E-Karte: Der Schlüssel zum Markt

15.03.2005
Die elektronische Gesundheitskarte nimmt Gestalt an. IT-Lieferanten hoffen, dass sich dadurch endlich der langjährige Investitionsstau im Gesundheitswesen auflöst.

Gesundheit geht uns alle an, und da liegt auch schon das Problem. Aufgrund der föderalen Strukturen in Deutschland, der seit 50 Jahren zementierten Prozesse und Interessen im Gesundheitswesen sowie der verständlichen Sorge vieler Beteiligter, Einfluss, Freiheiten oder Rechte zu verlieren, bewegt sich hierzulande nur wenig: "Im Grunde genommen steht alles zur Vernetzung des Gesundheitswesens in einer unserer Studien", sagt Joachim Kartte, Partner in der Unternehmensberatung Roland Berger - "die wir 1998 veröffentlicht haben." Seitdem tourt der Gesundheitsexperte durch die Lande, um etwas in Bewegung zu setzen, was oft nicht bewegt werden will.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit befindet sich die elektronische Gesundheitskarte. Rund 80 Millionen Versichertenkarten und etwa 1,2 Millionen Health Professional Cards (HPCs) für Vertreter der Heilberufe werden ausgegeben. Beide Karten zusammen schließen die Patienteninformationen auf dem Server auf. Für die Bundesregierung ist es das "größte Telematikprojekt weltweit". Wahrscheinlich ist es auch eines der langwierigsten IT-Projekte weltweit. Ende des Jahres sollen die ersten Flächentests erfolgen, wobei die betroffenen Regionen noch immer nicht feststehen.

Auf das Backend kommt es an

"Die Karte ist nur der Schlüssel für die Telematikplattform", sagt Ulrich Pluta, Projektleiter für die E-Gesundheitskarte bei Oracle. Zwar steht das chipbestückte Plastik im Mittelpunkt des Interesses, doch die entscheidenden Weichen werden im IT-Backend gestellt. Die Plattform selbst bestehe aus Wettbewerbsgründen aus mehreren interoperablen Komponenten, berichtet Pluta. Einheitliches Ziel sind sektorübergreifende Prozesse, an denen alle Instanzen des Gesundheitswesens beteiligt sind.

Die Argumente für das Telematikprojekt sind imposant: Pro Tag gibt es knapp fünf Millionen Arzt-Patienten-Kontakte in Deutschland, bei 71 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung fallen im Jahr mehr als 700 Millionen Rezepte an. Jedes wird im Durchschnitt fünfmal angefasst. Allein alle Rezepte in elektronische Form zu bringen und Medienbrüche zu überwinden, bedeutet eine Verschlankung der Arbeitsabläufe und sinkende Betriebskosten. Neue Anwendungen wie der Arztbrief und die Patientenakte sollen zudem künftig auf der Plattform aufsetzen und dem alten Gesundheitswesen ein modernes Gesicht verleihen. "Für diese Mehrwert-Anwendungen muss das Feld bereitet werden", fordert Roland-Berger-Berater Kartte.

Verantwortlich für den Kartenschlüssel und die Infrastruktur ist inzwischen die Gematik gGmbH, die von Leistungserbringern (Heilberufler) und Kostenträgern (Kassen und Versicherungen) gegründet wurde. Sie will zusammen mit der Industrie noch im April die ersten Ausschreibungen für Hard- und Software in die Wege leiten. Derzeit befindet sich die Lösungsarchitektur, die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt von drei Fraunhofer-Instituten vor einigen Tagen auf der CeBIT übergeben wurde, in der Kommentierungsphase.

Gesundheitsexperten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bezeichneten die Übergabe in Hannover in einer Pressemitteilung vorab als "bloße Show-Veranstaltung" und forderten einen klaren Zeit- und Kostenplan. Schmidt hielt an der Aussage fest, die Karte werde ab 2006 schrittweise eingeführt. Streng genommen hat die Ministerin damit wohl Recht - bleibt nur die Frage nach der Schrittlänge.

Anders als bei Toll Collect hat die lange Projektlaufzeit bisher nicht an der IT-Industrie gelegen. "Die E-Karte ist kein Technologieprojekt", argumentierte Norbert Englert, E-Health-Manager von IBM Deutschland, vergangenen Monat am Rande eines Kongresses des "Münchner Kreises". Es gehe um Organisation, Prozesse und Politik, und es habe eine Reihe von Fortschritten gegeben in den vergangenen Monaten. Für den angepeilten Zeitplan sei er "verhalten optimistisch". Andere halten die Agenda für ambitioniert. "Wir müssen warten, was die Spezifikation der Lösungsarchitektur konkret ergeben hat", berichtet Oracle-Manager Pluta.

Sicherheit, Datenschutz, Kosten

Offen ist auch die Akzeptanz des Systems. Skeptisch sind nicht nur die Sicherheits- und Datenschützer, sondern auch Ärzte und Patienten. Studien zufolge ist ein Viertel der "Kunden" noch nicht von den Vorteilen der Elektrifizierung überzeugt. Hier sollen die Ärzte ihren Patienten Vertrauen in die Karte einimpfen. Doch ein Großteil der Mediziner ist selbst unzufrieden, was vornehmlich mit den anfallenden Kosten zusammenhängt: Experten schätzen die einmaligen IT-Aufwendungen pro Praxis zwischen 2000 und 5000 Euro, worin die monatlichen Anschlussgebühren an die Telematikplattform noch nicht enthalten sind. In Österreich, wo eine E-Karte bereits eingeführt wird, bewegen sich die Betriebskosten für den Arzt etwa auf der Höhe eines DSL-Anschlusses.

Für die IT-Branche sind dies trotz der Geduldsprobe gute Aussichten, angesichts von rund 125000 Arztpraxen und 55000 niedergelassenen Zahnärzten in Deutschland. "Noch immer führen viele Ärzte ihre Praxis vollkommen ohne Computer", sagt Markus Holtel vom Franz-Hospital, Dülmen. Der Mediziner und Krankenhausbetriebswirt erwartet durch den steigenden Druck auf die Branche bessere Marktaussichten für IT-Anbieter. Hinzu kommen 21000 Apotheken und 2000 Krankenhäuser sowie 270 gesetzliche und knapp 50 private Kassen, die in weiten Teilen eine moderne IT-Ausstattung benötigen.

Vielerorts befindet sich der Stand der Technik weit hinter der IT anderer Dienstleistungssektoren. Experten berichten von einer Lücke von mindestens zehn Jahren. Allerdings gerät das Gefüge allmählich in Bewegung: Kliniken werden privatisiert und fusionieren, Kassen schließen sich zusammen, Prozess-Outsourcing kommt in Mode, und junge niedergelassene Ärzte entdecken DSL. Das Gesundheitswesen verspricht gute Geschäfte, denn es gibt über vier Millionen Menschen Arbeit und trägt rund elf Prozent zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei. Was fehlt, ist eine einheitliche, standardisierte Plattform zum Datenaustausch.

Die Kosten allein für den Bau der Telematikplattform werden offiziell auf mindestens 1,4 Milliarden Euro taxiert. Darin nicht enthalten sind Aufwendungen für den elektronischen Arztbrief und die elektronische Patientenakte mit der Krankheitshistorie, die noch folgen sollen. Rund 300 bis 400 Millionen Euro kostet der laufende Betrieb pro Jahr. Erste Industriekonsortien werden sich in den kommenden Monaten zusammenfinden und Angebote absprechen.

Kartenmissbrauch unterbinden

Sparen werden anfangs vor allem die Krankenkassen, und das nicht nur durch schlanke und papierarme Prozesse. Pro Jahr verschwindet eine sechsstellige Anzahl der aktuellen Patientenkarten aus dem System; viele werden verkauft und anschließend missbraucht. Zudem sollen aufwändige Doppeluntersuchungen vermieden werden, indem zu jedem Patienten die Befunde aller Ärzte per Mausklick vom Server abrufbar sind.

Patienten profitieren hingegen von einer geplanten Anwendung, mit der die Wechselwirkung von Medikamenten kontrolliert werden soll. Pro Jahr sterben in Deutschland mehr als 10000 Menschen an den Folgen falsch verschriebener Arzneimittel. Und: "Der Patient steht im Mittelpunkt der E-Health-Plattform", heißt es oft. Dies stimmt zumindest insoweit, als dass alle Patienten über die Kassen die überwiegenden Kosten für das System tragen. Dieses Finanzierungsmodell ist im Gegensatz zur Telematikplattform nicht sehr innovativ.