Dokumenten-Management/Katalysator und Initiator fuer prozessorientierte Organisation

15.09.1995

Ablage und Verwaltung von Papierdokumenten werden seit Jahren nur noch murrend, weil ein notweniges Uebel, akzeptiert. Die Bewaeltigung der oft imposanten Akten- und Schriftenberge frisst Zeit im Uebermass. Doch koennte den Informationen, die sich in diesen Bergen verbergen, strategischer Wert zukommen, liesse sich ohne weiteres darauf zugreifen. Dokumenten-Management-Systeme helfen hier weiter. Die Barrieren, die ihre Einfuehrung behindern, werden niedriger. Erleichternd wirken sich auch Trends wie Team- und Prozessorientierung aus.

Von Lothar Leger*

Dokumenten-Management-Systeme (DMS) sind an sich nichts Neues. Erste Loesungen wurden unter den Schlagworten "Imaging" oder "Optical Filing" bereits vor rund 15 Jahren vorgestellt. Die Motivation zum Einsatz solcher Systeme ergab sich in erster Linie aus dem hohen Verwaltungs- und Zeitaufwand, der mit dem Ordnen und Aufbewahren grosser Papiermengen einhergeht. Die Versicherungen uebernahmen hier eine Vorreiterposition bei dem Versuch, ihrer umfangreichen Papierarchive Herr zu werden. Die Einsparung von Archivraum und entsprechendem Personal stand bei vielen Projekten im Vordergrund.

Diese Pionierarbeit wurde durch viele technische Diskussionen begleitet. Liessen sich die Papierdokumente aus dem Archiv denn tatsaechlich alle in einer Jukebox unterbringen? War das Netz auch schnell genug, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden? Halten die elektro-optischen Speichermedien tatsaechlich 30 und mehr Jahre? Sind 20 Sekunden Antwortzeit nicht viel zu lang?

Sehr schnell wurde deutlich, dass in den papiergebundenen Arbeitsablaeufen ein weitaus groesseres Rationalisierungspotential lag und dass die technische Seite - wenn auch mit anfaenglichen Schwierigkeiten - doch irgendwie beherrschbar war.

DMS sind ein Organisationsthema

Die Diskussion verlagerte sich auf die organisatorische Seite, und der Begriff "Dokumenten-Management" hielt in die Fachwelt Einzug. Die Unterteilung von DMS in Archiv-, Recherche- und Vorgangsbearbeitungs-Systeme zeigte die verschiedenen Schwerpunkte der entstandenen Loesungen und machte unterschiedliche technische Anforderungen deutlich.

Inzwischen zaehlen Informationsschriften und Einladungen zu Veranstaltungen zum Thema Dokumenten-Management zu den Alltaeglichkeiten der DV- und Org-Leiter. Kein Anbieter moechte zurueckstehen, wenn es darum geht, den Markt zu erobern. Entsprechend zahlreich sind auch die erhaeltlichen Systeme. Es ist fast unmoeglich, hier noch den Marktueberblick zu behalten.

Der Weg zu einem Dokumenten-Management-System geht deshalb immer von der individuellen Zielsetzung aus. Erst wenn die Ziele genau feststehen, sollte man sich um moegliche organisatorische und technische Alternativen und damit auch um einen ersten Kontakt zu Anbietern kuemmern. Soll eine Verkuerzung der Durchlaufzeiten und eine Straffung der internen Ablaeufe erreicht werden, ist das Augenmerk auf Loesungen mit Schwerpunkt Vorgangsbearbeitung zu richten. Geht es eher darum, erst einmal die zu archivierende Papierflut in den Griff zu bekommen, sind Systeme gesucht, deren besondere Faehigkeiten im Scannen und in der komfortablen Speicherung mittels Optical Filing bestehen.

Da der Schwerpunkt sich deutlich zu DMS hin verlagert, bei denen die Vorgangsbearbeitung im Vordergrund steht, beziehen sich auch die folgenden Ausfuehrungen vornehmlich auf diese Kategorie.

Neben einer klaren Zielvorstellung wird der Erfolg eines DMS- Projekts durch die Art und Weise der Konzeption und Umsetzung bestimmt. DMS sind nicht, wie uns verschiedentlich suggeriert wird, von Hause aus wirtschaftlich.

Erst durch das Zusammenspiel von Organisation, Informatik und - hoffentlich entsprechend motiviertem - Personal kann die Wirtschaftlichkeit einer DMS-Loesung erreicht werden. Einer der Erfolgsfaktoren ist demnach die richtige Vorgehensweise.

Abbildung 1 zeigt einen stark vereinfachten Projektablaufplan, der auf den Erfahrungen aus verschiedenen Projekten beruht. Er skizziert Projektleitern und Entscheidern einen Weg hin zu einem effizienten und effektiven Dokumenten-Management. Abgesehen von dieser Struktur der Vorgehensweise sind natuerlich einige Grundregeln zu beachten. Auf jeden Fall muessen sich die Projektbeteiligten von bisher existierenden und moeglicherweise auch bewaehrten organisatorischen Strukturen loesen. Wer nur die bestehenden Ablaeufe eins zu eins in ein DMS umsetzt, verschenkt wesentliche Nutzenpotentiale.

Die Vorgangsbearbeitung mit DMS umfasst wesentlich mehr als nur die Abfolge von Arbeitsschritten. Sie unterstuetzt den Mitarbeiter unter anderem durch eine automatisierte Wiedervorlage, oder durch eine automatische Zusammenstellung von Unterlagen und deren Bereitstellung direkt am Arbeitsplatz, ohne dass der Mitarbeiter dies aktiv veranlasst haette. Ferner verwaltet sie den Arbeitsvorrat und gibt Auskunft ueber den entsprechenden Vorgangsstatus. Ganz nebenbei liefert die systemgestuetzte Vorgangsbearbeitung wichtige Eckdaten fuer ein prozessorientiertes Controlling, was ohne eine eingehende Aufklaerung der Mitarbeiter durchaus als Kontrolle missverstanden werden koennte.

Um so wichtiger ist es, die Identifikation aller zukuenftigen Anwender bei jeder Gelegenheit zu foerdern. Das fruehzeitige Einbinden der Benutzer in den Projektablauf wirkt da oft Wunder. Ohne die notwendige Akzeptanz wird sich das DMS sicherlich nicht durchsetzen.

Schon anhand dieser knappen Ausfuehrungen wird deutlich, dass Dokumenten-Management-Systeme nicht einfach nur neue DV-Loesungen sind. Mit der Einfuehrung eines DMS werden vielmehr gueltige Regeln und Ablaeufe in Frage gestellt. Fuer die Anwender bedeutet dies die Abkehr von gewohnten Arbeitsweisen. Mit einem DMS wird das noch vielfach vorherrschende funktions- und arbeitsplatzorientierte Vorgehen im taeglichen Arbeitsablauf durch eine prozess- und teamorientierte Arbeitsweise ersetzt. Das wiederum setzt ein Umdenken voraus.

Den Kulturwandel einleiten

Der gleiche Kulturwandel ist auch in Projekten mit dem Ziel der Geschaeftsprozessoptimierung (Business Process Re-Engineering) erforderlich. Beiden Themengebieten gemein ist auch die ganzheitliche Betrachtung der gesamten Ablaeufe, von einem definierten Startpunkt bis zu einem definierten Ende. Der Unterschied liegt natuerlich allein schon in der Betrachtungsebene.

Die Geschaeftsprozesse buendeln die Aufgaben, die zum Erreichen der Geschaeftsziele beziehungsweise zum Erbringen definierter Leistungen beitragen. Diese Abfolgen von Aufgaben werden in Teilprozesse gesplittet und die wiederum in Aktivitaeten.

Hier setzt das Dokumenten-Management an und unterteilt die Aktivitaeten wiederum in einzelne Arbeitsschritte, ergaenzt durch Regeln und Bedingungen, wer wann welche davon auszufuehren hat.

In der Praxis zeigen sich zwei Wege, wie Unternehmen und Organisationen an der Umstellung zur Prozessorientierung arbeiten.

Start in einem abgegrenzten Teilbereich

Einerseits wird in einem ersten Schritt ein Geschaeftsprozessmodell fuer das Unternehmen beziehungsweise die Organisation erarbeitet. Spaetestens auf der Ebene der Aktivitaeten stellt man dann Ueberlegungen darueber an, wie sich die neugebildeten Prozesse optimal durch Informationstechnik unterstuetzen lassen. Hier fungieren die DMS quasi als Katalysator, um das Prozessmodell auf der operativen Ebene zum Leben zu erwecken.

Andererseits wird in einem meist abgegrenzten Teilbereich eines Unternehmens (zum Beispiel Auftrags- und Sachbearbeitung, Kundenbetreuung) ein DMS zur Unterstuetzung der Ablaeufe etabliert und anschliessend die prozessorientierte Denkweise auf andere Bereiche uebertragen. Dann kann das DMS eine Rolle als Initiator fuer die Geschaeftsprozess-Organisation (GPO) uebernehmen. Beide Wege erfordern viel Energie und Durchhaltevermoegen, weil sie an den Grundfesten der Arbeitswelt ruetteln. Aber gerade dadurch entstehen ja auch die Potentiale wie die heutzutage ueberlebensnotwendige Flexibilitaet.

Und beide Wege sind nicht in kurzer Zeit umzusetzen. Insofern lohnt ein Blick in die Zukunft:

-Die ersten DMS, die hauptsaechlich im Finanzdienstleistungsbereich konzipiert wurden, stehen vor einem Generationenwechsel. In bezug auf die Speichermedien bedeutet dies, dass Optical Disks neueren Datums gut das zehnfache Speichervolumen aufweisen und deshalb schon aus Kostengruenden ueber einen Umstieg nachgedacht werden muss. Da zumindest in der technischen Entwicklung noch kein Ende abzusehen ist, wird fuer neue Systeme dringend empfohlen, ein Konvertierungs-Management gleich mit einzubauen.

-Fuer die Industrie ist PDM (Produkt-Daten-Management) ein wichtiges Thema. PDMs verwalten alle produktrelevanten Informationen. Dadurch entstehen deutliche Schnittmengen zwischen DMS und PDM (wo werden Auftraege oder auftragsbezogener Schriftverkehr abgelegt und verwaltet?). Es gibt heute nur wenige Anbieter, die sowohl PDM als auch DMS in ihrem Portfolio halten. Und noch weniger Anbieter haben aktiv darueber nachgedacht, die Ansaetze zu integrieren.

-In der oeffentlichen Verwaltung rueckt die Diskussion ueber Kostentransparenz immer mehr in den Vordergrund. Die DMS werden ein Weg sein, die Prozesskostenrechnung zu ermoeglichen und ein prozessorientiertes Controlling voranzutreiben.

-Branchenuebergreifend werden die deutlich verbesserten Kommunikationsmoeglichkeiten (hoehere Datenuebertragungsleistungen, ortsunabhaengiger Mobilfunk, verbesserte Komprimierungsalgorithmen) und die langsam einsetzende Liberalisierung der Arbeitswelt (Telearbeit, Flexibilisierung der Arbeitszeit) prozess- und teamorientierte informationstechnische Unterstuetzung fordern.

Dem DMS-Markt wird von den Marktforschern insgesamt ein erhebliches Wachstumspotential prognostiziert. Allein das Auf und Ab auf der Anbieterseite signalisiert aber, dass es wohl doch nicht ganz so einfach ist. Wenn es gelingt, einige alten Zoepfe abzuschneiden und Aengste vor den Kontrollmechanismen ueber Bord zu werfen, werden DMS auch die naechste Runde erfolgreich abschliessen.

Kernsaetze fuer das Management

- Dokumenten-Management ist in engem Zusammenhang zur Geschaeftsprozess-Organisation zu sehen. Im Idealfall ist dem DMS- Projekt eine Geschaeftsprozess-Optimierung (GPO) vorgeschaltet. DMS und Prozessorientierung stehen somit in engem Kontext.

- Eine Eins-zu-eins-Umsetzung des Status quo wird wirtschaftlich immer ins Abseits fuehren. DMS fordern dazu auf, die bisherige ablauf- und aufbauorganisatorische Ordnung in Frage zu stellen.

- Die Auswirkungen auf die Mitarbeiter duerfen keinesfalls unterschaetzt werden. Aktives und fruehzeitiges Einbeziehen der Anwender in das Projektteam sind die besten Vorbeugungsmassnahmen.

* Lothar Leger ist bei der Diebold Deutschland GmbH, Frankfurt, Berater fuer prozessorientierteBuerokommunikation und Dokumenten- Management. Zu letzterem Thema ist im Luchterhand-Verlag ein Buch erschienen, in dem Grundlagen und Konzeptionen von DMS umfassend dargestellt werden: Oliver Berndt nd Lothar Leger: Dokumenten- Management-Systeme. Luchterhand, Neuwied, 1994, ISBN 3-472-01889- 5.