DDR-Übersiedler: Sehnsucht nach Leistung

DV-Spezialisten aus der DDR suchen eine neue Zukunft im Westen

15.12.1989

Seit die Mauern gefallen sind, die jahrzehntelang das SED-Reich zusammengehalten hatten, ergießt sich ein Strom von DDR-Bürgern in den Westen. Es ist nicht der Reichtum in der Bundesrepublik, der sie lockt - es sind die Arbeitsbedingungen. Mehr als alles andere ist es der Überdruß an der Ineffizienz, der gerade die Kompetenten und Engagierten zur Flucht in die westliche Leistungsgesellschaft treibt. Was erwartet sie hier?

Es ist einfach phantastisch. Phantastisch, nicht nur gut." Thomas P. scheint es immer noch nicht ganz fassen zu können. Vor einem Monat hatte er zusammen mit seiner Frau in Ostberlin das Flugzeug nach Budapest bestiegen. Innerhalb weniger Tage hatten sie Arbeit gefunden, eine Wohnung - ein Ein-Zimmer-Appartement nur, "aber immerhin ein Anfang" - bekamen sie über den Arbeitgeber der Frau. Nie hätte er gedacht, daß das alles so reibungslos gehen könnte.

Der eigentliche Grund seiner Begeisterung aber ist die neue Arbeit bei einem Softwarehaus in einem Vorort Münchens. Die Bezahlung ist nicht eben üppig, doch die Bedingungen, sagt er, "sind glänzend". Die komfortable Umgebung, die technischen Möglichkeiten, die "hochqualifizierten Kollegen", das alles beeindruckt ihn sehr.

Die Arbeitsmöglichkeiten waren es denn auch, die "wesentlich besseren Möglichkeiten zur beruflichen Entwicklung", die ihn in den Westen lockten - "auf keinen Fall Bananen, Golf GTI und so weiter". Nach seinem Diplom in Wirtschaftsinformatik hatte er zwei Jahre in einem Softwarehaus gearbeitet, wo er mit Kalkulationsprogrammen, Basic und "Redabas", einer ostdeutschen Dbase-Variante, unter MS-DOS medizinische Anwendungen erstellte. Das war "im Grunde keine schlechte Arbeit", aber keine Zukunft für seine beruflichen Ambitionen. Im professionellen Bereich, meint er, werden sich Unix und C immer mehr durchsetzen, und genau darauf ist sein neuer Arbeitgeber spezialisiert.

312 258 DDR-Bürger haben in diesem Jahr (bis einschließlich 7. Dezember) ihr Land verlassen, mehr als 140 000 allein seit der Öffnung der Grenzen. Anders als in den vergangenen Jahren sind es jetzt die Jungen, die kommen, gut ausgebildete, engagierte und unternehmungslustige Leute - Handwerker, Facharbeiter, Pflegepersonal, Ärzte, Ingenieure.

Angesichts dieser Menschenflut wächst in beiden Staaten die Angst vor einem Ausbluten der DDR. Sollte sie anhalten könnten die Hoffnungen auf einen schnellen wirtschaftlichen Neubeginn allein schon am Mangel an qualifizierten Arbeitskräften scheitern.

Robotron, der größte, auch international anerkannte Hersteller von DV-Hardware in der DDR, hat bislang etwa l300 seiner gut 68 000 Mitarbeiter verloren. "Überwiegend Produktionspersonal", betont Pressesprecher Dietmar Otto, "nur wenige aus den Bereichen Forschung und Entwicklung". Von zirka 2000 Software-Entwicklern, sagt er, hätten sich bis Ende November gerade sieben in den Westen abgesetzt, und aus dem mittleren Management fünf.

Doch die Grenzen sind erst einen Monat offen, und die meisten befürchten, daß der eigentliche Brain-Drain noch kommt. Jetzt schon scheinen es gerade die Kompetentesten und Engagiertesten zu sein, die das Land verlassen. Westdeutsche Firmen jedenfalls, die einen DV-Übersiedler eingestellt haben, äußern sich ausnahmslos positiv, vor allem über den Arbeitseinsatz.

Der technische Rückstand der DDR gegenüber dem Westen wird gemeinhin nicht als ein Problem gesehen. Die Qualifikation, die jemand aus dem Ausbildungssystem mitbringt, entspricht, wie ein IBM-Sprecher anmerkt, grundsätzlich nicht der Arbeitsplatzqualifikation, so daß bei jeder Neueinstellung eine mehr oder weniger umfangreiche Zusatzausbildung erforderlich ist.

Sofern ein solides Grundwissen vorhanden ist - und zumindest die Elektronikausbildung in der DDR gilt als "sehr gediegen" - scheint es keinerlei Vorbehalte gegenüber den Übersiedlern zu geben. Die zehn Ost-Informatiker, die sich bis jetzt beim Arbeitsamt München meldeten, und die sämtlich eine "sehr gute Ausbildung" hatten, waren denn auch nach wenigen Tagen vermittelt - zu Siemens, Versicherungen und Softwarehäusern.

Uwe R. aus Jena kehrte Ende 1988 von einem Besuch bei seinen Großeltern nicht mehr in die DDR zurück. Der Software-Entwickler rechnet damit, "daß jeder Wissenschaftler oder Ingenieur, der hier im Westen besser verdient oder bessere Arbeitsbedingungen findet als im Osten - und das sind vor allem die, die was können - früher oder später abwandert". Noch allerdings scheinen die meisten abzuwarten, was aus der ostdeutschen Perestroika wird.

Schon an der Uni war ihm und seinen Kommilitonen klar: Wenn wir in die Praxis kommen. dann ist es schade, daß wir überhaupt studiert haben. Dann geht das ganze Wissen nur wieder verloren. In den Betrieben wird man vor ein eingefahrenes System gestellt, wo man dann über kurz oder lang aufsteckt und möglichst keine Eigeninitiative mehr zeigt ."

Die einzige Chance für die DDR, darüber scheinen sich alle einig zu sein, ist eine umfassende Wirtschaftsreform. Alles hängt davon ab, ob und wie schnell es gelingt, die gesellschaftlichen Strukturen, vor allem auch in den Unternehmen, neu zu organisieren.

Eine entscheidende Rolle bei der Reorganisation wird die Durchsetzung des Leistungsprinzips spielen. Die "Werktätigen" fordern leistungsgerechte Bezahlung und die Trennung von politischer und beruflicher Karriere. Sie leiden zunehmend unter der Unflexibilität der mehr von politischen als von sachlichen Kriterien bestimmten Strukturen.

Aus dem Management kommt zusätzlich die Forderung, die Betriebe von lähmenden sozialen Verpflichtungen zu befreien. "Es gibt bestimmte soziale ,Errungenschaften' in der DDR", sagt Gabriele B., seit Anfang Februar in der Bundesrepublik, "die sind so sozial, daß sie schon wieder schlecht für die Gesellschaft sind". Zehn Jahre hatte sie mit sich und den Umständen gekämpft, ehe sie aufgab und sich schweren Herzens zum Gehen entschloß. Ohne in der Partei zu sein, hatte sie es bis zur Abteilungsleiterin gebracht, verantwortlich für die Entwicklung eines CAD/CAM- Systems, das schließlich mit dem Nationalpreis in Gold ausgezeichnet wurde.

"Bei der derzeitigen Struktur in der DDR ist es einem Vorgesetzten so gut wie unmöglich, einen unfähigen Mitarbeiter loszuwerden. Ob der nun zu trinken anfängt, ob er kriminell wird oder Arbeitsbummelant, es ist immer dasselbe: Sie müssen versuchen, ihn zu kurieren." Gleichzeitig, sagt sie, habe das "SED-Bonzentum sehr viele in Positionen gebracht, die sich vor allem dadurch auszeichnen, daß sie die richtigen Reden zum richtigen Zeitpunkt schwingen. Die Unfähigen und die Bonzen, diese ganzen ,Quasi-Arbeitslosen', die nichts bringen, die der Betrieb nicht braucht, die aber durchgefüttert werden müssen, führen dazu, daß er unproduktiv und steif wird."

Was die Chancen der Umgestaltung angeht, ist Frau B. noch sehr skeptisch. "Selbst wenn sie gelingt, wird es sehr lange dauern, mindestens fünf bis zehn Jahre." Viel zu sehr habe sich der Staat in die Menschen hinein ausgebreitet.

Schneller, vermutet Uwe R., geht es höchstens mit westlicher Hilfe. "Wenn westdeutsche Firmen Betriebe in der DDR aufmachen - und wenn die dann auch ordentlich bezahlen - dann könnte das vielleicht die Leute dort halten."

Noch aber ist es nicht so weit. Immer noch verlassen jede Woche Tausende die DDR. Eine zumindest ungefähre Vorstellung von dem, was sie erwartet, haben die meisten Manche, wie etwa Thomas P., der genau Bescheid wußte über die Gehälter in der westdeutschen DV-Branche, haben sich systematisch auf ihren Sprung ins kalte Wasser vorbereitet.

Die individuell Vorbereitung ist dringend nötig. Im Westen nämlich ist kaum jemand auf die Flut aus dem Osten vorbereitet. Ob Betriebe oder Gewerkschaften, ob Arbeitsämter, Behörden oder sonstige Institutionen - auf die Idee, daß es hier Probleme und Handlungsbedarf geben könnte, scheint niemand zu kommen. Falls doch, ist man nicht, zuständig. Immerhin schaffte es die Bundesanstalt für Arbeit, die Zeit bis zur ersten Überweisung des Arbeitslosengeldes von fünf bis acht Wochen auf zwei Wochen zu drücken.

Nicht, daß man etwas gegen die Zuzügler hätte. Im Gegenteil. Sie sind durchaus willkommen - als dringend benötigte Arbeitskräfte, als Steuerzahler, als mögliche Retter der Rentenversicherung. Damit aber hat es sich auch schon fast.

Beratungsstellen oder wenigstens Broschüren und Merkblätter, die den Übersiedlern bei der Orientierung in der bundesdeutschen Gesellschaft helfen könnten, die sie über den Arbeits- oder Wohnungsmarkt informieren, sie auf Gefahren und Chancen hinweisen oder über ihre Rechte und Pflichten aufklären, sucht man meist vergebens.

Am rührigsten noch sind die Industrie- und Handelskammern. Sie geben sich alle Mühe, die Anerkennung von Prüfungs- und Abschlußzeugnissen schnell und unbürokratisch zu erledigen. Einige Kammern bieten in der Nähe der Auffanglager zusätzlich einen "Sonderservice", zusammen mit den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften beispielsweise ein Infomobil im zentralen Gießener Aufnahmelager.

Daß die Neuankömmlinge übers Ohr gehauen werden könnten bei ihren ersten Schritten im Westen, befürchtet offensichtlich niemand. Peter Blume vom Industrie- und Handelstag glaubt, daß die Arbeitgeber schon im eigenen Interesse auf unfaire Angebote verzichten. "Würde es jemand versuchen, wäre das, wenn es aufkommt. dem Betriebsklima doch ziemlich abträglich. Auch der Mittelstand will ja die Motivation und den Leistungswillen seiner Mitarbeiter erhalten, und die gingen kaputt, wenn irgendwo gedumpt würde." Er vermutet, daß sich das Problem eines ,Sozialdumpings' allenfalls im grenznahen Bereich stellen könnte, wo Pendler aus der DDR, zumindest wenn es so bleibt wie derzeit, westdeutsche Hungerlöhne, schwarz getauscht, in DDR-Spitzengehälter verwandeln könnten.

Doch auch ohne böse Absicht kann es Probleme geben, bei denen Beratung dringend notwendig wäre. Denn nicht nur die Übersiedler, auch die Arbeitgeber wissen häufig nicht, worauf sie sich da einlassen. Häufig müssen die Umsiedler deshalb beim Einstiegsgehalt einen gewissen Risiko- beziehungsweise Ausbildungsabschlag hinnehmen.

Noch mehr als sonst ist das, was angemessen ist, hier eine Ermessensfrage - und damit ohne kompetente Beratung für einen Übersiedler kaum zu entscheiden.

Eicke Lenz vom Münchener Arbeitsamt etwa erinnert sich an einen Fall, in dem drei Angebote, mit Anfangsgehältern zwischen 3000 und 4500 Mark brutto, zur Wahl standen. "Er nahm das mit 3000 - auf meinen Rat hin, denn es war mit Abstand das beste. Da bekommt er während der Probezeit Schulungen im Wert von ungefähr 14 000 Mark, und anschließend ein Gehalt von 5000 Mark - vertraglich zugesichert. Außerdem war es eine Top-Adresse."

Offiziell wird es zwar abgestritten, doch auch Unerfahrenheitsabschläge kommen vor. Holger P. etwa, im Oktober '88 aus Dresden gekommen, ist sich heute sicher, daß er beim Einstellungsgespräch schon ein Stück über den Tisch gezogen wurde. "Da kommt die Frage ,Was möchten sie verdienen?' und wenn man dann achselzuckend dasitzt, merkt der Partner natürlich, daß man keine Ahnung hat, was man fordern soll. Da wird einem dann ein Gehalt genannt, das klingt erst mal beeindruckend und man sagt, Ja"

Sonderlich tragisch jedoch scheint derartige Erfahrungen keiner der DV-Übersiedler zu nehmen. Auf ein mehr oder weniger hartes Berufsleben, vor allem in der Anfangszeit, hatten sie sich eingestellt. Da wird manches als Lehrgeld abgebucht. Daß sie es letztendlich schaffen -wenn nötig, eben in einer anderen Firma - daran zweifelt eigentlich keiner von ihnen. Fürs erste geht es einmal darum, einen Einstieg zu finden und wieder auf eigenen Beinen zu stehen.

Im Normalfall ist das Arbeitsamt die erste und wichtigste Anlaufstelle für jeden Übersiedler. Weil er in der Regel völlig mittellos ankommt, braucht er das Arbeitslosengeld, um sich überhaupt erst irgendwo bewerben zu können. Nachdem sich sonst niemand zuständig für ihn fühlt, hängt alles vom Engagement des jeweiligen Beraters ab, auf den er trifft. Setzt der sich für ihn ein, hat er Glück. Wenn nicht, muß er selbst sehen, wie er sich durchwurstelt.

Beate S. hatte Pech. Vor etwa zwei Jahren, als die Verhältnisse in der DDR noch stabil waren, hatte sie einen Ausreiseantrag gestellt. Die daraufhin einsetzenden Repressalien - "Degradierung zum Hilfsarbeiter, öffentliche Verleumdung, Überwachung, Kündigung, mehrfache Verhaftung, eingeschränkte Reisemöglichkeit, tägliche Meldepflicht" -hatten sie "seelisch so kaputt gemacht", daß sie sich im Westen dann, wie sie glaubt, eindeutig zu schlecht verkaufte. Weil sie nicht wußte, wann sich wieder etwas bieten würde, nahm sie die erste Stelle an, die sich bot. Obwohl sie weit unter ihrer Qualifikation war.

In dieser Situation hätte sie gerne etwas mehr Hilfe vom Arbeitsamt gehabt. "Doch die haben eigentlich nur den Antrag aufgenommen und in ihre Kartei gesteckt. Danach hab ich nichts mehr gehört. Man sagte mir, um das Weitere möge ich mich jetzt bitte selber kümmern. Hinweise, was regional möglich ist, gab's überhaupt keine. Und obwohl ich mehrmals danach fragte, bekam ich auch in keiner Form eine Gehaltsrichtlinie." Inzwischen weiß sie mehr, verdient mehr und arbeitet mit Erfolg an einer neuen Karriere.

Zurückgehen will keiner, auch wenn dem einen oder anderen der Abschied schwer gefallen ist. Eicke Lenz wundert sich manchmal, "wie die ihre Heimat so einfach aufgeben können; es erstaunt mich immer wieder, mit welcher Kälte das überspielt wird". Aber vielleicht wird hier gar nicht überspielt. Thomas P. jedenfalls fühlt sich absolut nicht im Exil. Seine Kälte ist zum Teil kühle Spekulation - auf künftige Normalität. Er ist sich sicher: Irgendwann, in gar nicht so ferner Zukunft ist das, was noch Anfang des Jahres eine Flucht war, nicht mehr als eine ganz normale Wahl des Arbeitsplatzes irgendwo im gemeinsamen europäischen Haus.