ECM - denn Informationen zählen

24.02.2009
Enterprise-Content-Management (ECM) boomt - selbst in Krisenzeiten. Wie Unternehmen mit steigenden Datenfluten umgehen und worauf es bei Datenschutz und Compliance ankommt, klären Vertreter von Anbieterunternehmen mit CW Topics.

? Enterprise-Content-Management mit seinen vielen Facetten gewinnt eine zunehmende Bedeutung in Unternehmen. Das beginnt bei der papierlosen Dokumentenverwaltung und reicht bis in das Dauerthema E-Mail-Archivierung. Nun prognostizieren einige Branchenexperten das Verschwinden von ECM-Funktionen in der IT-Infrastuktur, während andere von Enterprise 2.0 als nächster Evolutionsstufe sprechen. Vielleicht wäre es an der Zeit für eine Begriffsbestimmung?

Reiner Ernst, Sales Director, Oracle Deutschland GmbH: Aus meiner Sicht greift der klassische ECM-Begriff zu kurz, um die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit zu beschreiben. Denn mittlerweile haben wir es ja mit einem Themenmix und Konvergenz aus den Bereichen Enterprise-Content-Management, Portal-Server-Technologien, Enterprise Search und Collaboration zu tun. Daher plädiere ich auch dafür, in einem übergeordneten Sinn von Enterprise 2.0 zu sprechen.

Peter Fischer, Product Solution Manager ECM, Microsoft Deutschland GmbH: Auch ich betrachte Enterprise 2.0 als logische Erweiterung des ECM-Begriffs, die Entwicklungen wie etwa die wachsende Produktivität von Wissensarbeitern im Unternehmen beschreibt. Dennoch würde ich den klassischen ECM-Begriff noch nicht über Bord werfen. ECM beinhaltet vielfältige Aufgaben wie die Umsetzung von Richtlinien, den Aufbau effizienter Prozesse, Rechnungsprüfung, Vertrags-Management oder auch das Publizieren von Intranet- oder Web-Content. Enterprise 2.0 spielt sich auf einer höheren Abstraktionsebene ab, wo es etwa darum geht, wie man Wissen in Innovation umwandeln kann.

Stefan Pfeiffer, Market Manager ECM & Lotus, IBM Deutschland GmbH: Man sollte hier differenzieren. Es gibt einige Kernfunktionen von ECM wie etwa die Erfüllung von Compliance-Richtlinien oder Vorgangsverwaltung und Sachbearbeitung, die recht wenig mit Enterprise 2.0 zu tun haben. Enterprise 2.0 bedeutet aus meiner Sicht vielmehr, Web-2.0-Funktionalitäten im geschäftlichen Umfeld nutzbar und verfügbar zu machen, um effizienter zu kommunizieren, besser zusammenzuarbeiten und Wissen auszutauschen, und zwar mit Tools wie Wikis, Blogs oder Instant Messaging.

Michael Frihs, Sales Director Germany, Saperion AG: Als Mittelständler gehen wir pragmatisch an das Thema heran und interessieren uns weniger für Buzzwords als für das, was unsere Kunden benötigen. Tatsächlich gefragt sind derzeit nämlich so vermeintlich alte Hüte wie die Posteingangsbearbeitung. Sehr wichtig ist außerdem das Thema Benutzerfreundlichkeit. Was nutzt Ihnen die tollste Technologieplattform, wenn sie von den Anwendern nicht akzeptiert wird? Deshalb sehe ich insbesondere die von einigen Anbietern angepriesenen Einheitsoberflächen kritisch.

? Was meinen Sie mit Einheitsoberflächen?

Frihs: Mit diesen so genannten universellen Clients wurde und wird den Kunden suggeriert, dass sie nur ein bisschen Customizing machen müssen, und schon läuft ihr ECM-System. In der Praxis funktioniert so etwas aber nicht. Unsere Kunden setzen jedenfalls auf Vielfalt und wünschen sich eine flexible Integration multipler Clients für unterschiedliche Anwendungsbereiche in stabile Archiv- und Dokumenten-Management-Systeme.

? Heißt das für die Anwender, dass sie zukünftig mehr Freiheiten bei der Wahl der einzelnen Komponenten haben?

Pfeiffer: Ja, das Stichwort dafür lautet Content als Service über einfache Konsumierbarkeit von Inhalten. Damit gewinnen die Anwender mehr Flexibilität. Denn Fakt ist doch, dass nicht alle mit einem IBM-Desktop, einem Sharepoint oder einem Oracle-Portal arbeiten, sondern in heterogenen Umgebungen, wo man den Postkorb von IBM oder Saperion benutzt, Office benutzt, und Inhalte über ein SAP-, Oracle- oder IBM-Portal bezieht.

Ernst: Hier kommt aber auch wieder Enterprise 2.0 ins Spiel, denn ein zentraler Aspekt davon ist ja der Browser als Benutzeroberfläche. Dank moderner Web-2.0-Technologien verfügen Browser-Anwendungen inzwischen über Funktionen wie Drag and Drop und sind viel komfortabler und einfacher zu bedienen.

Fischer: Ich sehe hier zwei Aspekte - auf der einen Seite dient der Browser als Benutzeroberfläche, aber gleichzeitig müssen ECM-Funktionen auch in die bestehenden Clients, mit denen die Wissensarbeiter jeden Tag arbeiten, integriert werden.

Frihs: Warum sollte ECM 2.0 nur etwas mit Web-Technologie zu tun haben? Gerade in der mittelständischen Industrie, aber nicht nur dort, verzeichnen wir nach wie vor eine große Nachfrage nach Rich Clients, weil hier einfach mehr Funktionalität realisierbar ist. Typischerweise sind das Kunden, die eine langfristige Investitionsplanung haben und die Produkte auch noch in den nächsten drei, vier Jahren einsetzen möchten. Insofern hat ECM 2.0 sicher etwas mit Web 2.0 zu tun, jedoch wird sich heute und in Zukunft längst nicht alles nur um das Web und den Browser drehen.

? Wenn wir nun einmal den Blick von der Infrastruktur auf die Inhalte richten, wo drückt die Anwenderunternehmen denn der Schuh am stärksten?

Pfeiffer: Die Masse der zu bewältigenden Inhalte in den Unternehmen sind heute E-Mails. Allerdings liegt der Schwerpunkt von ECM hierzulande noch immer beim Thema Sachbearbeitung. Wenn Sie einmal als Beispiele die Korrespondenz einer Versicherung oder einen Bauantrag in der öffentlichen Verwaltung nehmen, dann geht es hier immer um Dokumente, die in Akten zusammengefasst werden, also um das große Thema Aktenverwaltung. In diesem Zusammenhang wird übrigens das Thema Scannen immer noch weit unterschätzt, denn es steht fest, dass die Papiermenge zunimmt und nicht abnimmt. Und dann natürlich die bereits erwähnten E-Mails. Firmen müssen die Masse an E-Mails vernünftig integrieren und benötigen dazu am Frontend leistungsfähige Tools für die Endanwender sowie eine entsprechende Infrastruktur im Backend.

Ernst: Richtig, E-Mail hat heute eine enorme Bedeutung im Content-Management, und weil viele geschäftskritische Vorgänge inzwischen über E-Mail laufen, kommt zwangsläufig die Compliance-Thematik ins Spiel. Da geht es zum einen um Nachvollziehbarkeit, wer wann was an wen kommuniziert hat, dann um die Dauer der Aufbewahrung, und schließlich darum, wie man die Inhalte auch wieder finden und prüfen kann. Die Datenflut beginnt in ganz banalen Alltagssituationen, indem man mal eben eine Präsentation mit 10 MB an 20 Personen verschickt, und die schicken sie wieder weiter. Dabei vervielfacht sich die zu speichernde Datenmenge, Nachvollziehbarkeit und Sicherheit bleiben auf der Strecke. Solche Probleme bekommt man in den Griff, indem man diese Dokumente nicht als Anhang verschickt, sondern als Link auf deren Speicherort im zentralen ECM-System.

? Ein Thema, das im ECM-Bereich zunehmend auftaucht, ist Records-Management. Hierzulande scheint man mit diesem Begriff aber noch einige Probleme zu haben.

Frihs: Das Verständnisproblem rührt zunächst daher, dass Records-Management - im deutschen auch mit dem holprigen Wort Schriftgutverwaltung übersetzt - und die Konzepte dahinter aus dem Angelsächsischen kommen. Einige Hersteller versuchen das nun auf Deutschland zu übertragen. Aber im Kern geht es meines Erachtens um Compliance, nämlich die Befolgung von gesetzlichen Auflagen und Einhaltung von Richtlinien in den Unternehmen. Und da kann Records-Managment in zunehmendem Maße auch in Deutschland eine Rolle spielen.

Pfeiffer: Das Thema kennen wir auch in Deutschland seit Jahren, wobei es hier unter dem inzwischen etwas angegrauten Begriff Archivierung lief. Im Wesentlichen geht es in der revisionssicheren Langzeitarchivierung darum, Dokumente zu scannen, zu speichern und nicht veränderbar abzulegen. Nun haben wir es aber in Zeiten von Web 2.0 und Enterprise 2.0 mit neuen Inhalten zu tun, ob E-Mails, Instant Messages oder all die anderen unstrukturierten Office-Dokumente. Dafür reicht die klassische Archivierung nicht mehr aus, deshalb benötigen wir ein Konzept wie Records-Management. Die Inhalte werden durch den Anwender oder immer mehr durch entsprechende Werkzeuge automatisch klassifiziert, zugeordnet und vorschriftenkonform im Lebenszyklus verwaltet.

Ernst: Ihre Einschätzung, wonach Archivierung von gestern ist, kann ich nicht ganz teilen. Mittlerweile sind nur neue Themen und Anforderungen aus dem Bereich Records-Management hinzugekommen, wie zum Beispiel die virtuelle Akte, oder die Fähigkeit, Compliance-relevante Dokumente in verschiedenen Repositories zu verwalten.

Pfeiffer: Die entscheidende Frage für mich ist, wann sich endlich bei deutschen Entscheidern die Erkenntnis breitmacht, dass sie im Zweifelsfall selbst haftbar sind. Es geht hierbei schlicht und einfach um Risiko-Management, welches Risiko gehe ich als Verantwortlicher ein und welches kann ich nicht mehr tragen.

? Was haben Unternehmen konkret zu befürchten, die hier untätig sind?

Frihs: Zu den wahrscheinlichen Szenarien zählt, dass ein Wirtschaftsprüfer ins Haus kommt. Wenn der nach den elektronischen Daten der letzten drei oder fünf Jahren verlangt, dann bricht oft Panik aus. Daran sehen Sie schon, dass das zunächst einmal kein IT-Thema ist, sondern ein Problem für die Geschäftsführung und die Organisation.

Pfeiffer: Was die Deutschen sehr gerne tun, ist aufbewahren, aber hinterher können sie sich nur schwer wieder davon trennen, sprich das Aufbewahrte zu einem definierten Zeitpunkt wieder vernichten. Auch das ist ein Aspekt von Records-Management. Es soll auch Unternehmen geben, die Strafen bezahlt haben, weil E-Mails gefunden wurden, die man schon längst hätte vernichten können. Viele solche Dinge sind mit einer Lebenszyklusverwaltung im Sinne von Records-Management in den Griff zu bekommen. Grundlage dafür ist ein Compliance Framework mit definierten Regeln im Hintergrund, auf dessen Basis man die Verwaltung aller Inhalte im Lebenszyklus weitgehend automatisiert, um den Endanwender damit nicht zu belasten.

Fischer: Tatsächlich wird der Endanwender durch das Thema Compliance oft abgeschreckt, statt die Einhaltung von Richtlinien aktiv zu unterstützen. Deswegen ist es wichtig, dass die gültigen Richtlinien so einfach wie möglich zu befolgen sind.

? Ein weiteres Dauerthema sind auch im ECM-Bereich Services und Serviceorientierung. Mit welchen Entwicklungen müssen die Anwender hier rechnen?

Pfeiffer: Der Begriff Software as a Service ist ja relativ neu, aber eigentlich bieten wir das unter dem altbekannten Begriff Applikations-Hosting schon seit Jahren an. Heute zählen dazu natürlich auch Serviceangebote mit Web-2.0-Funktionen und Dokumenten-Management-Funktionalitäten, wobei wir hier auch mit Partnern zusammenarbeiten.

Frihs: SaaS bietet Vorteile, wenn es um eine schnelle und kostengünstige Implementierung geht. Ich sehe allerdings auch klare Grenzen, denn Services sind nicht in allen Situationen geeignet oder gewünscht. Nehmen Sie Anwendungen, bei denen vertrauliche Daten bearbeitet werden. Wie einige Datenschutzskandale zeigen, sollte man bestimmte Applikationen und Daten nicht in die Hände externer Dienstleister legen.

Pfeiffer: Man muss hier differenzieren - bei bestimmten CRM-Anwendungen sehe ich kein Problem, diese extern zu hosten. SaaS ist aber ganz klar eine Vertrauenssache. Sofern der Dienstleister wie etwa im Bankensektor die Sparkasseninformatik oder Fiducia aus dem eigenen Haus kommt, spricht nichts dagegen. Wenn ich meine Daten hingegen an einen komplett unabhängigen Anbieter ohne entsprechende Reputation geben soll, wird das schon schwieriger. Wir zählen hierbei zu den Dienstleistern, denen die Kunden vertrauen.

? Wenn Sie den Blick in die Glaskugel wagen, welche Themen sehen Sie dann zukünftig auf der ECM-Agenda? Wird ECM in der IT-Infrastruktur als Basisfunktionalität aufgehen, und wird der Trend zu Serviceorientierung und SaaS anhalten?

Ernst: Ich rechne damit, dass dedizierte ECM-Produkte mittelfristig in höherwertige IT-Infrastrukturprodukte integriert werden, etwa als Baustein einer SOA-Infrastruktur. Wenn ECM-Services Bestandteil einer SOA werden, wird diese SOA-Infrastruktur auch genutzt, um neue Enterprise-2.0-Anwendungen anzubieten. Wir und unsere Partner werden aber weiterhin Lösungen anbieten, die ganz bestimmte ECM-Geschäftsprozesse abbilden, wie etwa Records-Management. Bei den Produkten und Anbietern wird die Konsolidierung vermutlich weitergehen.

Frihs: Wir zählen zu den kleineren ECM-Anbietern und befassen uns daher weniger mit Trends, sondern stärker mit den Mehrwerten von ECM. Aus meiner Sicht wird uns in den nächsten Jahren das Thema Integration weiterhin in Atem halten. Wir glauben nach wie vor sehr stark an den JCR, in den wir auch sehr stark investiert haben. Es wird weiterhin Hersteller geben, die sich auf Spezialthemen wie Posteingang oder Capturing spezialisieren, deshalb wird es auch nach wie vor eine Anbietervielfalt geben. Dass all diese ECM-Funktionen im Betriebssystem aufgehen werden, glaube ich nicht. Es wird Basis-Funktionalitäten in Form von Basic-Services geben, aber meine Prognose lautet, dass in den nächsten drei Jahren die Vielfalt sogar noch zunehmen wird. Und hier müssen alle ECM Anbieter noch schärfer ihr eigenes Profil zum Wohle der Kunden herausarbeiten.

Fischer: Ich rechne damit, dass die CIOs verstärkt den Wissensarbeiter in seiner täglichen Arbeit unterstützen werden. Dabei betrachten sie nicht mehr nur Dokumente als unterstützendes Element für Wissensarbeiter, sondern auch Daten aus Bereichen wie Business Intelligence, ECM, Suche, Communications sowie Enterprise-Project-Management. Mitarbeiter werden zukünftig auf Client-Seite mit Office Business Applications oder Mashups arbeiten, die sowohl strukturierte als auch unstrukturierte Geschäftsprozesse gemeinsam abwickeln können.

Pfeiffer: Für uns stehen drei Paradigmen im Vordergrund. Offenheit heißt, dass wir alle wichtigen Systeme am Markt unterstützen, ob das nun am Frontend beliebige Office-Versionen sind oder am Backend Betriebssysteme, Server und Application Server. Wir zwingen niemanden in eine bestimmte, monolithische Welt. Zum zweiten bieten wir im Gegensatz zum Wettbewerb alle ECM-Kernfunktionalitäten aus einer Hand, weil das für Kunden beim Content-Management wichtig ist. Von der Erfassung über das Verwalten, das Bearbeiten bis zur Speicherung bekommt der Kunde alles von IBM. Darauf aufbauend kommen als dritter Punkt unsere Partnerlösungen wie beispielsweise eine Personalakte oder andere Lösungen auf der Basis unserer ECM-Infrastruktur.

Meine Herren, wir danken Ihnen für das Gespräch.