Intelligente Systeme - Watson

Dr. Watson, übernehmen Sie lieber nicht!

26.12.2012
Von 
Jan-Bernd Meyer betreute als leitender Redakteur Sonderpublikationen und -projekte der COMPUTERWOCHE. Auch für die im Auftrag der Deutschen Messe AG publizierten "CeBIT News" war Meyer zuständig. Inhaltlich betreute er darüber hinaus Hardware- und Green-IT- bzw. Nachhaltigkeitsthemen sowie alles was mit politischen Hintergründen in der ITK-Szene zu tun hat.
Beim Einsatz von Analysesystemen konzentriert sich IBM momentan stark auf die Medizin. Privatdozent Christoph Schmid vom Klinikum Augsburg erklärt, wo ihm der Computer Watson helfen könnte - und wo besser nicht.
Privatdozent Dr. Christoph Schmid vom Klinikum Augsburg sieht Systeme wie Watson als hilfreich an bei der Unterstützung zu Diagnosen. Den Arzt ersetzen werden sie aber niemals.
Privatdozent Dr. Christoph Schmid vom Klinikum Augsburg sieht Systeme wie Watson als hilfreich an bei der Unterstützung zu Diagnosen. Den Arzt ersetzen werden sie aber niemals.
Foto: Klinikum Augsburg/Ulrich Wirth

Für das Gesundheitswesen gab IBMs Computer "Watson" im Mai 2011 eine Demonstration seiner Möglichkeiten. Er wurde mit den Inhalten medizinischer Lehrbücher und Fachblätter, Gesundheitsstatistiken etc. gefüllt. Dann konfrontierte man Watson mit einem fiktiven Patienten und dessen gesundheitlichem Problem: akute Augenbeschwerden. Watson wurde mitgeteilt, der Patient könne nur mehr verschwommen sehen. Zusätzlich fütterte man ihn mit der Information, bei dem Patienten liege eine erblich bedingte Arthritis-Erkrankung vor. Weiter erhielt der Rechner den Hinweis, der Patient stamme aus der Gegend von Connecticut.

Watson schlug aufgrund seines "Wissens" drei Möglichkeiten vor, woran der Patient leiden onisiönnte: Entzündung der Uvea, Morbus Behet und Lyme-Borreliose aufgrund eines Zeckenbisses. Die letzte Option stufte Watson mit einer Wahrscheinlichkeit von 73 Prozent am höchsten ein.

CW: Dr. Schmid, wenn man dieses Einsatzbeispiel von Watson bedenkt: Solch ein nimmermüder digitaler Assistent, der durch eine Unmenge von Wissensdaten pflügt, um dann eine treffsichere Diagnose aufzustellen, müsste doch ein Segen sein für Ihren anstrengenden medizinischen Alltag?

Schmid: Das wäre schon hilfreich. Es gibt ja bei der täglichen Arbeit mit Patienten und deren Krankheitsbild eine Vielzahl von Differentialdiagnosen. Ständig stehen Ärzte vor der Frage "Was könnte das Wahrscheinlichste sein, worunter der Patient leidet?" Zudem wäre es natürlich sehr gut, bei der diagnostischen Betrachtung nichts zu vergessen. Bei all diesen Anforderungen wäre solch ein System also schon hilfreich.

Es könnte auch weiterentwickelt werden. So ließe sich etwa ein diagnostischer Algorithmus entwickeln, der Ergebnisse wie beispielsweise von bestimmten Laborwertebefunden oder von Konsiliaruntersuchungen in die Betrachtungen einfließen lässt. Eine andere Möglichkeit wäre eine Vernetzung mit Literaturdatenbanken. Da könnte man sich dann beispielsweise bei bestimmten Symptomen oder Verdachtsdiagnosen per Knopfdruck Ergebnisse aus Review-Arbeiten anzeigen lassen.

CW: Eigentlich müsste es solche Recherche-Werkzeuge doch schon geben.

Schmid: In der Tat gibt es ein System namens Up-to-date. Das ist eine Datenbank aus den USA, die von Fachleuten mindestens jedes Vierteljahr aktualisiert wird. Die ist in der grafischen Aufarbeitung nicht intuitiv und damit für die tägliche Praxis problematisch, inhaltlich aber gut. Die Einzelplatzlizenz ist allerdings sehr teuer. Wenn man solche Quellen und deren Informationen, die oft unübersichtlich aufbereitet sind, besser darstellen könnte, wäre das sehr hilfreich.

Es gibt zudem eine Menge Fachzeitschriften, auf die Kliniken und Ärzte Zugriff haben. Beispielsweise haben wir Zugang zur elektronischen Zeitschriftenbibliothek der Bayerischen Universitätskliniken und zu vielen Fachzeitschriften. Hier mit gezielten Suchen in digitalen Quellen zu recherchieren wäre auch eine Möglichkeit.

Wenn man nun das Wissen aus all diesen Papers, wissenschaftlichen Arbeiten etc. schon im System abfragebereit zur Verfügung hätte, wäre das sicher ein Fortschritt.

CW: Anders als bei Watson und dem eingangs geschilderten Fall ist es bei Up-to-date und anderen digitalen Quellen wohl nicht möglich, natürlichsprachliche Fragen an das System zu stellen wie etwa, wieso der Patient eben diese Sehbeschwerden hat?

Schmid: Nein, das ist so nicht möglich. Natürlich könnte ich etwa bei Up-to-date solch eine Frage eingeben. Aber letztlich würde das System mir dann unstrukturierte Trefferlisten mit Artikeln ausgeben, in denen zum Beispiel auch der Begriff "hoher Blutdruck" vorkommt. Das wäre dann allerdings ziemlich unsystematisch.

Man kann bei Up-to-date auch nicht beliebig viele Begriffe etwa durch eine AND-Verknüpfung zusammenfügen. Man muss hier schon vorher wissen, was man eigentlich zu einer Erkrankung sucht.

Bislang ist solch eine digitale Recherche mühsam. Man erhält unsortierte Ergebnisse. Man weiß zudem als Arzt häufig nicht, wo man zuerst suchen soll. Man bekommt mit den heutigen Hilfsmitteln zwar durchaus gewisse Hilfestellungen. Aber das kostet im Alltag meist zu viel Zeit.

CW: Ein System mit dem Wissen aus vielen tausend Expertenquellen würde jede menschliche Kapazität weit übertreffen. Müssten Mediziner nicht befürchten, dass ein System wie Watson viele Ärzte überflüssig macht?

Schmid: Nein, das sehe ich nicht so. Natürlich gibt es derlei Befürchtungen immer. Aber es kommt ja stark darauf an, wie ich die gewonnenen Erkenntnisse gewichte. Es ist nicht so einfach, wie beispielsweise eine Bastelanleitung für ein Modellflugzeug aus dem Internet herunterzuladen. Nach dieser Beschreibung kann ich dann Schritt für Schritt ein Modell zusammenzubauen.

So funktioniert Medizin natürlich nicht. Da kommt es neben Fachwissen und Befunden auch stark auf den klinischen Eindruck an, den der Arzt gewinnt, wenn er vor dem Patienten steht. Erfahrung ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Die sagt einem beispielsweise sofort, welche Therapie man bei einem individuellen Patienten verfolgen kann und welche nicht. Mit anderen Worten: Die Leistung, die einen Arzt ausmacht, ist in der integrativen Funktion zu sehen, alle Informationen am Krankenbett eines Patienten gesammelt zur Verfügung zu haben.

Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus der Onkologie: Nehmen wir an, ein System würde eine bestimmte Empfehlung für eine Chemotherapiekombination geben. Als Arzt weiß ich aus der Behandlung von Hunderten Patienten, wie bei verschiedenen Kombinationen die Nebenwirkungen ausfallen. Ich weiß, wie gewisse Chemotherapiekombinationen Patienten schlauchen. Ich weiß zum Beispiel, was es für den Patienten bedeutet, wenn ich fünf zyklische Gaben ansetze. Als Arzt kann ich vorhersagen, dass die meisten Patienten nach dem dritten Zyklus extrem angestrengt sind, weil derlei Behandlungen überaus belastend sind. Ich kann beurteilen, ob der vor mir liegende Patient solch eine Behandlung überhaupt durchstehen kann. Kann ein Computer das auch wissen?

CW: Was wären denn wünschenswerte Anwendungen, mit denen ein intelligentes System Ärzte unterstützen sollte?

Schmid: Da fällt mir sofort ein Themenfeld ein: Arzneimittelwirkungen, Arzneimittelinteraktion, Wechselwirkungen von Arzneimitteln. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Wenn ein internistischer Patient 20 Medikamente bekommt, dann können Sie davon ausgehen, dass ein Arzt zwei Wechselwirkungen kennt. Zehn andere Wechselwirkungen finden aber statt, die man als Arzt nicht im Auge hat, die man gar nicht kennen kann. Wir haben es da mit chemischen Substanzen zu tun, die sich unterschiedlich beeinflussen. Wenn man da einen Algorithmus hätte, der sofort und genau sagen könnte, welche Substanzen welche Interaktionen und Wechselwirkungen mit anderen haben, welche Wirkungen anderer Substanzen sie antagonisieren oder bei welchen der Arzt die Dosis verändern muss beziehungsweise Medikamente in Kombination nicht verabreichen darf etc. - wenn ein Watson-System mir auf Knopfdruck diese komplexen Informationen schnell und leicht fasslich angeben würde, wäre das sehr hilfreich.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Wir haben einen Tumorpatienten auf einer Station, der vier Medikamente für die Chemotherapie, drei gegen eine Infektion, zwei gegen Übelkeit, eins gegen Sodbrennen, zudem vier Salzlösungen, also Elektrolyte, ferner ein Antidiabetikum und ein Blutdruckmedikament, schließlich noch ein Medikament gegen zu viel Harnsäure bekommt - da haben sie ganz schnell fast 20 Medikamente zusammen. Es sind zwar natürlich nicht immer so viele. Aber das ist ein klassischer Fall, bei dem ein Watson-System hilfreich sein könnte.

CW: Sehr nachvollziehbar ...

Schmid: Anderes Beispiel: Man könnte die Auswahl von Antibiotika mit der Mikrobiologie verquicken. Das ist wichtig für die lokale Resistenzlage. Gemeint ist: Im Augsburger Klinikum reagieren die gleichen Bakterien auf andere Antibiotika empfindlich als in München. Solche Resistenzlagen ändern sich häufig. Dieser Effekt ist allgemein bekannt. Er spielt eine sehr große Rolle. Resistenzlagen werden zwar prinzipiell erfasst. Aber es ist schwierig, hier einen Informationstransfer herzustellen. Das ist alles andere als trivial.

CW: Über die elektronische Gesundheitskarte entstand ja die Idee, die Krankenvorgeschichte digital zu erfassen und verfügbar zu haben. Wäre das auch ein Anwendungsfeld?

Schmid: Interessant wäre die Integration von medizinischem Wissen mit der Krankenvorgeschichte eines Patienten. Wenn ich etwa weiß, dass der gerade mit einem Schlaganfall eingelieferte Patient schon einmal wegen eines Herzinfarkts in einer anderen Klinik lag, welchen Vorfällen die gleiche Grunderkrankung zugrunde liegt, nämlich Arteriosklerose - dann hilft mir das natürlich weiter. Die chipintegrierte elektronische Krankenversicherungskarte wäre da Teil eines Entscheidungsfindungssystems, wobei natürlich speziell die Vorgaben und Probleme des Datenschutzes berücksichtigt werden müssten.