E-Business ist eine Frage der Unternehmenskultur

20.10.2000
"Transforming your Business to E-Business" - diesen ambitionierten Titel wählten die Analysten der Giga Group für ihre Veranstaltung in Nizza. Es zeigte sich, dass vor der Diskussion über Themen wie Online-Transaktionen, B-to-B-Marktplätze oder E-Logistik Grundsatzfragen zu beantworten sind.

Eine "E-driven Company" will die Siemens AG werden. Große Teile des Geschäfts sollen in den kommenden zwei Jahren auf elektronischem Weg abgewickelt werden (siehe CW 41/00, Seite 1). Vorstandssprecher Heinrich von Pierer verkündete erst vor zwei Wochen seine E-Botschaft vor einem Presseauditorium, das wohl nur ahnte, was bei Siemens wirklich vor sich gehen soll - so zumindest las sich der anschließende Pressespiegel.

Beinahe gleichzeitig offenbarte Daimler-Chrysler-Vorstand Eckhard Cordes die E-Pläne seines Hauses. Es sei nötig, tradierte Prozesse abzulösen und mit Hilfe einer durchgängigen und übergreifenden Vernetzung Zeit und Kosten zu sparen (siehe CW 41/00, Seite 6). Allein beim Einkauf soll der Aufwand durch die Teilnahme am B-to-B-Marktplatz Covisint um 15 bis 30 Prozent gesenkt werden.

Einen Königsweg gibt es nichtSiemens und Daimler-Chrysler liegen im Trend, ebenso Unternehmen wie Intel, Dell oder Cisco, die schon weit früher ihre E-Philosophie unters Volk brachten. Der Übergang in das Zeitalter des elektronischen Business steht gegenwärtig in den meisten Konzernen ganz oben auf der Agenda. Für die Marktforscher der Giga Group war das der Grund, eine Veranstaltung ausschließlich diesem Thema zu widmen.

Eine Reihe von Praxisbeispielen zeigte jedoch, dass es den Königsweg ins E-Business nicht gibt. Jedes Unternehmen muss seine eigene Strategie entwerfen und dabei wichtige Grundregeln beachten, ohne die der Transformationsprozess scheitern dürfte.

Für Peter McAteer, Vice President und Managing Director der Giga Group, hängt alles davon ab, ob vor der Neudefinition des Unternehmens der Boden für das E-Business bereitet wird. Dabei geht es vor allem um die Unternehmenskultur: "Sie ist der Klebstoff, der in einem Unternehmen alles zusammenhält", betonte der Top-Consultant und berief sich dabei unter anderem auf Motorola-Chef Tom Glavlin und dessen Satz "Culture eats strategy for lunch". Für McAteer ist die Kultur "der praktizierte Ausdruck von Werten, die das Verhalten einer Organisation formen".

Wem es nicht gelinge, die kulturellen Weichen zu stellen, der könne auch keine Strategie für die Umsetzung der E-Business-Pläne entwickeln. McAteer sieht die Ergebnisse einer Umfrage von Pricewaterhouse-Coopers als Beleg dafür, dass vor dem Start von E-Business-Projekten wichtige Weichenstellungen versäumt werden. In der Studie heißt es: "70 Prozent der befragten US-Unternehmen bekannten, ihr größtes Problem sei es, eine schnelle und flexible Organisation aufzubauen, die den Online-Anforderungen voll gerecht wird. Die Organisationsstruktur wird für wichtiger gehalten als andere Dinge, zum Beispiel operationale Verbesserungen, Kundenzufriedenheit und -loyalität oder das Schaffen einer Internet-Währung oder einer Branding-Strategie."

Der Berater identifiziert das Thema Kultur als zentral, weil Unternehmen im Internet-Zeitalter mit völlig anderen Werten und Verhaltensmustern rechnen müssten. "Die grundsätzlichen Definitionen des Geschäfts verändern sich", mahnte McAteer. Beispielsweise sei die Entstehung neuer Online-Marktplätze eine Entwicklung, die nicht nur Einkaufsabteilungen, sondern das Kerngeschäft vieler Unternehmen und damit auch deren Kulturen tangiere.

Als Herausforderung bezeichnete der Giga-Mann in diesem Zusammenhang auch die immer engmaschigere Vernetzung von Unternehmen, die einerseits unausweichlich geworden sei, andererseits aber dem Selbstverständnis der meisten Firmen noch nicht wirklich entspreche. McAteer berief sich dabei auf einen bemerkenswerten Vortrag von David Roussain, Vice President Electronic Commerce Marketing der Fedex Corp., der ebenfalls auf der Veranstaltung zu Gast war.

Roussain beschrieb, wie sich der amerikanische Paketdienst seit Anfang der 70er Jahre in mehreren Technisierungs- und Automatisierungsschüben zu einem Dienstleister gewandelt hat, der sich heute direkt in die Prozessketten seiner Kunden einschaltet und Teile davon in eigener Verantwortung übernimmt. Warentransport, Lagerhaltung, Logistik und Rechnungsstellung werden zu Aufgaben, über die Fedex zuletzt immer stärker in die Kundenorganisationen hineingewachsen ist. "Unternehmen begannen uns Ende der 90er Jahre mit anderen Augen zu sehen", so Roussain. "Sie forderten uns auf, Bestandteil ihres vernetzten Konzerns zu werden. Sie wollten uns in ihr Geschäft integrieren."

Für die Fedex-eigene Unternehmenskultur verlangten die veränderten Marktbedingungen, sich von einem Transportdienst, der vor allem schnell und zuverlässig liefern will, zu einem Lösungsanbieter zu wandeln, der bereit und fähig ist, sich tief in die Abläufe der Kunden einzuarbeiten. Von dieser neuen Geschäftsanforderung waren 200000 Mitarbeiter zu überzeugen. Fedex formulierte zu diesem Zweck unter anderem ein "E-Business-Manifest", in dem das Unternehmen intern die "neue Wahrheit" verbreitete. "Unser neues Geschäftsmodell wäre nie entstanden, wenn wir nicht grundsätzlich unsere Kerngeschäftsaktivitäten in Frage gestellt hätten", eröffnete Roussain seinen Zuhörern.

In eine ähnliche Richtung zielte der Vortrag von Michael Salmony, verantwortlicher Direktor für den Bereich elektronische Medien bei der DG Bank AG. Komplett neue Business-Modelle müssten her, da sich der Finanzmarkt tiefgreifend verändere. Man konkurriere als Finanzkonzern nicht mehr nur mit seinesgleichen, sondern in Teilen auch mit Unternehmen anderer Branchen, die ihren Kunden beispielswiese Finanzierungsmöglichkeiten einräumen. Dazu zählen etwa die großen Automobilhersteller, aber ebenso Konzerne anderer Branchen - von British Telecom über Mannesmann und Tesco bis hin zum Fußballclub Manchester United.

Salmony beschrieb ein Modell, das die Kernkompetenzen einer Bank dreiteilt: Die herkömmliche Kundenbank wendet sich vorrangig an Privat- und Unternehmenskunden, setzt auf das Kreditgeschäft und ist stark vom Marketing abhängig. Risiko-Management ist die primäre Aufgabe der Portfolio-Bank, die unter anderem Vermögen verwaltet, Börsengänge betreut, Konzernen Finanzberatung erteilt, neue Geldmarkt-, Bonitäts- und Devisenprodukte entwickelt etc. Die Produktionsbank schließlich sorgt für Sicherheit und Validität von Banktransaktionen, Zahlungsprozessen oder Kartenverkehr.

Der DG-Manager hält es für notwendig, intensiv über die Vernetzung oder Zusammenlegung dieser einzelnen Sparten über die Grenzen konkurrierender Finanzinstitute hinweg nachzudenken. Produktionsbanken brauche man nur sehr wenige, so Salmony. "Warum sollten die DG Bank und die Deutsche Bank hier nicht beispielsweise ihre Ressourcen teilen?" Die Finanzwelt werde künftig von vernetzten Strukturen geprägt sein, so der Manager, "Collaboration" sei der Trend, der in dieser Branche alles beherrschen werde - das gelte auch für die Zusammenarbeit mit Wettbewerbern.

Salmony entwarf ein Szenario, in dem über heute konkurrierende Institute hinweg gemeinschaftliche Kundenbanken entstehen, die sich auf bestimmte Zielgruppen - ältere Leute, Kinder, Geschäftsleute, Yuppies etc. - konzentrieren. Portfolio-Banken arbeiten zusammen, indem sie sich auf bislang vernachlässigten Gebieten durch Vernetzung und Teilzukäufe verstärken. Als Beispiel nannte der DG-Mann die Übernahme der US-Vermögensverwaltungsgesellschaft Pimco durch den Allianz-Konzern für 6,1 Milliarden Mark.

Die Vision von einer komplett vernetzten Business-Zukunft, die der Fedex- und der DG-Bank-Vertreter aufzeigten, wurde von den Analysten der Giga Group geteilt. Allerdings, so betonte Research Manager Larry Paul, sei dies eine Entwicklung, die auf höchster Unternehmensebene vorbereitet und angestoßen werden müsse.

"E-Business is about Business and nothing else", betonte der Consultant mehrfach. Es gehe um die grundsätzliche Ausrichtung eines Unternehmens, um Fragen also, die auf der obersten Management-Ebene zu klären sind - und nicht um eine Spielwiese für nachgeordnete Abteilungen oder die IT-Organisation.

Bevor eine Organisation einen Transformationsprozess in Richtung E-Business einleite, müsse geklärt sein, ob die grundsätzlichen Unternehmenswerte mit den neuen Zielen kompatibel seien. Wichtig in diesem Zusammenhang sei etwa die Frage, ob der Shareholder Value, also die Kursentwicklung der Aktie, im Zentrum aller Bemühungen stehe oder ob das Unternehmen sich in erster Linie seinen Kunden verpflichtet fühle. Eine E-Strategie und alle korrespondierenden Aktivitäten müssten einer Antwort auf diese Frage untergeordnet werden. Eventuell sei es nötig, angesichts der Herausforderungen des digitalen Zeitalters bislang gültige Maßstäbe komplett umzuwerfen.

Voraussetzung dafür sei jedoch "eine zusammenhängende und jedem Mitarbeiter bewusste Vision", führte Paul aus. "Sie reduziert die Unsicherheit darüber, was im Unternehmen passieren soll." In solchen Visionen könne es beispielsweise darum gehen, die Kundenbeziehung via E-Business zu optimieren, den Marktanteil zu erhöhen, neue Märkte zu erobern oder diese gar zu monopolisieren.

Ist die E-Business-Vision definiert, gilt es, einen "E-Business-Champion" zu ernennen und alle am Veränderungsprozess beteiligten Menschen, Abläufe und Technologien auf eine Linie zu bringen, also auf das gemeinsame Ziel auszurichten (Alignment). Betroffen seien generell alle "Stakeholder": Geschäftsleitung, IT-Management, Marketing und Vertrieb, Personalabteilung, Produktion - aber auch Kunden und gegebenenfalls Aktionäre müssten auf das gemeinsame Ziel eingeschworen werden.

Dazu gelte es, die beteiligten Gruppen systematisch zu befragen. Ein CEO habe sehr wahrscheinlich andere Vorstellungen als ein CIO oder ein Aktionär, ob in Zukunft die Profitabilität Vorrang vor der Umsatzsteigerung haben soll, die Kunden- oder die Mitarbeiterzufriedenheit zu verbessern ist oder die Effizienz gesteigert werden soll. "Verschiedene Stakeholder haben unterschiedliche Interessen", so Paul. Eine für alle Beteiligten klare Priorisierung sei deshalb zwingend.

Anschließend müsse geklärt werden, welche Faktoren ein Geschäft stützen und vorantreiben (Business Drivers). Geht es dem Unternehmen beispielsweise darum, besonders preiswert anzubieten? Oder will es vorrangig neue Informationen über seine Kunden bekommen, um diese zielgerichtet bedienen zu können? Vielleicht sollen auch Prozesszyklen verkürzt, die Flexibilität erhöht, Intermediäre ausgeschaltet oder eine neue Markenstrategie aufgesetzt werden, um sich damit von der Konkurrenz stärker abzusetzen. Wesentlich sei es, diese Business Driver klar zu identifizieren.

Es folgt die Auseinandersetzung mit den Prozess-, Organisations- und Technologierisiken. Dazu zählen in einem solchen Transformationsprozess laut Paul beispielsweise das mehr oder weniger freiwillige Festhalten an bestehenden Prozessen, Probleme mit bestehenden Vertriebs- und Handelskanälen oder auch die zum Teil noch unausgereifte Technik.

Erst wenn diese Hausaufgaben - insbesondere die Ermittlung der Business Driver - erledigt sind, steht fest, welche Prozesse im Unternehmen priorisiert werden müssen. Kristallisiert sich beispielsweise heraus, dass Partnerschaften stärker gepflegt, die Sales Force ausgebaut, die Fulfillment-Fähigkeit verbessert und die internationale Präsenz erhöht werden müssen, dann lassen sich konkrete Projekte aufsetzen. Andere Vorhaben, die zum Teil vielleicht schon angelaufen sind, können bei Bedarf zurückgefahren, die Ressourcen neu verteilt werden.

Paul betonte die Wichtigkeit eines kontrollierten Vorgehens, vor allem sei eine permanente Ergebnismessung und -sicherung erforderlich. "Prüfen Sie Ihre E-Business-Strategie und die zugrundeliegenden Annahmen mindestens einmal im Quartal", forderte er sein Publikum auf.

Heinrich Vaske

hvaske@computerwoche.de