"DV-Abteilungen schirmen ihre Defizite nach oben ab"

16.10.1992

Die Situation vieler DV-Abteilungen ist desolat. Die Softwarespezialisten kommen wegen aufwendiger Wartungsarbeiten nicht dazu, sich um längerfristige Lösungen zu kümmern, die DV-Leiter versuchen, die Misere vor den oberen Etagen zu verbergen. Oftmals fehlt es auch einfach an qualifizierten Softwaremitarbeitern, um zu den gewünschten Neuansätzen zu kommen. Vertreter aus Hochschule und Industrie starteten deshalb die Initiative "European Professional Software Engineer" (Epse), um schon erfahreneren DV-Spezialisten das nötige Praxiswissen zu vermitteln. Mit einem der Initiatoren, dem Informatikprofessor der TU Berlin, Herbert Weber, sprachen die CW-Redakteure Dieter Eckbauer und Hiltrud Puf.

CW: Studenten studieren heute fünf bis sechs Jahre. Ist es da noch notwendig, eine Art Zusatzausbildung wie die zum European Professional Software Engineer, kurz: Espe, anzuhängen?

Weber: Das Studium der Informatik ist sehr unterschiedlich, an manchen Hochschulen sehr theorisch orientiert, andere haben mehr Bezug zur Praxis. Aber die Ausbildung im Bereich Software-Engineering ist an sehr wenigen Hochschulen angesiedelt.

CW: Ist dann nicht das Studium falsch angelegt?

Weber: Es gibt heftige Diskussionen, ob Hochschulen in ihrem Curriculum Software-Engineering anbieten sollen. Die Gesellschaft für Informatik hat diesen Anstoß schon vor einigen Jahren gegeben. Aber wenn das Personal nicht da ist, helfen die Ideen wenig. Es wäre schon richtig, den Software-Aspekt bereits im Informatikstudium zu berücksichtigen, aber wenn wir darauf warten wollten, bis genügend Hochschullehrer verfügbar sind, dauert das Generationen. So lange kann man nicht warten.

CW: Man könnte doch eine Spezialisierung in Richtung Software-Engineering gleich im Grundstudium Informatik anlegen.

Weber: Da rütteln Sie an den Fundamenten der Informatikausbildung. In den USA wird diskutiert, die stärker praxisbezogene Ausbildung aus der Informatik in besondere Fachbereiche auszulagern. Die Informatik lebt mit der Erblast, aus der Theorie, aus der Mathematik zu kommen und damit zu wenig praxisbezogen zu sein. Auch in Deutschland hat die Idee, die praktische Informatik aus der Kerninformatik auszulagern, Anklang gefunden. In Dortmund gibt es einen Studiengang Ingenieurinformatik, eine Mischung zwischen Informatik und Maschinenbau oder Elektrotechnik - eine ähnliche Konstruktion wie Wirtschaftsingenieur. Die Absolventen sind sehr gefragt. Hier passiert schon etwas, aber bis der gesamte Studiengang einen Schwenk vollzieht, dauert es sehr lange. Und an den Hochschulen ist das mehr praktisch orientierte Personal für Software-Engineering nicht ausreichend vertreten. Wo sollen die Mitarbeiter auch herkommen? Es hat bisher keine hinreichende Ausbildung gegeben, und deshalb gibt es auch keinen ausreichenden Nachwuchs an Hochschullehrern.

CW: Und wie rekrutieren Sie das Personal für die Epse-Ausbildung?

Weber: Wir arbeiten nicht nur mit Hochschullehrern, sondern auch mit Kräften, die in europäischen Forschungsprojekten involviert waren, also auch mit der Industrie. Hier ist Know-how angesammelt worden, das an den Hochschulen gar nicht existiert.

CW: Die Epse-Ausbildung beinhaltet relativ viel Theorie. Widerspricht das nicht Ihrem Ziel, möglichst praxisnah auszubilden?

Weber: Ohne eine gute theoretische Fundierung kann man in der Praxis immer nur basteln. Wir sind in der Informatik noch lange nicht soweit, daß wir Formeln anbieten können. Aber wir haben zumindest teilweise eine theoretische Fundierung, die Voraussetzung für einen gewissen Qualitätsstandard ist. Deshalb muß auch ein gewisses Maß an Theorie im Curriculum enthalten sein. Wenn wir nur State-of-the-practice vermitteln, dann erreichen wir keinen Quantensprung, dann machen wir nur Softwarehäusern wie Integrata Konkurrenz. Unser Programm soll das Defizit in der Informatikausbildung ausgleichen.

CW: Wer hat das Epse-Programm initiiert?

Weber: Eine Gruppe, die zu 50 Prozent aus der DV-Industrie, unter anderem IBM, Hewlett-Packard oder Bull, und zu 50 Prozent aus der akademischen Welt besteht, formuliert eine Bestandsaufnahme und einen Forderungskatalog. Der Software-Ingenieur muß am Schluß seiner Ausbildung mit einem Anwender reden können, einen Vorschlag für die Softwarelösung machen, sie ausformulieren, die Spezifikation schreiben, die Programmierung anleiten, Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung betreiben, die Software in schon existierende Systeme einbinden, die gesamte Software-Administration beherrschen, den Benutzer schulen, also technische Leitungsfunktionen übernehmen.

CW: Wenn Sie von Defiziten sprechen, heißt das entweder, es gibt zu wenig Programme oder sie sind zu schlecht.

Weber: Es gibt zu wenig und zu schlechte Anwendungssoftware. Lösungen werden nicht installiert, weil die Entwicklung dem Bedarf hinterherhinkt. Außerdem ist die Software schlecht, was nicht heißen muß, daß sie von vornherein mangelhaft war, sondern daß sie im Laufe der Zeit schlecht geworden ist. Software altert. Wenn an dem Programm irgendeine Veränderung stattfindet, hat das Wechselwirkung mit dem Rest des Softwaresystems. Paßt man nicht ganz genau auf, sind das vielleicht unzulässige Wechselwirkungen, die man mit jedem neuen Stück Code einbaut.

CW: Welche Folgen ergeben sich daraus?

Weber: Nach 20 Jahren besteht ein Softwaresystem im wesentlichen nur noch aus Balkonen, und man weiß eigentlich nicht mehr, wo das Haus ist. Die Klarheit ist verlorengegangen, und man kann nicht nachvollziehen, was passiert, wenn man an irgendeinem Schräubchen dreht. Es gibt auch Defizite, die von Anfang an existieren. So ist keine Software fehlerfrei, und die Anzahl der Fehler ist um so größer, je weniger konzeptionelle Vorarbeit geleistet wurde. Die schwerwiegendsten Fehler werden in den ganz frühen Phasen der Software-Entwicklung gemacht. Diese Fehler bleiben möglicherweise für sehr lange Zeit versteckt und werden erst nach Jahren sichtbar, weil noch ein neuer Fehler hineingeschrieben wurde.

CW: Könnten Sie aus der Sicht der Anwender, Software-Entwickler und -Wissenschaftler darstellen, wo und warum es an der Softwarequalität hapert?

Weber: Für den Benutzer ist ein System schlecht, wenn es häufig zusammenbricht oder nicht das erwünschte Ergebnis liefert. Die Probleme sind vielfältig. In der Industrie werden 70 bis 80 Prozent der Personalkapazität dafür aufgewendet die Wartung und Weiterentwicklung zu garantieren.

Die Fortentwicklung ist so aufwendig, weil keine Vorkehrungen getroffen worden sind, die Systeme zu erweitern. Wenn sich das mit jedem System, das neu installiert wird, fortsetzt, wird der Wartungsaufwand immer größer. Da läßt sich bald der Zeitpunkt ausrechnen, an dem es keine neue Software mehr geben wird, weil alle mit der Wartung beschäftigt sind.

CW: Aber ändert sich hier nicht einiges durch die Standardisierung beziehungsweise durch Standardsoftware?

Weber: Sie hat natürlich eine wichtige Funktion. Setze ich Standardsysteme ein, erreiche ich eine Wiederverwendung. Aber ihr Einsatz findet ihre Grenze an den Spezifika der einzelnen Anwendung.

CW: Sie zeigten bereits den hohen Wartungsaufwand auf, der aufgrund von fehlerhafter Software entsteht. Wenn Brücken einstürzen, dann geht die Öffentlichkeit auf die Statiker los. Warum werden aber die Mißstände bei der Software toleriert?

Weber: Wir hatten sehr viele Beinahe-Katastrophen, aber zum GAU kam es noch nicht. Ein Verantwortlicher aus der Automobilbranche hat mir erzählte daß man dort aus Kostengründen sehr kleine Hardwaresysteme einsetzen muß. Die Software sei schlecht, da sie versuchen muß, alles auszuquetschen, was an Leistungsfähigkeit in den Mikroprozessoren steckt.

Die Betroffenen könnten aber ihr Management nicht davon überzeugen, statt des Acht-Dollar-Chips einen Zwölf-Dollar-Chip zu verwenden. Dies würde ihnen frühestens dann gelingen, wenn eine Rückrufaktion notwendig wird, die eine dreistellige Millionensumme kostet und bei der eindeutig nachgewiesen ist, daß die Software für den Schaden verantwortlich ist. Dazu kommt, daß, Softwarefehler oft vertuscht werden und gar nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Viele Qualitätsmängel der Software machen sich nur durch Kosten bemerkbar. Und dies sollte jeder DV-Leiter seinem Management klarmachen können.

CW: Die von Ihnen genannten Initiatoren von Epse sind alle , auch Hardwarehersteller. Man könnte ja unterstellen, daß ihnen die bisherige Softwareverschwendung eigentlich ganz gelegen kam, weil sie damit auch eine Möglichkeit hatten, mehr Hardware zu verkaufen.

Weber: Hier teile ich Ihre Einschätzung.

CW: Wo gibt es denn typische Vertreter einer Softwareindustrie, die keine Hardwareinteressen haben, deren Image aufgrund der Qualitätsmängel angeknackst ist, und die beklagen, daß sie zu wenig SW-Ingenieure haben?

Weber: Auch bei den Herstellern hat sich etwas geändert, weil die Anwender angefangen haben, ein Kostendenken zu entwickeln. Sie fragen sich doch auch, ob die ganzen DV-Ausgaben gerechtfertigt sind und wo unter dem Strich der Nutzen zu erkennen ist. Die Hersteller haben zum Teil schon darauf reagiert. Wenn heute Big Blue anfängt, Umstrukturierungen vorzunehmen und sich auf Dienstleistungen zu konzentrieren, dann stellen die Verantwortlichen fest, daß ihre Mitarbeiter das gar nicht können. Das sind Hardwareverkäufer, die aussteigen, wenn komplexere Lösungen verlangt werden. Die Hardwarehersteller können nicht von einem Tag auf den anderen den großen Schwenk vollziehen, weil das die Personalstruktur gar nicht hergibt. Die reinen Softwarefirmen sind genauso von diesem Dilemma betroffen, haben sich aber relativ frühzeitig bemüht, die Mängel zu minimieren. Daraus ist kein Geschäft geworden, solange die Hersteller nicht selbst das. Problem erkannt haben. Die Anwender sind immer wie Schäfchen hinter den Herstellern hergelaufen. Erst als IBM gesagt hat, Software ist ein Problem, sind die Anwender wach geworden.

CW: Sie sagten, daß die Initative zu Epse zu 50 Prozent aus der DV-Industrie kam. Das ist doch ein Hinweis darauf, daß die Anwender den Handlungsbedarf immer noch nicht erkannt haben.

Weber: Die Anwender sind so erzogen worden, daß sie vom Hersteller die Lösung ihrer Probleme erwarten. Sie zahlen ja gutes Geld dafür und können sich noch nicht vorstellen, daß die Hersteller sie im Stich gelassen haben, sondern warten immer noch auf ihre Hilfe.

CW: Welche Rolle soll Epse in dem Problemkreis spielen?

Weber: Epse, also die Ausbildung, ist sicher ein ganz wichtiger Aspekt, aber ein Ansatz unter vielen anderen. Wichtig ist beispielsweise auch, die Führungsspitzen in den Unternehmen für die DV-Problematik zu sensibilisieren. Die DV-Abteilungen schirmen ihre Defizite nach oben ab, so daß immer nur Kosten sichtbar werden und gute Argumente, um sie zu rechtfertigen. Die Konzernspitze möchte die DV delegieren und mit ihr nichts zu tun haben. Wenn die Unternehmensleitungen wüßten, was sich in den DV-Abteilungen abspielt, dann würden sie sehr viel restriktiver reagieren.

CW: Das ist doch jetzt schon passiert, und die ganze Outsourcing-Bewegung hat damit zu tun. Der Markt stagniert, die Preise fallen, und die DV-Hersteller schreiben rote Zahlen.

Weber: Da haben Sie sicher recht. Um das Problem anzugehen, muß die Unternehmensleitung in die DV-Diskussion mit einbezogen werden, weil die gesamte Informationstechnik eine neue Qualität bekommt.

Waren es früher einzelne isolierte Anwendungen, haben wir heute große informationstechnische Konglomerate, also komplette Infrastrukturen. Und die Informationstechnik wird meiner Meinung nach die Unternehmensstrukturen und Geschäftsabläufe ganz massiv verändern.

Viele der Unternehmensleiter machen sich noch gar nicht bewußt, daß ihre eigene Domäne zur Disposition steht, komplett reorganisiert zu werden.

Es reicht sicher nicht, den DV-Abteilungen nur Tools zu verkaufen, denn: A fool with a tool is still a fool. Wenn man nicht im Umfeld der Werkzeuge massive Veränderungen herbeiführt, dann haben die Werkzeuge überhaupt keinen Sinn, dann kann man sich auch die Ausgaben sparen.

CW: Den DV-Spezialisten im Unternehmen mangelt es also ihrer Ansicht nach an den erforderlichen Fähigkeiten. Und hier soll Epse ansetzen?

Weber: Wir erheben nicht den Anspruch, die Universallösung zu bieten, sondern wollen dem Entwickler von Softwaretechnologien Wissen vermitteln, das ihm weiterhilft.

CW: Sie werfen der DV-Abteilung vor, sie schirme sich ab, aber schirmt sich nicht auch die Informatik ab? Es wird doch auch im stillen ausgebildet, und die meisten Professoren sind ganz froh, wenn niemand so genau weiß, was in dem Fach vor sich geht.

Weber: Da liegen Sie nicht falsch. Wir haben in anderen Bereichen wie im Ingenieurswesen eine Differenzierung in verschiedene Fachbereiche, die in der Informatik noch nicht erfolgt ist, also zum Beispiel die Differenzierung in praktische und theoretische Informatik. Wenn eine Brücke gebaut wird, dann existieren gewisse Richtlinien, für die es eine physikalische Fundierung gibt. Solche theoretisch fundierten Leitlinien gibt es in der Informatik nicht. Es besteht beim Programmieren ein solches Maß an Freiheit, daß man jeden Blödsinn machen kann. Die Frage ist also, sollen wir uns beschränken? Langsam entsteht die Ansicht, daß nicht alles und jedes zugelassen sein soll, sondern daß Software beispielsweise aus abgeschlossenen Einheiten aufgebaut sein soll, aus Objekten, die auf disziplinierte Art interagieren. Das wäre die Voraussetzung für die Entwicklung einer mathematischen Basis der Softwaretechnik.

CW: Sie bieten eine Ausbildung nach dem Studium an. Wäre es nicht an der Zeit, das Studium selbst zu reformieren?

Weber: Die Gesellschaft für Informatik hat schon vor sechs Jahren eine Denkschrift verfaßt, in der sie fordert, Praxisthemen zu forcieren. Wenn man die sechs Jahre mit der Verweildauer eines traditionell eingestellten Professors an der Universität vergleicht, können Sie sich ausrechnen, wie lange es dauert, bis eine Veränderung eintritt.

Der European Professional SW-Engineer

Eine Lücke in der europäischen Software-Qualifizierung soll die Ausbildung zum European Professional Software Engineer (Epse) schließen. Sie richtet sich in erster Linie an Hochschulabsolventen mit Berufserfahrung, aber auch erfahrene Spezialisten ohne Abschluß haben die Möglichkeit, nach einem Aufnahmegespräch an der praxisorientierten ein- bis sechsjährigen Qualifizierung teilzunehmen. Im Vordergrund stehen anspruchsvolle Themen wie Organisation und Management des industriellen Software-Engineering und Reengineering, Modellierung und Implementierung von Systemen und Software-Infrastrukturen sowie Werkzeuge und Umgebungen für das computergestützte Software-Engineering. Die Ausbildung besteht aus zehn Modulen mit Vorträgen, Übungen, Diskussionen und Demonstrationen sowie Projekten, die individuell zusammengestellt werden und insgesamt rund 1400 Stunden in Anspruch nehmen. Die Inhalte und Ziele der Projekte sollen sich nach den konkreten Arbeitsaufgaben der Teilnehmer richten. Das komplette deutsche Programm, das vom Informatikzentrum Dortmund und dem Fraunhofer-Institut für Software und Systemtechnik Berlin/Dortmund- initiiert wurde, kostet rund 50 000 Mark.

Informationen: Fraunhofer-Institut für Software und Systemtechnik c/o Universität Dortmund, Postfach 500 500, Baroper Str. 301, 4600 Dortmund, Telefon: 02 31/75 52 780