Arbeitsmarkt/Düstere Perspektiven für europäische Arbeitnehmer

E-Commerce begünstigt Jobs in Entwicklungsländern

16.07.1999
Die Dienstleistungsbranche wird den Abbau von Arbeitsplätzen in den klassischen Industriezweigen nur teilweise kompensieren können, und E-Commerce wird die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vergrößern, ist sich Franz Joseph Radermacher* im Gespräch mit Hadi Stiel** sicher.

CW: Das Internet etabliert sich als Geschäftstribüne zwischen Unternehmen sowie zwischen Unternehmen und Endkonsumenten. Welche Effekte hat diese Entwicklung für den Arbeitsmarkt?

Radermacher: Die Internet-Entwicklung muß man in einem Gesamtkontext sehen. Das Internet bildet sich zügig zum Nervennetz der Menschheit sowie zwischen Unternehmen heraus. Es treibt die Globalisierung immer rascher voran, hebt Distanzen auf und verändert die Bedingungen für Wertschöpfungen. Die Technik übernimmt dabei immer mehr Funktionen, die bisher nur der Mensch ausführen konnte. Parallel wird der Arbeitsmarkt auf internationale Beine gestellt, weil nun via Internet hochqualifizierte und dennoch preiswerte Kräfte, beispielsweise aus Indien, an einer internationalen Wertschöpfung mitwirken können.

CW: Was sind die Folgen?

Radermacher: Die Entwicklung wird auf längere Zeit zu Lasten klassischer deutscher beziehungsweise europäischer Vollzeitarbeitsplätze gehen. Vor allem Vollzeitarbeitsplätze mit Routinecharakter oder mit personennaher, aber nicht wissensintensiver Dienstleistung werden vom Stellenabbau oder durch einen niedrigwertigen Stellenersatz betroffen sein. Ein weiterhin hohes Abbaupotential sehe ich in diesem Zusammenhang unter anderem bei Banken und Versicherungen, aber auch im Ausbildungs- und Gesundheitssektor.

CW: Wird es durch die Globalisierung zu einer stärkeren Teilung der Gesellschaft in Sieger und Verlierer kommen?

Radermacher: Personen im Kernbereich der Globalisierung werden deutlich mehr arbeiten können und müssen als bisher, dafür verdienen sie dann auch mehr, und das weit überproportional. Das gilt insbesondere für erfolgreiche junge Firmengründer. Für die Arbeitskräfte in den übrigen Bereichen sehe ich die Perspektiven eher negativ: Sie werden in der Regel in schlechter bezahlte, in sozial weniger abgesicherte und zudem zum Teil in zerstückelte Arbeitsverhältnisse abgedrängt werden. Dabei wird die Zahl der Arbeitsplätze nicht etwa abnehmen. Den Verlusten an Arbeitsplätzen in den Industriestaaten werden hohe Arbeitsplatzzuwächse in den aufholenden Ländern gegenüberstehen.

CW: Welche Auswirkungen wird das Internet diesbezüglich auf die Verwaltungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene haben?

Radermacher: Die gerade beschriebene globale Entwicklung geht zu Lasten der Steuereinnahmen bei gleichzeitig zunehmendem Druck auf die Sozialsysteme in unseren Ländern. Damit wird auch die öffentliche Seite weiter Arbeitsplätze abbauen müssen, schon um den Investitionsspielraum aufrechtzuerhalten.

CW: Also gibt es auch beim Staat keine andere Möglichkeit, als Mitarbeiter zu entlassen?

Radermacher: Der Stellenabbau wird hier schon deshalb unausweichlich sein, weil die Beschäftigten im öffentlichen Sektor erfahrungsgemäß nicht dazu bereit sind, signifikante Einkommensminderungen hinzunehmen. Es bleibt dann nur der Stellenabbau. Zumal auch die Regelwerke und die Regelungsdichte innerhalb der Verwaltungen einfacher gestaltet werden müssen, um international konkurrenzfähig zu sein. Die Informationstechnik bietet auf jeden Fall die geeigneten Mechanismen, selbst bei einem weiter reduzierten Personaleinsatz ein akzeptables Regelungsniveau hinsichtlich sozialer, Sicherheits- und Umweltfragen aufrechtzuerhalten.

CW: Eigentlich müßte der Staat bei der Schaffung neuer Jobs doch selbst aktiv werden.

Radermacher: Der öffentliche Sektor ist der einzige Bereich, aus dem die Mittel kommen könnten, um in voller Breite einem wirksamen Bündnis für Arbeit und damit neuen Arbeitsplätzen den Weg zu ebnen. Hierzu müssen neue Finanzierungsmodelle für bestimmte Typen von Arbeit geschaffen werden wie Zuzahlungen zu Niedrigeinkommen und die Finanzierung eines Bürgergelds. Damit ließe sich die Beschäftigung speziell im gemeinnützigen Bereich deutlich ausweiten. Das würde vielen Menschen außerhalb des öffentlichen Sektors neue und zudem sinnvolle Arbeitsperspektiven eröffnen, wenn auch auf einem deutlich schlechteren Ausstattungsniveau als heute im öffentlichen Sektor.

CW: Glaubt man den Aussagen vor allem der Verfechter einer modernen Informationstechnik, so soll der Verlust an Arbeitsplätzen durch neue Stellen im Dienstleistungsbereich wettgemacht werden. Für wie realistisch halten Sie diese Einschätzung?

Radermacher: Vor dem generellen Hintergrund eines Arbeitsplatzabbaus in klassischen Branchen wird auch der Dienstleistungsbereich nur teilweise den Verlust an Arbeitsplätzen wettmachen können. Zudem wird der Trend zu E-Commerce und zur Informationstechnik in der Dienstleistung in der Tendenz an vielen Stellen zu weniger attraktiven Jobs führen. Natürlich wird diese Entwicklung auch einen Anteil hochwertiger und hochbezahlter Arbeitsplätze mit sich bringen. Dort werden die Beschäftigten einem noch deutlich höheren Leistungs- und Zeitdruck ausgesetzt sein, als dies heute bereits der Fall ist, dafür aber auch exzellent honoriert werden.

CW: Oft wird der globale Effekt der IT für die Wirtschaft und damit auch für die Menschen als Vorteil gepriesen. Inwieweit haben die Beschäftigten in den Entwicklungs- und Schwellenländern vor diesem explosiven Hintergrund überhaupt etwas von der Globalisierung des Geschäfts?

Radermacher: Immerhin nimmt die Zahl an Arbeitsplätzen, auch an höherwertigen, in diesen Ländern beständig zu. Immer mehr Menschen werden dort also von der Globalisierung des Geschäfts profitieren können. Mehr Verteilungsgerechtigkeit wird diese Entwicklung aber auch in diesen Ländern nicht zur Folge haben.

CW: Weshalb?

Radermacher: Es wird auch in den Entwicklungsländern in absehbarer Zeit zu stark divergierenden Einkommensaufteilungen und -verhältnissen kommen, wie wir sie heute bereits aus den USA oder aus Brasilien kennen. Oder anders gesagt: Im globalen Markt werden sich die stark divergierenden Verteilungsmuster weltweit annähern.

Wenn wir ein eher europäisches Muster wollen, muß es uns gelingen, die entsprechende europäische Logik einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft in den weltweiten Rahmenbedingungen zu verankern. Genau dafür setzt sich das Information Society Forum der EU unter dem Motto "Europäischer Weg" ein. Das hätte dann entsprechende Auswirkungen sowohl auf die USA, die generell gegen soziale und ökologische Ansinnen argumentieren, als auch auf die Entwicklungs- und Schwellenländer. Um dies zu erreichen, erscheint mir eine enge Wechselwirkung zwischen Asien und Europa als wichtig, um gemeinsam die USA für eine stärkere soziale und ökologische Ausrichtung und Kofinanzierung der weltweiten Entwicklung zu gewinnen, auch wenn dies das nominale Wachstum dämpft.

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Parallel mit der Globalisierung wird der Arbeitsmarkt auf internationale Beine gestellt, weil nun via Internet hochqualifizierte und dennoch preiswerte Kräfte, beispielsweise aus Indien, an einer internationalen Wertschöpfung mitwirken können. Vor allem Vollzeitarbeitsplätze mit Routinecharakter oder mit personennaher, aber nicht wissensintensiver Dienstleistung werden vom Stellenabbau oder durch einen niedrigwertigen Stellenersatz betroffen sein.

Literaturhinweise

J. Van Dijk, R. Pestel, F. J. Radermacher: The European Way to the Global Information Society. The IPTS Report, No. 32, S. 10-16, 1999

F.J. Radermacher: Zukunft der Arbeit. Merkur (Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken), Heft 582/583, S. 829-843, Klett-Cotta, Stuttgart, 1997

F.J. Radermacher: Bewältigung des Wandels - Management of Change. Ebner Verlag, Ulm, 1998; Broschüre direkt zu beziehen beim Verlag unter der Telefaxnummer 07 31/20 56-297

F.J. Radermacher: Globalisierung, Informationsgesellschaft und nachhaltige Entwicklung. Hinweise zu einem Politikprogramm aus europäischer Sicht. Ulmensien, Band 13, Globalisierung und soziale Marktwirtschaft, Universitätsverlag Ulm; erscheint im zweiten Halbjahr 1999

Information Society Forum und Forum Info 2000: Herausforderungen 2025.

Auf dem Weg in eine nachhaltige Informationsgesellschaft/ Challenges 2025. On the way to a sustainable Information Society. FAW Ulm, 1998 (2 Hefte)

Forum Info 2000: Nachhaltige Entwicklung und Informationsgesellschaft.

Bericht der Arbeitsgruppe 3 des Forum Info 2000, Bonn, 1998

Information Society Forum: Information Society, Globalisation and Sustainable Development. Contribution of Working Group 4 Sustainability in the Information Society to the 2nd Report of the Information Society Forum. FAW Ulm, 1998

Die drei letztgenannten Broschüren können kostenlos unter der E-Mail-Adresse radermacherfaw.uni-ulm.de oder über http://www.faw.uni-ulm.de abgerufen werden.

*Hadi Stiel ist freier Jounalist in Bad Camberg.