DV- Entwicklungstempo mindert Qualitätsbewußtsein

29.08.1980

"Die DV-Anwender wurden in den letzten Jahren mit einem hohen Entwicklungstempo im Hardware-Bereich konfrontiert," konstatiert Siegfried Rhein von der Coca Cola GmbH in Essen. Dies habe inzwischen die DV-Verantwortlichen zu einer differenzierteren Betrachtung gezwungen, denn die von "fleißigen VBs" und in "schönen Hersteller-Prospekten" proklamierten Verbesserungen hätten immer nur begrenzt realisiert werden können. "Erhoffte Rationalisierungseffekte", so Rhein, "blieben dabei häufig auf der Strecke." Auch Dr. Horst Kiesow (Deutsche Babcock AG) ist mit dem DV-Entwicklungsspeed nicht ganz zufrieden: "Die Hersteller werden heute durch den verstärkten Wettbewerb zu einem Tempo getrieben, das sich schließlich darin äußert, daß unfertige Produkte auf den Markt gebracht werden." Eine exakte Langfristplanung bei der Hardware, ärgert sich Dr. Hans Peter Naumann von der R+V Versicherung AG, sei durch die Ankündigungsstrategien der Lieferanten kaum noch möglich.

Dr. Horst Kiesow

Geschäftsführer DVO,

Deutsche Babcock AG, Oberhausen

Die Frage, ob das Entwicklungstempo der DV-Techniken zu schnell ist oder nicht, muß in zwei Teile gespalten werden:

- Ist eine rasche Entwicklung der Techniken wünchenswert?

- Ist die stattfindende Entwicklung zu schnell?

Die erste dieser beiden Fragen ist grundsätzlich mit ja zu beantworten. Wir EDV-Leute haben nämlich den Kunden schon vor zehn Jahren Möglichkeiten versprochen, die wir mit den heute verfügbaren Techniken gerade erst realisieren können. Erst seit ein paar Jahren sind zu wirtschaftlich vertretbaren Preisen hinreichend schnelle Zentraleinheiten und hinreichend schnelle Periphene-Einheiten mit großem Fassungsvermögen verfügbar, die es uns gestatten, sowohl große Datenmengen in komplexen Datenbanken zu verwalten als auch ein großes Terminalnetz mit hinreichend kurzen Antwortzeiten zu betreiben und selbst komplizierte Algorithmen auf technischem oder kommerziellem Gebiet in Anwendung zu bringen.

Ein weiteres signifikantes Beispiel ist das Thema, "Computer Aided Design (CAD)". Seit über zehn Jahren sprechen Fachleute immer wieder auf Kongressen über dieses Thema und seit über zehn Jahren gibt es die ersten Pilotanwendungen in der Industrie über erst heute sind genügend ausgereifte Soft- und Hardware-Systeme zu vernünftigen Preisen verfügbar, um diese neue technische Revolution mit Aussicht auf Erfolg in Gang zu bringen. Und immer noch stoßen heute viele EDV-Anwendungen an die Kapazitätsgrenzen der Hard- oder Software-Produkte, die zu ihrer Realisierung verwendet werden. Wir brauchen daher noch leistungsfähigere Techniken.

Die zweite Frage ist ganz anders zu beantworten. Durch die objektiven Anforderungen der Anwender und durch den Konkurrenzdruck werden die Hersteller von Hard- oder Software-Systemen heute zu einem Tempo getrieben, das sich schließlich und endlich darin äußert, daß technisch unfertige Produkte auf den Markt gebracht werden. Es sei daran erinnert, daß selbst namhafte Hersteller ständig umfangreiche Korrekturen an ihrer Modellpolitik vornehmen müssen. Das läßt in vielen Fällen eindeutig den Schluß zu, daß man mit diesen Modellreihen zu früh auf den Markt gegangen ist.

Über manche neuen Techniken oder Konzepte wird häufig schon jahrelang theoretisch geschwatzt, ohne daß konkrete Erfahrungen aus der harten Praxis vorliegen.

Jeder EDV-Chef, der Fremdsoftware in seinem Betrieb einsetzt, muß leider immer wieder die Erfahrung machen, daß Produkte auf dem Markt sind, die nur sehr ungenügend ausgetestet sind.

Selbst die EDV-Anwender machen dieses Spiel mit. Es wimmelt in manchen Fachzeitschriften von Artikeln über bestimmte realisierte Problemlösungen. Diese Artikel lesen sich wunderbar, aber die dahintersteckende Realität sieht oft ganz anders aus. Die Projekte befinden sich in der Einführungsphase, Erfahrungen sind noch nicht gesammelt, die EDV-Programme selbst sind noch fehlerhaft. Kurz und gut, von praktischer Erfahrung und praktischer Erprobung kann überhaupt noch keine Rede sein.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Wir brauchen den soliden Fortschritt in der Hard- und Softwaretechnik, um die schon lange bekannten Forderungen der Anwender endlich erfüllen zu können. Uns schadet aber der Pseudofortschritt, der in manchen DV-Gazetten hochgespielt wird und nur der Selbstbespiegelung der EDV-Fachleute dient.

Siegfried Rhein

Leiter der Hauptabteilung DV,

Coca Cola GmbH, Essen

( IBM 370/158, OSV/S1)

Wer wollte schon bestreiten, daß weitere Fortschritte in der DV-Technologie ständig dringend erforderlich sind, und zwar so schnell, und nachhaltig als nur eben möglich. Und in der Tat: Vor allem im Hardware-Bereich ist der Anwender in den letzten Jahren mit einem sehr hohen Entwicklungstempo konfrontiert gewesen. Anlagen und Geräte mit erheblich verbesserten Leistungswerten zu günstigeren Preisen haben zur Entlastung des DV-Budgets beigetragen oder Zugang zu neuen Anwendungsmöglichkeiten eröffnet. Das zumindest behaupten viele fleißige VBs und schöne bunte Hersteller-Prospekte. Des Management des Anwenders ist entsprechend beeindruckt und voller Erwartungen.

Die DV-Verantwortlichen sind jedoch in aller Regel zu einer differenzierten Beurteilung gezwungen. Denn plötzlich stellt sich heraus, daß zum Beispiel die neuen Platten auch eine neuen Daten-Organisationsform bedingen, daß das neue System nur unter einem neuen Betriebssystem optimal gefahren werden kann, daß bestimmte, soeben erst mühsam implementierte Dienstprogramme unbrauchbar geworden sind oder modifiziert werden müssen.

Und wenn all diese Probleme dank einer gut funktionierenden Systemprogrammier-Gruppe bewältigt werden können (aber wie viele der DV-Anwender können sich ein solches Experten-Team eigentlich leisten?), so bleibt noch die Frage der Verträge. Man hat sich, um an einigermaßen attraktive Konditionen zu gelangen, mit den bisherigen Geräten längerfristig gebunden, und nicht immer ist ein vorzeitiger Wechsel ohne finanzielle Verluste möglich.

Unterstellen wir, daß auch dieses Problem lösbar ist. Wie sieht es dann mit dem Komplex der Anwendungs-Software aus? Jedermann weiß inzwischen, daß dies die Schwachstelle in fast jeder DV-Organisation ist. Über die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Hardware- und Software-Produktivität werden viele kluge Aufsätze geschrieben. Wirklich brauchbare Lösungen sind jedoch kaum erkennbar.

Das vorgelegte Entwicklungstempo im Bereich Hardware und dazugehöriger System-Software verschärft dieses Problem. Statt endlich einmal freie Kapazität für neue Anwendungen zu gewinnen, wird der ohnehin große Programm-Wartungsaufwand weiter durch erforderliche Anpassungen der Systeme an veränderte Hardware erhöht. Hier bleiben dann die meisten der ursprünglich erhofften Rationalisierungseffekte endgültig auf der Strecke.

Die Schlußfolgerung kann eigentlich nur sein: Hardware- und Systemsoftware-Fortschritte können nur dann vorbehaltlos positiv beurteilt werden, wenn sie die bestehende Anwendungs-Software möglichst nicht tangieren oder wenn wenigstens brauchbare Adaptionshilfen mitgeliefert werden. Aufwärts-Kompatibilität sollte bei Neuankündigungen nicht nur ein Versprechen in Prospekten sein.

Weniger Tempo in diesem Bereich wäre sicher mehr. Viele Energien könnten so freigesetzt werden, um dort Hilfen anzubieten, wo bisher noch ein wirklicher Durchbruch fehlt: bei der nachhaltigen Verbesserung der Enwicklungs-Produktivität. Hier kann es nicht schnell genug vorangehen.

Dr. Peter Naumann

Abteilungsdirektor Systementwicklung, R + V

Allgemeine Versicherung AG, Wiesbaden

Die Entwicklung auf dem Hardware-Sektor kann man gleichsetzen mit Verbesserung des Preis-/Leistungsverhältnisses bei Zentraleinheiten, Peripheriegeräten und (neuerdings) vorgeschalteten Rechnern (verteilte Verarbeitung). Ein schnelles Entwicklungstempo ist vor allem noch immer bei Zentraleinheiten, Platten, Drucker und Remote-Peripherie sowie bei Vorrechnern zu verzeichnen. Es wäre falsch, hier das Tempo als zu schnell zu bezeichnen, denn Verbesserungen können nicht schnell genug kommen. Problematisch sind jedoch:

- die Ankündigungsstrategien der Hersteller, die eine exakte Hardware-Langfristplanung fast unmöglich machen.

- Zeitlich und technisch unterschiedliche und heterogene Sprünge in der Entwicklung von Zentraleinheiten und einzelner Peripheriegeräte, insbesondere der Remote-Hardware.

Beides zusammen fuhrt häufig zu technischen Umbauten im Rechenzentrum und sorgt dort für permanente Veränderung und Hektik, insofern man immer auf dem neuesten Stand bleiben will. Größere Sprünge, homogen bezogen auf alle Hardware-Teile in längeren Zeitabständen, wären unbedingt wünschenswert.

Wenn man als wesentliche Software -Komponenten

- das Betriebssystem

- Dienst- und Hilfsprogramme des Herstellers

- Compiler und Precompiler für höhere Programmiersprachen

- anwenderbezogene Fremdsoftware von Softwarehäusern

ansieht, so muß gesagt werden, daß hier die Entwicklung partiell sicher zu schnell, vor allem aber zu heterogen verläuft. Eine echte vergleichende Übersicht über den gesamten Softwaremarkt ist heute nicht mehr möglich, so daß der Anwender sich in vielen Fällen damit abfindet, nicht die beste oder die am weitesten entwickelte Software einzusetzen. Auch um häufigem Wechsel auszuweichen, bleibt man oft bei einmal implementierter, bewährter Software und zeigt sich sehr zurückhaltend bei eventuellen Softwarewechseln - auch wenn neuere Programme echte Vorteile versprechen. Das gilt inzwischen teilweise auch für Software vom Hardware-Hersteller.

Hier ist die Tendenz zu sehen, für spezifische Gebiete separat Software zu entwickeln, dann anschließend "Brücken-Programme" zu schaffen, um diese heterogenen Teile miteinander zu verbinden oder verträglich zu machen. Sicher eine nicht ungefährliche Entwicklung, denn de erhöht den Anpassungsaufwand bei Release-Wechsel oder bringt Veränderungen in einzelnen Hard- und Softwarekomponenten.

Die Folge dieser sicher nicht unbedingt wünschenswerten Entwicklung, ist ein stark steigender Manpower-Bedarf beim Anwender im Softwarebereich, bei gleichzeitiger Spezialisierung. Außerdem ist eine längerfristige Softwareplanung nicht möglich.

Was müßte die Technik können?

Wünschenswert wäre auf der Softwareseite eine homogene Entwicklung mit drei Schwerpunkten:

1. Ein Betriebssystem, das gleichzeitig

- bedienerlose Schichten ermöglicht

- periphere Einheiten selbständig verwaltet; zum Beispiel vollautomatische Datenbankverwaltung, die keinen Unterschied mehr für den Programmierer macht, zwischen Daten im Hauptspeicher und auf Platte

- größtmögliche Daten- und Betriebssicherheit garantiert - keinen operating-bezogenen Unterschied zwischen Ein- und Mehrrechnerbetrieb einschließlich verteilter Verarbeitung macht - bei Release-Wechsel wesentlich weniger Zeit für Neugenerierung einschließlich Vorarbeiten erforderlich macht.

2. Bessere und komfortablere Programmiersprache, insbesondere

Endbenutzersprachen, die mit Sprachelementen aus der Umgangssprache arbeiten und entsprechend komfortabel bezüglich Test- und Fehleranalyseverfahren sind, da die Umgangssprache bekanntlich unpräzise ist.

3. Entwicklung anwenderbezogener Standardsoftware mit einer Flexibilität, die die unternehmensindividuelle Realisierung gegenüber den meisten heute angebotenen Produkten wesentlich vereinfacht.

Bei diesen Voraussetzungen können die Anforderungen an die zukünftige Hardware-Entwicklung beschränkt werden auf -leistungsfähigere und auf maximale Verfügbarkeit ausgelegte Ein- und Mehrrechner-Systeme - homogenere Peripherie, insbesondere preiswertere Massenspeicher - eine, um den Faktor 100 bis 10 000 verbesserte Netzwerktechnologie bezüglich der Geschwindigkeit zur Unterstützung eines flächendeckenden Rechnerverbundes.