Dokumentation - ein vernachlässigter Weg der DV Rationalisierung

18.02.1977

Prof. Dr. Erwin Grochla o. Prof. an der Universität zu Köln Geschäftsführender Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Organisation und Automation an der Universität zu Köln (BIFOA)

Die explosionsartig fortschreitende technologische Entwicklung, die permanent in allen Wirtschaftsbereichen neue Situationen erzeugt, in gleichem Maße alte Probleme löst wie sie neue Fragestellungen aufwirft - mit all ihren mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen auf Unternehmungsziele und Aufgaben - hat in den letzten Jahren die Zahl der Anwender hyperkomplexer Datenverarbeitungssysteme rapide ansteigen lassen. Datenfernübertragung, Mensch-Maschine-Interaktion im Dialog und die Speicherung großer, miteinander verknüpfter Datenbestände in Datenbanken sind heute schon bei kleineren Unternehmungen keine Seltenheit mehr. Die Vielzahl der Komponenten derartiger Systeme und die Komplexität der Beziehungen zwischen den Systemelementen zwingen die Anwender zunehmend, Verfahren anzuwenden, welche die Herstellung oder Wiedergewinnung einer ausreichenden Systemtransparenz gewährleisten.

Die Verantwortung für den Einsatz dieser Verfahren liegt bei den Geschäftsleitungen, den Organisations- bzw. ADV-Chefs und anderen Führungskräften. Aber kann heute ein Vorgesetzter, selbst bei höchster fachlicher Qualifikation, überhaupt noch die Verantwortung für Abläufe, Verfahren und Programme übernehmen, für die nur rudimentäre Beschreibungen vorliegen oder nur Umwandlungslisten mit mehr oder weniger dürftigen Kommentaren existieren?

Diese Aufgaben werden zwar u. a. durch den Einsatz bekannter Rationalisierungsinstrumente wie Entscheidungstabellen strukturierte und normierte Programmierung usw. erleichtert, doch ein Rationalisierungsprozeß beginnt erst mit der Einführung einer systematischen Dokumentation.

Da immer mehr Anwender sich der Zone nähern, in der der Aufwand für die Programmpflege bereits den Aufwand für die Erstellung neuer Programme übersteigt, kommt einer guten Dokumentation hohe Bedeutung zu. Dem Einwand, die Erstellung einer aussagefähigen ADV-Dokumentation sei zu teuer, möchte ich folgendes entgegenhalten: Das heute nicht mehr wegzudenkende komplexe Instrument des betrieblichen Rechnungswesens wurde noch vor wenigen Jahrzehnten von seinen Kritikern mit Kostenargumenten abgelehnt. Man glaubte, mit den historisch übernommenen einfachen Formen der Buchhaltung auszukommen. Dennoch hat sich die neue Art der Dokumentation betrieblicher Aktivitäten durchsetzen können und keine Unternehmung kann es sich heute - u. a. auch aus Kostengründen - leisten, auf ein umfassendes Rechnungswesen zu verzichten Ähnliches gilt für die ADV-Dokumentation: Selbst wenn der notwendige zusätzliche Aufwand einer ADV-Dokumentation zwischen 10 und 20% der Planungs- und Programmierkosten liegt, dann ist dieser Aufwand in jedem Fall geringer als die Mehrkosten bei der Programmpflege ohne ausreichende Dokumentation und die Risiken die eine Unternehmung damit in Kauf nehmen müßte. Dabei ist selbstverständlich zu beachten daß jedes Zuviel an Dokumentation durch die Gefahr zunehmender Bürokratisierung ebenso unwirtschaftlich werden kann.

Im angemessenen Umfang ist aber Dokumentation keine Zeitverschwendung, sondern ein Kommunikationsmittel für Programmierer, Systemplaner und Benutzer, denn über die Erkennung einzelner Arbeitsabläufe und Informationsflüsse hinaus ist die Gesamtheit der Wechselbeziehungen zwischen den Elementen eines Informationssystems in die Betrachtung einzubeziehen. Eine gelegentlich stattfindende manuelle Gesamtanalyse reicht nicht mehr aus. Die Änderungen sind möglichst zeitnah aufzunehmen - dies ist nur auf der Basis einer computergestützten "permanenten" Dokumentation möglich.

Erst dann ist der aktuelle Stand stets überschaubar und geplante Änderungen sind fortlaufend in ihren Auswirkungen auf das Gesamtsystem analysierbar. Damit wird das Dokumentationssystem, in dem die für die Systemanalyse als gestaltungsrelevant erkannten Elemente und Merkmale des Informationssystems erfaßt, dokumentiert und diagnostiziert werden, die Basis für die Analyse von Soll- und Ist-Zuständen.

Es kann also gesagt werden daß der Rationalisierungseffekt durch Dokumentation mit wachsender Beteiligung des Computers an der Speicherung und Auswertung von Dokumentationsdaten steigt. Deshalb wurde vom BIFOA (Betriebswirtschaftliches Institut für Organisation und Automation) an der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit einer deutschen Großunternehmung im Rahmen des vom Bundesministerium für Forschung und Technologie finanzierten Forschungsprojektes "SIMMIS" ein allgemein verwendbares computergestütztes System zur Dokumentation, Analyse und Gestaltung betrieblicher Informationssysteme entwickelt. Der praktische Einsatz dieses Systems in der Pilotunternehmung beweist, daß eine Konzentration der Anwendungsbemühungen auf dem Dokumentationssektor große Vorteile verspricht, die in der Freisetzung von mit Routineaufgaben befaßtem Personal für qualitativ höherwertige Arbeiten, in der Aufdeckung von Unzulänglichkeiten im bestehenden System sowie in einer Steigerung der Effizienz der Systemplanungsarbeiten für neue Teilsysteme liegen. Damit wurde deutlich, daß die Dokumentation trotz oftmals komplizierter Struktur weitgehend automatisierbar ist und der Computer für Systemgestaltungsaufgaben in größerem Umfang als bisher verwendet werden kann.

In der breiten Praxis der Systemgestaltung werden jedoch die vielfältigen Ergebnisse der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf diesem Gebiet noch viel zu wenig genutzt, womit nicht nur die große Chance vergeben wird, auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der eigenen Systemgestaltung anzusetzen, sondern auch diese Erkenntnisse durch eigene Entwicklungsarbeiten zu erweitern und zu vertiefen.