Nach dem Abgang der Gründergeneration

DMS-Branche: Aufbruch zu neuen Ufern

20.09.2002
MÜNCHEN (CW) - Die Vertreter der Dokumenten-Management-Branche haben auf der Fachmesse DMS Expo ihre Wunden geleckt. Dies war auch nötig, denn in den kommenden Monaten stehen ihnen weitere Bewährungsproben bevor. Experten sind sich sicher, dass der laufende Konsolidierungsprozess noch nicht zu Ende ist.

Im vergangenen Jahr tanzten noch leicht bekleidete Frauen durch die Essener Messehallen, heute hat sich das Bild gewandelt: "Die DMS Expo ist nun mal eine Fachmesse und keine CeBIT", berichtet Ulf Freiberg, der neu gewählte Vorstandschef des Verbands Organisations- und Informationssysteme (VOI) und Leiter des Kompetenzzentrums Lifecycle Solutions von CSC Ploenzke. Dass die Halbierung auf eine Halle bei fast gleicher Besucherzahl wie im Vorjahr der Veranstaltung gut getan hat, geben einmütig alle Vertreter der DMS-Szene zu Protokoll - die große Show ist in diesem Softwaresegment nicht mehr gefragt.

Nach einem Halbjahr voller Pleiten, Pech und Pannen haben die einschlägigen Anbieter den Branchentreff für eine Bestandsaufnahme genutzt und behutsam versucht, den Neustart einzuleiten. Nur: Die Bäume wachsen nicht mehr in den Himmel, das Vertrauen der Kunden ist angeschlagen, und es herrscht Katerstimmung. Dabei ist es keine allzu gewagte Prognose, dass Anwenderunternehmen auch künftig gezwungen sein werden, in die Speicherung elektronischer Objekte zu investieren: "Es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig", sagt DMS-Berater Bernhard Zöller von der Sulzbacher Unternehmensberatung Zöller & Partner.

Allerdings stellt sich die Branche seiner Ansicht nach differenzierter als zuvor dar, denn es lässt sich heutzutage nicht mehr über einen Kamm scheren, was denn ein Dokumenten-Management- (DMS), Content-Management(CMS), Web-Content-Management- (WCMS) oder Archivsystem ist. Es komme immer darauf an, welche funktionalen und mengenmäßigen Anforderungen die Anwender an derartige Lösungen stellen, berichtet Zöller: "Wir sehen eine zunehmende Diversifizierung, die sich beinahe zwangsläufig aus den komplexen Anforderungen der Anwender ergibt." Unterstützt werde der Trend durch die Tatsache, dass es keine Systeme gebe, die alle Funktionen abdecken können.

Sinnvolle Funktionen sind gefragt

Für die DMS-Anbieter bedeutet dies: Wie kann ich die nötigen Funktionen entwickeln, ohne dafür tief in die Kassen greifen zu müssen? "Die Kernprozesse und das Prozess-Management müssen stärker in den Vordergrund rücken", fordert beispielsweise Klaus-Dieter Lütt von der Beratungsgesellschaft Masters of Success aus Bönhusen bei Kiel. Gleichzeitig müsse eine Brücke geschlagen werden zu Business-Intelligence-Tools, damit die Anwender den Erfolg ihrer Entscheidungen auf allen Hierarchieebenen kontrollieren können.

Dass viele DMS-Lieferanten diese Aufgabe gegenwärtig nicht stemmen können, ist auch Lütt klar. Gerade kleinere Anbieter täten sich schwer, derartige Produkte selbst zu entwickeln. Sie müssten sich seiner Meinung nach spezialisieren und ihre Werkzeuge Partnerunternehmen anbieten, damit diese ihr Lösungsgeschäft forcieren könnten. "Die Fertigungstiefe bei der eigenständigen Produktentwicklung wird immer geringer", berichtet auch Ulrich Kampffmeyer, Geschäftsführer der Hamburger Unternehmensberatung Project Consult. Neben dem Überleben in technologischen Nischen sollten Firmen aber auch versuchen, sich als Systemintegratoren aufzustellen.

Zudem haben die kleinen Unternehmen das Problem, dass sich die Anwender in turbulenten Zeiten auf die vermeintliche Sicherheit großer Lieferanten besinnen, auch wenn die jüngsten Erfahrungen eher für das Gegenteil sprechen. Die Insolvenzen von Ceyoniq und SER sowie die "angespannte Liquiditätslage" von Easy Software werden derzeit von Szenekennern in der Schublade "Miß-Management" abgelegt. Statt das Geld vom Börsengang in sinnvolle Lösungen zu investieren, wurden Unternehmen dazugekauft, Broschüren gedruckt oder der Channel erweitert, spottet die Branche über den "Schönheitswettbewerb" der letzten Jahre. Allerdings bietet sich den Firmen plötzlich eine neue Chance, denn "mit dem alten Management konnten die Anbieter sowieso nicht in die neue Zeit gehen."

Der Druck durch Anwender steigt

In diese neue Zeit fallen beispielsweise Anforderungen zur Archivierung von Audio-Mitschnitten im MP3-Format aus Call-Centern oder Objekte wie Mails, Office-Dateien und Druckdaten. Zudem müssen sich die einschlägigen Lösungen für Middleware und die wichtigsten ERP-Systeme öffnen, erwartet Zöller: "Da haben viele Anbieter, die in Boom-Zeiten gut gefahren sind, noch eine Reihe von Hausaufgaben vor sich." Der Druck von Seiten der Anwender auf die Entwickler steigt stetig.

Hinzu kommt, dass man Tools wie den "Sharepoint Portal Server" von Microsoft laut Zöller inzwischen ebenso als DMS nutzen kann wie Listen- und Report-Repositories von SI Software und Beta Systems oder Oracles Internet-Filing-System via WebDAV. Zudem drängen Speicheranbieter à la Storagetek oder EMC auf den Markt mit Worm-Tapes und RAID-Systemen: "Das sind plötzlich Konkurrenten für Anbieter optischer Jukeboxen", sagt der DMS-Berater. Fazit: Die Anwender wollen heute einfach mehr als Eingangspostarchive "zur Papierentsorgung". Wer nichts anderes zu bieten hat, hat zumindest ein Problem.

Wettlauf in lukrative Märkte

Horizontal positionierte Softwarehäuser wie Ixos versuchen daher, sich von SAP zu lösen und in neue Märkte vorzudringen. Die Beteiligungsgesellschaft General Atlantic Partners (GAP) hat unlängst 34 Millionen Euro in die Company investiert, und Firmenchef Robert Hoog will bereits im kommenden Jahr mehr als 30 Prozent der Einnahmen in neuen Themengebieten wie etwa Knowledge-Management erwirtschaften: "Das Wissen, das in den Dokumenten steckt, ist eine zusätzliche Herausforderung für uns."

Andere Softwarehäuser sind vertikal aufgestellt und entwickeln beispielsweise reine Streaming-Media-Archive; IBM und Filenet hingegen versuchen sich als Gesamtlösungsanbieter. Dass eines Tages ein Branchenriese "alles" liefern kann, glaubt Zöller wegen des traditionell funktionalen Fokus'' der meisten Lösungen indes nicht: "Diese Unterschiede lassen sich in den nächsten Jahren nicht einfach abstellen, auch wenn Anbieter dies möchten."

Summa summarum, so lautet der Tenor der Branche, setzt sich der Konsolidierungsprozess auch in den kommenden Monaten munter fort: "Wir werden noch mehr Anbieter verlieren", prognostiziert DMS-Berater Lütt ebenso wie Ixos-Chef Hoog oder VOI-Vorstand Freiberg. Gefragt seien Firmen, die das Lösungsgeschäft beherrschen und sich als Systemanbieter verstehen, heißt es. Nach Einschätzung vieler Beobachter gibt es ein Überangebot im deutschen DMS-Markt, die Bereinigung ist folglich notwendig.

"Eine Oase der Stille"

Auch wenn die Konsolidierung der Anbieterlandschaft anhalten sollte - Berater Zöller prognostiziert keine schwarze Zukunft: "Verglichen mit anderen IT-Segmenten ist der DMS-Markt eine Oase der Stille." Zwar gäre es weiterhin unter der Oberfläche, aber definitiv bankrott sei derzeit kein größerer Lieferant. Da stelle sich der Markt für Web-Content-Management mit seinen einst 250 Wettbewerbern ganz anders dar, meint Zöller. Zudem hätten einige DMS-Konkurrenten wieder zulegen können, etwa Saperion, Ixos, Documentum oder Filenet.

Auch die Auffanggesellschaft von Ceyoniq war wieder auf der DMS Expo mit einem großen Stand und großen Hoffnungen vertreten. Im nächsten Jahr sollen mit 120 Mitarbeitern und einem Umstieg auf den Partnervertrieb bereits ausgeglichene Ergebnisse präsentiert werden, hieß es. "Diese Aufgabe ist nicht zu unterschätzen", sagt nicht nur DMS-Berater Lütt. Es erfordere eine Menge an Arbeit, um die Partner "glücklich" zu machen.

Noch haben die finanziell angeschlagenen Anbieter die Chance, vom Bedarf ihrer Bestandskunden zu zehren. Auch wenn die Branche seit einigen Monaten aggressiv die Migration auf "sichere Lösungen" anpreist - bislang ist kaum ein Anwender von Ceyoniq und SER gewechselt, musste selbst Ixos-Chef Hoog unlängst einräumen. Wenn es die angeschlagenen DMS-Spezialisten schaffen, ihre Kunden bei der Stange zu halten und positive Signale in den Markt zu senden, haben sie laut Lütt sogar eine Chance. Sie profitieren vor allem von der Tatsache, dass die Umstellung eines umfangreichen Archivs keine Frage von Wochen ist.

Ausruhen können sich die Softwerker indes nicht, denn nach Aussage eines Szenekenners erwarten die meisten DMS-Anwender gegenwärtig, dass der Migrationsdruck durch die Auffanggesellschaften etwas abgeschwächt wird. Parallel würde jedoch intensiv nach Alternativen gesucht, weil man nicht sicher sein könne, dass die Systeme nicht nur supportet, sondern darüber hinaus auch weiterentwickelt würden. Das Thema Migration kommt vielleicht nicht über Nacht, aber irgendwann kommt es bestimmt. Angetrieben wird es durch weit verbreitete Alt- oder Individualsysteme, die sich nicht weiterentwickeln lassen oder modernen Server-Plattformen schlicht die Unterstützung verweigern.

Die Hoffnung der Anbieter auf neue lukrative Großprojekte ist nur gering, denn von den deutschen Konzernen haben Schätzungen zufolge 70 bis 90 Prozent bereits Archive in ihren papierintensiven Prozessen im Einsatz. Aber: "Null Prozent der Anwender haben ein Archiv in allen Abteilungen", berichtet DMS-Berater Zöller. Neben dem Ersatzgeschäft rechnen sich die Lieferanten folglich Chancen in Bereichen aus, die bislang von den Nutzern nur stiefmütterlich in Projekte umgesetzt worden sind.

Hier spielen neue rechtliche Rahmenbedingungen hinein, aber auch die zunehmende Verbreitung des Internet. Da Außendienstler, Partner, Kunden oder Bürger auf elektronische Objekte zugreifen wollen, müssen sich die Anwender Gedanken über ihre Content-Strategien machen. "Kunden fragen nach Lösungen, die den gesamten Lebenszyklus'' von Informationen berücksichtigen", sagt VOI-Chef Freiberg.

Die letztlich größte Chance bietet jedoch der restlos vollzogene Generationenwechsel in der Branche. Sämtliche Gründer der ehemals vier börsennotierten deutschen DMS-Anbieter sind inzwischen aus ihrer Verantwortung entlassen worden. "Statt dessen haben sich die Firmen ein professionelles Management an Bord geholt", urteilt Kampffmeyer. Und auch VOI-Chef Freiberg ist optimistisch: Die herrschende Unruhe nach dem Bereinigungsprozess bewertet er als "Dynamik in die richtige Richtung". (ajf)

Easy Software

Der Mülheimer DMS-Spezialist Easy ist nach Ceyoniq und SER als drittes großes Unternehmen aus dem Marktsegment in diesem Jahr an den Rand der Pleite gerutscht. Gerettet wurde die Firma durch Investoren, die Anfang September die Mehrheit bei den Softwerkern übernommen haben. "Ohne diesen Schritt hätte das Unternehmen wohl den Gang zum Insolvenzgericht antreten müssen", sagt Finanzanalyst Helmut Bartsch von der Stuttgarter BW-Bank.

Um welche Investoren es sich handelt, wurde bis Redaktionsschluss nicht bekannt gegeben. Die Easy-Gründer Dirk Vollmering und Markus Hanisch mussten sich von großen Aktienpaketen und ihren Vorstandsposten trennen. Beide stehen der Firma noch "beratend zur Verfügung", wie Hanisch auf Anfrage bestätigte. Erst kürzlich waren die Vorstände Michael Kaiser und Jörg Michael Pläsker aus dem Gremium ausgeschieden. Die Investoren halten nun knapp 55 Prozent der Stimmrechte von Easy. Gezahlt haben sie insgesamt zwei Euro. Im Gegenzug haben sie sich verpflichtet, "der Easy Software AG Liquidität zur Verfügung zu stellen."