Dokumentation wird modularisiert und standardisiert Trotz radikaler Einsparungen steigert BMW die Produktivitaet

23.09.1994

Von Angelika Schrader*

Die Zentrale Kundendienst-Technik der BMW AG, Muenchen, setzt ein Redaktionssystem ein, das die gesamte Dokumentation modularisiert und standardisiert. Die wichtigsten Vorzuege der Loesung: gesteigerte Produktivitaet durch einheitliches Layout, besser verstaendliche Dokumentationen sowie deutliche Kostenreduktion der Uebersetzungen.

Wenn eine Kfz-Werkstatt heute professionellen Service fuer BMW- Kraftfahrzeuge leisten will, muessen rund 180000 bis 200000 DIN-A4- Seiten mit komplexen technischen Informationen ueber alle Modelle vorraetig sein. Ueber 100 elektronische Systeme in den Fahrzeugen sind mit den verschiedensten Hilfsmitteln wie Servicetester, Mobiler Diagnose-Computer (MoDIC) und Messtechnik zu diagnostizieren.

Hausinterne Studien in den 80er Jahren hatten ergeben, dass die Komplexitaet der Fahrzeuge weiter steigen wuerde. Und nicht nur das: Auch der Anspruch, perfekten Kundenservice anzubieten und dabei Anforderungen wie der Produkthaftung und der Qualitaetsnorm ISO 9000 zu genuegen, liessen zudem ein exponentielles Wachstum der technischen Information erwarten. Mit herkoemmlichen Mitteln - das wurde bald deutlich - waere diese Informationsflut in der BMW- Handelsorganisation nicht mehr beherrschbar.

Nicht nur, dass sich der Mechaniker bei der Recherche mit dem Inhalt und der Strukturierung der technischen Dokumentation fuer Reparatur und Wartung bestens auskennen muss. Auch beim Automobilkonzern selbst verursacht das Erstellen und Aktualisieren dieser Texte enormen Aufwand. Deshalb sollte die Arbeit der Dokumentation in der technischen Redaktion rationalisiert werden.

Insgesamt sechs Abteilungen der matrixfoermigen Organisation "Technischer Kundendienst" schrieben Dokumentationen auf Basis von PCs und Systemen mittlerer Datentechnik, einige Abteilungen nutzten zusaetzlich die Dienste von Agenturen, die wieder andere Hardware einsetzen.

1989/90 trafen die Muenchner die Entscheidung, die gesamte Fahrzeugdiagnose und die technische Dokumentation in der Handelsorganisation auf eine einheitliche computergestuetzte Basis zu stellen. Das Unternehmen realisierte dazu drei Projekte:

1. DIS, das Diagnoseinformationssystem fuer programmgestuetzte Fahrzeugdiagnose mit umfangreicher Messtechnik,

2. TIS, das Technische Informationssystem auf CD-ROM mit benutzergerechten Informations-Retrieval-Strategien unter Beruecksichtigung des Fahrzeugkontexts und mit Hypertext- Funktionalitaet sowie

3. ETK, den Elektronischen Teilekatalog auf CD-ROM mit Anbindung an die kommerziellen IV-Systeme.

Alle drei Systeme basieren auf Client-Server-Architekturen unter Unix und lassen sich beim Haendler stand-alone oder als Gesamtsystem mit vielfaeltigen Kommunikationsmoeglichkeiten installieren. Ueber eine User-Shell, die das ganze System verwaltet und Updates der Fahrzeuginformationen erlaubt, hat der Haendler Zugriff auf diese Systeme.

Im Jahr 1992 war der Betrieb des Redaktionssystems und die Versorgung mit den benoetigten Daten so umfangreich geworden, dass er nicht mehr wirtschaftlich handhabbar war.

Die Analyse der Ist-Situation ergab einige Rationalisierungspotentiale durch den Aufbau und die Nutzung elektronischer Text- und Grafikarchive sowie durch die Trennung von technischer Information und ihrem Layout. Dies erlaubte, plattformuebergreifende Informationen auszutauschen. Weitere positive Effekte versprach die Modularisierung der technischen Dokumentation und ihre datenbankgestuetzte Komposition zu Hypertext oder klassischen Dokumenten.

Nach dem Bau eines Prototypen und eines Pilot-Redaktionssystems zur schnellen Versorgung der Ablaufsysteme wurde 1991 das Gesamtsystem ausgeschrieben. "HP ging aus dieser Ausschreibung als Generalunternehmer hervor, weil das Unternehmen aus frueherer Zusammenarbeit viel BMW-Know-how hatte und dieses Wissen in das Publikationssystem Arctis eingebracht hat", erklaert Hans-Erhardt Wobbe, Leiter Fahrwerk und Antriebsstrang in der Zentralen Kundendienst-Technik.

Arctis ist mittlerweile auch bei Mercedes-Benz und Heidelberger Druck erfolgreich im Einsatz. Ebenfalls ausschlaggebend war laut BMW das Preis-Leistungs-Verhaeltnis. "Die gesamte Loesung ist zudem ueber Unix auch Hardware-unabhaengig, was uns mehr Freiheitsgrade verschafft", meint Wobbe weiter. "Wir haben das System heute auf verschiedenen Plattformen installiert." Betriebsintern laeuft das Redaktionssystem auf Sun Sparcstations und HP Workstations.

Das Redaktionssystem umfasst zur Zeit die Komponenten Dokumentenerstellung, -verwaltung, -retrieval und -archivierung, das Grafikarchiv, die Publikation ueber CD-ROM sowie die Uebergabe- und Uebernahmeschnittstelle fuer den Dokumentenaustausch mit Uebersetzern und Druckereien.

Gemaess der HP-Loesung schreibt der Redakteur an einem Autorenarbeitsplatz mit Hilfe von Standardsoftware wie Framebuilder oder Interleaf-DTP-Systemen, die beide in den USA entwickelten SGML-Standard (Standard Generalized Markup Language) unterstuetzen und auf der relationalen Datenbank Ingres aufsetzen. Die Standardoberflaeche ist Motif.

BMW haelt sich nach eigenem Bekunden in allen Aspekten an weltweit gaengige Standards.

"SGML ist Basis aller Vorschriften in den USA, die in Richtung Standardisierung von Dokumentationen gehen", fuehrt Wobbe aus.

BMW setzt die SGML-basierten Produkte am Autorenarbeitsplatz bereits mehrere Monate ein. Der Redakteur wird durch jede Dokumentenseite gefuehrt und ueber einen Bildschirmausschnitt darueber informiert, an welcher Stelle er sich gerade befindet. Selbst bei umfangreichen Dokumenten verliert er nie die Struktur aus den Augen. Platzhalter fuer Ueberschriften, Leerzeilen, Bilder geleiten durch die gesamte Arbeit.

Das System ist zudem automatisch in der Lage, den fertigen Text in das Gesamtdokument einzuordnen. Zum Beispiel: Der Text gehoert zum neuen 7er Modell in den Bereich Sitze. Zudem ist es moeglich, mit Hilfe einer Abfrageroutine auf Arctis-Basis in anderen Dokumenten oder Grafikdatenbanken zu recherchieren. Durch die konsequente Strukturierung der gesamten Dokumentation lassen sich Textbausteine, die zum Beispiel fuer jeden Fahrzeugtyp gelten, einfach abrufen und muessen nicht mehr neu geschrieben werden.

Die Redakteure halten konsequent das sogenannte "Single-Source- Prinzip" ein. Sie speichern jede Grafik nur einmal, auch wenn sie sie fuer verschiedene Publikationen benutzen. Die knappe Datenhaltung ist wirtschaftlich und macht das System schnell.

Weniger als eine Woche Schulung mit Arctis versetzte die technischen Redakteure in die Lage, damit zu arbeiten und gleichzeitig ihren Produktivitaetsstand zu halten. Wobbe rechnet damit, dass im Vergleich zum frueheren Redaktionssystem ein Produktivitaetsschub von 30 bis 50 Prozent erreicht sein wird.

Das gilt nicht fuer die Gesamtproduktivitaet des Redakteurs, denn er verbringt nur etwa ein Sechstel bis ein Siebtel seiner Arbeitszeit mit Layoutarbeiten, die das System ihm jetzt abnimmt beziehungsweise vorgibt. Der groesste Teil seiner Arbeitszeit bleibt unberuehrt: Das Zusammentragen von Informationen, die Vorbereitung seiner Arbeit als technischer Redakteur und die Zeit in der Werkstatt, in der er Reparaturen, die er spaeter beschreibt, erst einmal selbst ausfuehrt.

Alle Redakteure sind Kfz-Techniker mit einer speziellen Ausbildung zum Autor. Sie sind das Bindeglied zwischen den spezifisch formulierten Texten aus der Entwicklungsabteilung und den leicht verstaendlichen Anleitungen fuer die mechanische Werkstatt.

Bevor der bayerische Autokonstrukteur das Redaktionssystem im Technischen Kundendienst einsetzte, gab es keine durchgaengige Bearbeitungsbasis. So konnte es durchaus vorkommen, dass mehrere Redakteure voellig gleiche Fahrzeugteile, die in mehreren Modellen identisch sind, mit ihren eigenen Worten unterschiedlich beschrieben hatten. Nicht nur, dass diese Inkonsistenz zu Missverstaendnissen in der Werkstatt fuehrten, auch die Uebersetzungen der Handbuecher in sieben Sprachen verteuerte sich.

Die gezielte Dokumentationsverwaltung vermeidet viel doppelte Arbeit bei der Text- und Grafikerstellung. Diese Einsparungen sind laut Wobbe in den 30 bis 50 Prozent Produktivitaetssteigerung noch gar nicht beruecksichtigt.

Zudem erlaubt das System bei neuen Modellen, jeweils nur die Aenderungen im Vergleich zum Vormodell zu erkennen, neu zu beschreiben und dann zu uebersetzen, statt - wie frueher - den Katalog immer en bloc neu zu schreiben.

Ein automatischer Zugriff auf das Woerterbuch sorgt fuer einheitliche Termini. Dadurch senkten sich die Ausgaben fuer Uebersetzungen ergeblich. Angestrebt sind mindestens 70 Prozent weniger Aufwand als frueher.