werkzeuge sollen den kompletten Lebenszyklus des Content umfassen. Inhalte müssen erstellt, gespeichert, gefunden und schließlich verteilt werden - nicht nur abteilungsweise, sondern im Idealfall über Unternehmensgrenzen hinweg. "Es gibt heute praktisch keinen Prozess im Unternehmen ohne Inhalte", argumentiert Filenet-Chef Brückner, "und Sie können mit Inhalten nichts anfangen, wenn Sie keine Prozesse dazu haben." Allein vor dem Hintergrund der Rationalisierung und Konsolidierung würden sich viele Anwender in den nächsten Jahren mit ECM beschäftigen.

Ähnlich stellt sich die Situation für Marc Tenbieg, Analyst der Unternehmensberatung Braiconn Deutschland, dar. Seiner Ansicht nach erhalten Anwender nur einen Mehrwert, wenn sie ihre Prozesse mittels ECM verbessern und beschleunigen. Was bringe die Strukturierung unstrukturierter Informationen, wenn diese danach nicht prozessorientiert und vor allem automatisiert zur Verfügung stünden?, fragt sich Tenbieg: "Das ist ja gerade die Kunst." Dass Anwender die Enterprise-weiten Lösungen kaufen werden, glaubt auch Bernhard Zöller von der IT-Beratungsgesellschaft Zöller & Partner: "Es ist sinnvoll, nicht für jeden Content-Typ und jede Abteilung ein anderes System einzuführen."

Zumindest in den USA sind diese Botschaften auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Meta Group beruft sich in ihren Untersuchungen auf eine Umfrage unter 400 IT-Verantwortlichen US-amerikanischer Konzerne. Diese setzten das Thema ECM auf Platz eins ihrer Prioritäten für das Jahr 2003. Im kommenden Jahr soll das Marktvolumen auf rund zehn Milliarden Dollar anwachsen, prognostiziert Meta. Andere Auguren erwarten hingegen eine etwas ruhigere Entwicklung: Der Anstieg des Marktvolumens falle dieses Jahr nur minimal aus, schätzt etwa Ovum. Allerdings zählen diese Analysten auch nur die Lizenzverkäufe mit "klassischen" Content-Management-Lösungen, was den direkten Vergleich der Prognosen praktisch verbietet.

Dass der nicht immer gewünscht ist, gilt traditionell auch für die Anbieter und ihre Produkte. "Jedes Unternehmen versucht gerade, investitionsentscheidende Alleinstellungsmerkmale herauszubilden", berichtet Tenbieg. Der Analyst hat festgestellt, dass Anbieter mit Content-Management alleine nicht mehr weiterkommen. Nur die Kombination von Portaltechnik, Workflow, Suchfunktionen, traditionellem Content- sowie Web-Content-Management überzeuge den Kunden. Von taktischen Applikationen bewege sich die Nachfrage daher gegenwärtig hin zu strategischen Anwendungen, hat Tenbieg beobachtet. Zukünftig würden es strategische Repositories sein.

Gesetzt für das Rennen um die Gunst der potenziellen ECM-Nutzer sind nach Einschätzung verschiedener Experten lediglich IBM, Documentum und Filenet. Um die Plätze streiten sich Unternehmen wie Ixos, Opentext, Hummingbird, Interwoven, Vignette oder Stellent. Auch die Rolle von Oracle und Microsoft als künftige Infrastrukturlieferanten dürfte im ECM-Umfeld noch nicht geklärt sein. Wie viele Plätze überhaupt noch im ECM-Geschäft zu vergeben sind, ist zudem eine Frage des Standpunkts: Zwischen drei und zehn international tätige Lieferanten seien wahrscheinlich, weichen die Meinungen der Beobachter und natürlich die Ansichten der einschlägigen Anbieter voneinander ab.

Doch selbst für die Favoriten Filenet und Documentum ist der Erfolg kein Selbstläufer. Beide Unternehmen mussten unlängst vor einem schwachen Verlauf des zweiten Quartals warnen (siehe Kasten "Quartalszahlen"). Von einer starken ECM-Nachfrage kann also selbst bei zwei der drei größten Anbieter gegenwärtig noch keine Rede sein. Bei Ixos auch nicht: Die Grasbrunner mussten ihre jüngste Umsatzwarnung bereits im April aussprechen.

Warten auf Big Blue

Mittelfristig könnte ECM auch ein interessantes Thema für die IBM sein, die - wie so häufig - eine Sonderrolle einnimmt: Nach Informationen der Meta Group hat Big Blue seine Mitarbeiterzahl im Bereich Forschung und Entwicklung um 25 Prozent gesteigert, die ECM-Vertriebsorganisation soll um 50 Prozent gewachsen sein. Insgesamt habe der Konzern etwa 1000 Angestellte auf den Bereich angesetzt. Allerdings: "Bei IBM muss man endlich begreifen, was man für eine Marktmacht hat", meint ein Beobachter ironisch. Will heißen: Der Branchenführer ist derzeit noch dabei, den ECM-Markt für sich zu "entdecken".

Allen potenziellen ECM-Anbietern ist jedoch die Strategie gemein, offene Produktflanken durch Zukäufe zu sichern. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein einschlägiges Unternehmen den Erwerb von Techniken oder Kunden ankündigt. Ob Ixos mit Obtree und Powerworks, Documentum mit Eroom, Opentext mit Eloquent und Centrinity, IBM mit Tarian, Vignette mit Oberon, Filenet mit Egrail und zuletzt Hummingbird, das sich mit zwei kleinen Firmen in Großbritannien eingedeckt hat - viele Spezialisten, vor allem aus dem Web-Content-Management-Umfeld, sind gegenwärtig günstig zu haben.

Anbieter kaufen sich Produkte

Rechnet man die durchschnittlichen Kaufsummen hoch, liegt der Schluss nahe, dass sich mit 25 Millionen Dollar bereits ein komplettes ECM-Paket aus verschiedenen Firmen schnüren lässt. "Auf der Homepage klappt das vielleicht", wehrt sich Filenet-Chef Brückner. Schließlich habe das Unternehmen selbst vor Jahren die leidvolle Erfahrung machen müssen, dass es sehr schwierig sei, heterogene Komponenten zu einer halbwegs sinnvollen Gesamtlösung zu verbinden.

Daher setzen einige Unternehmen verstärkt auf Partnerschaften mit Spezialisten, weil sie nicht alles selbst machen oder kaufen wollen. Und gerade hierin liegt die Chance der kleinen Unternehmen, die laufende Konsolidierung des Marktes zu überstehen. Einige dieser Anbieter könnten sogar höhere Zuwachsraten aufweisen als die internationalen Player, sagt Branchenexperte Zöller. Er geht folglich davon aus, dass neben den internationalen ECM-Anbietern eine Vielzahl regionaler Lieferanten wie etwa Saperion, Dvelop oder Elo florieren werden.

Für die These sprechen mehrere Gründe: Einerseits können die kleinen Anbieter laut Zöller "preislich weiter herunterskalieren" als die großen IT-Konzerne, zum anderen seien ihre mittelständischen Kunden noch nicht so stark ausgestattet wie bei vielen Großunternehmen. Braiconn-Analyst Tenbieg verweist zudem darauf, dass eine Nische leichter zu verteidigen ist als das freie Feld - wenn die Spezialisten nachweisen können, dass sich ihr Produkt auch integrieren lässt.

"Der ECM-Markt ist noch nicht auf die Ideallösung gestoßen", lautet das Fazit von Sören Stamer, CEO der Hamburger Coremedia AG. Die Company tummelt sich als Cross-Media-Publishing-Spezialist ebenfalls im Content-Dunstkreis und musste unlängst ihren Standort München schließen - der heimische Markt ist nicht gerade rosig, sagt der Firmengründer. Dennoch geht auch Stamer davon aus, dass kleine Anbieter weiterhin alle Chancen haben, weil das Segment immer noch auf Innovationen ausgerichtet ist. Dieses Potenzial in der Nische würden die Branchengrößen schlicht nicht abdecken wollen und können. Stamer: "Von keiner Software kann man heute sagen, das sei Content-Management für die Ewigkeit."

Quartalszahlen

Anfang Juli haben Documentum und Filenet vor einem schwachen Verlauf des zweiten Quartals gewarnt. Demnach nimmt Documentum etwa 68 Millionen Dollar und nicht wie geplant knapp 73 Millionen Dollar ein. Der Gewinn liegt am unteren Ende der eigenen Prognosen. Filenet senkte die Umsatzerwartung von 90 Millionen auf 85 Millionen Dollar, der Gewinn soll zwischen einem und drei Cent je Aktie liegen. Angekündigt war ein Profit von vier bis sechs Cent pro Anteilschein.

Documentum führte als Grund für den Rückschlag ein schwaches Asien-Geschäft sowie die Zurückhaltung der öffentlichen Hand an; Filenet gab zu Protokoll, dass sich große Vertragsabschlüsse am Quartalsende verschoben hätten. Während Filenet knapp unter dem Umsatz des vergleichbaren Vorjahreszeitraums abschließen kann, wird sich Documentum trotz der Umsatzwarnung steigern: Vor einem Jahr hatte die Company etwa 54 Millionen Dollar eingenommen, immerhin 14 Millionen Dollar weniger, als jetzt angepeilt sind. Dabei wurden die beiden letzten Quartale mit leichten Nettoverlusten abgeschlossen, während Filenet unter dem Strich stets positiv bilanzieren konnte.