DV-Technik muss die Details des Anwenderunternehmens abbilden "CAx-Systeme sind Werkzeuge fuer Lean-Production-Konzepte"

11.06.1993

So vielgestaltig die mit Computer Aided Technologies (CAx) befasste Branche auch zu sein scheint, trotz weitverbreitetem Hang der Anbieter zu abgeschotteten Loesungen lassen sich doch Trends ausmachen, die in die Zukunft weisen. CW-Redakteur Ludger Schmitz sprach ueber solche Entwicklungen mit Udo Keim, Marketing-Leiter der Control Data GmbH, und Fritz Kuederli, General Manager CAD/CAM Business Unit der Control Data Systems Inc.

CW: In der CAD-CAM-Branche redet jeder Anbieter von Standards. Dem Integrations- und Kommunikationsstandard Step getreu zu sein, haben etliche Hersteller schon behauptet, bevor der Realitaet war. Eine Marketing-Masche?

Kuederli: Wir koennen bislang nicht von einem Standard reden, aber es gibt Ansaetze dazu. Viele Hersteller haben damit begonnen, diesen voraussichtlichen Standard zu implementieren. Die Zielrichtung ist voellig richtig, denn wir muessen zu einheitlichen Regelungen kommen, die ueber das hinausgehen, was wir bisher haben.

CW: Schon bis zur ersten Step-Fassung hat es lange gebraucht. Bei der Arbeit an Step-2 soll es massive Behinderungen durch einzelne Anbieter geben.

Keim: Je mehr Leute an dem Step-Kuchen mitarbeiten, und es arbeiten viele mit, um so mehr individuelle Meinungen und Probleme kommen hinein. Ein gewisses protektionistisches Verhalten bezueglich der eigenen Staerken ist nicht ueberraschend.

Natuerlich will die CAD/CAM-Industrie - vielleicht mit ein oder zwei Ausnahmen - den Step-Standard, denn man hat mittlerweile sehr wohl erkannt, dass niemand die Loesung fuer alle Anwenderwuensche hat. Die Forderung der Industrie nach produkt- und nicht nur geometriebeschreibenden Informationen im Datenmodell zwingt zu einem neuen Transportvehikel zwischen den CAx-Systemen, denn die bisherigen Schnittstellen sind dafuer voellig unzureichend.

CW: Waehrend sich mit Step die Schnittstellen zwischen CAD und CAM verbessern, gibt es zwischen CAD/CAM und Produktionsplanungs- und -steuerungs-Systemen groessere Schwierigkeiten.

Keim: Das haengt vor allem damit zusammen, dass man zwischen CAD und CAM etwa zu 80 Prozent Geometrie und zu 20 Prozent fertigungstechnische Informationen austauscht. Bei PPS sind es jedoch zu 100 Prozent textliche Informationen, und als gemeinsamer Nenner laesst sich bestenfalls die Sachnummer oder aehnliches finden. Dabei ist immerhin schon hilfreich, dass sich bei PPS-Systemen ein deutlicher Trend zu offenen Systemen abzeichnet und es so zu mehr Standardisierung kommt.

CW: Benutzeroberflaechen sollen dem Anwender durch die immer komplexeren Systeme helfen. Icons bis zum Abwinken?

Kuederli: Je bequemer Sie es haben, desto mehr Informationen sind auf dem Bildschirm, so dass es irgendwann unuebersichtlich wird. Hier muss natuerlich ein ausgewogenes Verhaeltnis gefunden werden. Wichtiger ist jedoch, dass man mit dieser Art der Oberflaechengestaltung anwenderspezifische Unterschiede in der Arbeitsweise realisieren und fuer eine bestimmte Anwendung mit der jeweils optimalen Benutzerfuehrung arbeiten kann. Wer beispielsweise Freiformflaechen konstruiert, braucht eine andere Benutzeroberflaeche als derjenige, der eine NC-Bearbeitung durchfuehrt.

CW: Warum anwendungsspezifische Benutzeroberflaechen?

Keim: Mit einem CAD/CAM-System arbeiten Designer, Berechnungsingenieure, Konstrukteure, Fertigungsfachleute etc., und jeder sieht das Produkt auf dem Bildschirm aus einer voellig anderen Sicht. Ein Designer faengt bei Null an und modelliert. Der Arbeitsvorbereiter hingegen betrachtet das Modell als ein Ganzes, das er durch Bohren, Fraesen und Drehen aus einem Materialblock herstellen muss. Diesem Anwender muss eine voellig andere Funktionalitaet geboten werden als dem Designer.

CW: Das hat logischerweise zur Folge, dass ein Anwender sein System modular an seine Arbeitsprozesse anpassen koennen muss. Gibt es Grenzen der Freiheit?

Kuederli: Der Anwender muss sicher die Parameter aendern koennen, die fuer sein Umfeld wichtig sind, um sich eine moeglichst komfortable Umgebung zu schaffen, aber natuerlich sollte er auf gar keinen Fall die Moeglichkeit haben, tief in das System einzugreifen. Die Logik des Systems zu aendern, waere eine gefaehrliche Sache.

CW: Sie gestatten ihm also, die Benutzeroberflaeche zu aendern, aber dann ist SchluKeim: Ein bisschen mehr: Die Benutzeroberflaeche anpassen heisst, sich beispielsweise die am haeufigsten gebrauchten Funktionen optimal anordnen zu koennen, Darstellungsfarben auszuwaehlen und so weiter. Eine individuell gestaltungsfaehige Arbeitsumgebung muss aber auch die Anpassung firmenspezifischer Groessen wie die korrekte Definition von Zeichnungsrahmen, Strichstaerken, Beschriftungen etc. ermoeglichen, die Bauteilsuche ueber eigene Sachmerkmale erlauben und vor allem eine vollstaendige Kommunikation zwischen allen Arbeitsplaetzen realisieren.

Kuederli: Das System muss gestatten, die Organisation, den Informationsfluss eines Unternehmens vollstaendig abzubilden, und zwar ueber von aussen zugaengliche Parameter, nicht ueber Systemprogrammierung. Je flexibler ein solches System bezueglich des Anwenderumfeldes ist, desto weniger Zugriffe auf die Systemebene muss ich erlauben.

CW: Was bedeutet die Forderung nach Lean Production fuer CAxSysteme?

Kuederli: CAx-Technologien sind wesentliche Werkzeuge fuer die Realisierung von Lean Production in der Produktentwicklung. Die bei vielen Anwendern uebliche grosse Zahl von Varianten ist durch CAD mit vergleichsweise minimalem Aufwand zu beherrschen. CAx- Systeme koennen das Konzept der Lean Production bei Systematisierung und Qualitaetssicherung ebenso wirkungsvoll unterstuetzen wie bei der Kommunikation und Steuerung von Informationsfluessen.

CW: Die CAx-Anbieter schlagen den Kunden Simultaneous oder Concurrent Engineering als eine Abloesung sequentieller Prozesse vor. Inwieweit unterstuetzten die Produkte dies ueberhaupt schon?

Keim: Ich glaube, es wird von den Produkten bereits mehr unterstuetzt als teilweise von den Organisationsformen. Das Konzept des Simultaneous oder Concurrent Engineering ist sozusagen aus Computersicht heute bereits durchaus realisierbar und wird auch fallweise durchgefuehrt. Mit einem System wie unserer EDL kann ich nicht nur die individuellen Daten verwalten, sondern eben auch den zugehoerigen Prozess- und Informationsfluss. Ein solches System stellt ueber automatische Datenerfassung, Zugriffskontrollen und Freigabemechanismen sicher, dass verschiedene Anwender mit verschiedenen Systemen weitgehend simultan auf eine Konstruktion zugreifen und verschiedene Aufgaben daran durchfuehren koennen. So etwas ist in einer derart kontrollierten und sicheren Form nur mit Hilfe der DV moeglich. Aber die grundlegende Voraussetzung, um es auch wirtschaftlich erfolgreich durchzufuehren, ist eine entsprechende Organisation im Unternehmen.

CW: Also ist hier eine Aenderung seitens der Anwender gefragt, obwohl die Angst haben, die DV zwinge ihnen eine Organisation auf, die der ueber Jahre entwickelten Unternehmensstruktur nicht entspricht.

Kuederli: Ja, und das ist eben der falsche Schluss. Die DV zwingt nicht auf, die DV bietet die Moeglichkeit an. Man fuehrt Simultaneous Engineering ja nicht ein, weil die DV das erzwingt, sondern weil man damit etwas erreichen will, naemlich in kuerzerer Zeit ein optimales Produkt in hoeherer Qualitaet herzustellen, und dies in moeglichst vielen Varianten. Um die Chancen, die die DV dazu bietet, voll ausschoepfen zu koennen, muss man eben auch eine entsprechend angepasste Organisationsform waehlen.

CW: Begruenden Sie mit mangelnder Anpassung der Unternehmensorganisationen auch das allenthalben beklagte Ausbleiben der erhofften Produktivitaetsgewinne?

Kuederli: Wenn ich in einem Betrieb organisatorisch genauso weitermache wie bisher, also das Zeichenbrett durch den Bildschirm ersetze und damit zwar die neuen Technologien zur Verfuegung habe, aber das Umfeld nicht aendere, dann bleibt der erhoffte Return on Investment zwangslaeufig aus.

Keim: Natuerlich tragen auch die Systemhersteller einen grossen Anteil an der hohen Erwartungshaltung gegenueber den CAx- Technologien und demzufolge an den enttaeuschten Erwartungen. Vor zehn, fuenfzehn Jahren herrschte auf beiden Seiten grosse Euphorie, da trafen Computerfreaks auf technikbegeisterte Anwender. Man ueberlegte, was alles theoretisch machbar sein koennte, und mancher dachte eben schneller, als hundert gute Programmierer in zehn Jahren entwickeln koennen.

Heute koennen die Systeme tatsaechlich sehr viel - fuer manche Anwender wahrscheinlich sogar zu viel. Aber oft wird dem Kunden nicht deutlich gemacht, dass er diese ganzen Moeglichkeiten nur ausschoepfen kann, wenn er auch geeignete Aufwendungen fuer Anpassung, Ausbildung und strukturelle Aenderungen einplant.

CW: Bisher sass der Anwender am Zeichenbrett, musste also zweidimensional arbeiten. Jetzt macht er 3D-Modelling direkt am System, in einem Arbeitsgang. Muss der Benutzer eine ganz neue Arbeitsweise erlernen?

Keim: Ja und nein. Ein Konstrukteur denkt natuerlich raeumlich und muss dann seine Gedanken in 2D abbilden. Das hat er gelernt. Wenn er jetzt mit einem neuen Werkzeug arbeitet, das ihn in die Lage versetzt, sofort im Raum zu modellieren, dann muss er den Gebrauch dieses Werkzeugs natuerlich ebenso lernen. Aber - und das ist der springende Punkt dabei - er muss es dann auch wirklich als 3D- System anwenden, um den Nutzen zu erzielen. Wenn man das System zum elektronischen Zeichenbrett degradiert, eine Zeichnung nur ausplottet, um sie an die Fertigung weiterzugeben, die dann mit einem anderen System daran weiterarbeitet, ist der Nutzen freilich fraglich.

CW: Ein Slogan von Control Data lautet: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das halte ich nun fuer ausgemachten Bloedsinn. Seit wann sind zwei plus zwei mehr als vier?

Keim: Wir sind ganz im Gegenteil der Ansicht, dass dieser Satz sehr praezise die Vorteile unseres Icem-Konzeptes beschreibt. Icem ist eben nicht ein allgemeines CAD-System fuer jeden Zweck. Wir sind davon ueberzeugt, dass man mit einem einzigen, generellen CAD/CAM- System bei weitem nicht alle Anforderungen optimal abdecken kann, sondern dass man in bestimmten Bereichen hochspezialisierte Pakete, Punktloesungen braucht, wenn man das Optimum erreichen will.

Und wir fuegen diese einzelnen Spezialpakete zueinander passend zusammen. Mit genau abgestimmter offener Hardware, einem stabilen Netzwerk und der richtigen Datenbank. Natuerlich koennte man vieles davon auch woanders und vielleicht sogar ein wenig preiswerter bekommen. Aber dann braucht man jemanden, der aus den Teilen ein Ganzes macht, naemlich die genau auf den individuellen Bedarf zugeschnittene Loesung. Und da wird es dann schwierig. Deswegen bieten wir mehr als die Summe einzelner Teile.