DCE-Plattform wird im Quellcode geliefert

DME: Verteilte Verarbeitung verlangt flexibles Management

10.01.1992

Die Auswahl und das Etablieren offener und interoperabler Systemplattformen ist das Ziel der Open Software Foundation (OSF). Dabei hat sich die Organisation viel vorgenommen: Nach dem Unix-Betriebssystem OSF/1, dem grafischen User-Interface Motiv und der verteilten Umgebung Distributed Computing Environment (DCE) steht als nächster Schritt das Distributed Management Environment (DME) auf dem Programm, die Mathias Dahms und Johannes Heigert* näher skizzieren.

Der Trend zur individuellen Datenverarbeitung hat in den letzten Jahren die Rechnerwelten vieler Unternehmen in Unordnung versetzt. Netzwerke mit Client-Server-Architekturen und Downsizing sind neue Schlagwörter in diesem Zusammenhang. Zunehmend wird eine Integration aller Systeme vom PC über Workstations und Abteilungssysteme bis zu den Mainframes angestrebt. Anwendungen und Daten sollen von jedem System zugänglich sein. Eine wesentliche Forderung ist die nach der "Freiheit der Information". Darunter ist zu verstehen, daß jede Information dort abgelegt ist, wo sie erzeugt wird, aber überall verfügbar ist, wo sie benötigt wird.

Der Datenaustausch ist kein Problem mehr

Durch die Etablierung von De-jure- (OSI) und De-facto-Standards (TCP/IP, SNA) stellt der Datenaustausch in heterogenen DV-Landschaften heute kein prinzipielles Problem mehr dar. Die verteilte Verarbeitung, das heißt Anwendungen, deren einzelne Komponenten auf verschiedenen Rechnern eines Netzes ablaufen, ist die neue Herausforderung. Dabei werden Systeme vom PC bis zum Mainframe in Netzen eingesetzt, die globale Ausmaße annehmen können.

Gleichzeitig mit der Bekanntgabe der Auswahl zu DME hat die OSF die Verfügbarkeit der verteilten Anwendungsumgebung Distributed Computing Environment (DCE) für Dezember 1991 angekündigt. Diese Plattform wird in Zukunft die Basis für die Entwicklung verteilter Anwendungen sein. Sie wird von den meisten bedeutenden Herstellern (zum Beispiel IBM, DEC, HP, SNI, Bull) unterstützt sowie einer Reihe von großen Anwendern als Antwort auf die beschriebenen Forderungen angesehen. DCE besteht aus vielen einzelnen Komponenten verschiedener Hersteller, die von der IBM in Austin, Texas, im Auftrag der OSF zu einem Gesamtprodukt integriert wurden (siehe Abbildung). Die DCE-Plattform wird im Sourcecode vertrieben. Damit sind rasche Verbreitung, aber auch die Interoperabilität und Portabilität von DCE-Anwendungen zwischen verschiedensten Systemen gewährleistet.

Die einzelnen Komponenten von DCE verfügen zwar zum Teil über spezifische Management-Tools, von OSF-Mitgliedern wurde jedoch frühzeitig die Forderung nach einem integrierten Management-Konzept erhoben. Die Erweiterung dieses Anspruchs auf alle Systeme und Anwendungen eines Netzes war dann der nächste logische Schritt und damit die Idee des Distributed Management Environment (DME) geboren.

Die OSF hat am 31. Juli 1990 einen Request for Technology (RTF) für DME veröffentlicht. Ziel dieser Ausschreibung war die Auswahl von Komponenten für eine Plattform-orientierte, integrierte Management-Umgebung.

Im Dezember 1990 haben 27 Unternehmen, teilweise in Konsortien, offizielle Vorschläge für DME eingereicht. Alle großen Namen der Branche sind in dieser Liste vertreten.

Trotz der großen Zahl von Einsendungen ist es der OSF gelungen, bis zum September 1991 termingerecht die Gewinner zu ermitteln. Die OSF orientierte sich in ihrem Auswahlverfahren, das von einem internen Team in der OSF-Niederlassung München mit Hilfe von renommierten externen Beratern durchgeführt wurde, an Qualitätskriterien wie Portabilität, Robustheit, Erweiterbarkeit, Konformität mit Standards, etc. Inwieweit auch politische Entscheidungen eine Rolle gespielt haben, ist reine Spekulation.

OSF sieht Schwächen bei APIs von Digital

Der wichtigste Teil des OSF/ DME-RFT betrifft das Management Framework. Hier waren Einsendungen von drei Konsortien in die engere Wahl gekommen: Zum einen eine Gruppe, die von HP und IBM angeführt wurde und an der weiterhin Bull, NCR und SNI beteiligt waren. Zweitens eine Gruppe um DEC, die von BBN und weiteren Partnern unterstützt wurde und drittens, von vielen als Außenseiter betrachtet, die kleine amerikanische Firma Tivoli Systems Inc., ein Unternehmen, das von ehemaligen IBM-Mitarbeitern aus dem AIX-Bereich gegründet wurde. Ein weiterer, heute wichtiger, Anbieter eines Plattform-Produktes für Netzwerk-Management, Sun, hat nicht angeboten.

Die Alternativen, vor denen die OSF stand, waren, entweder ein Produkt eines einzigen Anbieters zu übernehmen oder ein System aus Bausteinen verschiedener Anbieter zusammenzusetzen. Die erste Möglichkeit bot den Vorteil der schnellen Verfügbarkeit, aber unter Umständen geringere Funktionalität, während im zweiten Fall die funktional besser angepaßte Lösung dem Nachteil des erheblichen Integrationsaufwands gegenüberstand.

Für die Produktalternative bot sich die DEC-Einsendung an, da dies die insgesamt vollständigste aller Einreichungen war. Der Vorschlag von DEC, Decmcc Director und Common Agent, basierte auf DECs Enterprise Management Architecture (EMA). OSF sah Schwächen in der Ausgestaltung der APIs, in der mangelnden Unterstützung einer Verteilung des Frameworks auf mehrere Systeme und den zu geringen Sicherheitsmechanismen. Auch wurden keine OSF-spezifischen Funktionen wie der DCE-RPC unterstützt.

Für die "Baukastenlösung" bot sich ein Konsortium um HP und IBM an. Basierend auf HP Openview wäre die Lösung um die Data Engine von IBM zur Verwaltung von Objekten, ein erweitertes API für Management-Applikationen von Bull und diverse Anwendungen von SNI, NCR und HP selbst erweitert worden. Das Problem dieser Einsendung war, daß noch keine integrierte, lauffähige Software präsentiert werden konnte, sondern wesentliche Teile nur als Absichtserklärungen eingereicht wurden.

So sah OSF nur die Möglichkeit, die Baukastenlösung selbst zusammenzubasteln. Hier kam als Herzstück das verteilte, objektorientierte Wizdom-System von Tivoli zum Einsatz. Tivoli nutzt den objektorientierten Ansatz nicht nur zur Beschreibung und Manipulation der Managed Objects, sondern auch zur Implementierung des eigenen Systems. Zugriff auf entfernte Objekte geschieht in DME nun entweder über DCE-RPC oder über die von HP und IBM eingebrachten Implementationen der Protokolle CMIP und SNMP. Programmierschnittstellen (APIs) auf verschiedenen Ebenen werden von Tivoli, IBM und Bull beigesteuert. Die bereits erwähnte IBM Data Engine als Repository und ein Event-Management-Paket von Wang und Banyan runden das DME Framework ab.

Die OSF hat mit ihrer Auswahl einen technisch anspruchsvollen Weg gewählt. Die Lösung besitzt den erheblichen Vorteil der Erweiterbarkeit und flexibleren Einsetzbarkeit. Die Erweiterbarkeit spielt deshalb eine große Rolle, weil die Zielrichtung von DME von dem Management einzelner Systeme bis zum unternehmensübergreifenden System-Management reicht. Die flexiblere Einsetzbarkeit drückt sich insbesondere darin aus, daß die Management-Strategie eines Unternehmenes durch Auswahl der benötigten Komponenten und Protokolle in das DME-System einfließen kann, und sich nicht den Beschränkungen der Software unterwerfen muß. Der Preis für die Auswahl der Baukastenlösung ist der nun notwendige große Integrationsaufwand. Bis zur Verfügbarkeit von OSF DME wird sicher noch mindestens ein Jahr vergehen.

Die OSF hat sich bei der Auswahl von Management-Applikationen ziemlich zurückgehalten. Vorgesehen im Rahmen von DME sind:

- Lizenz-Server zur Unterstützung flexibler Lizenzierungsverfahren von Softwarepaketen in verteilter Umgebung (ein Vorschlag von HP und Gradient Technologies),

- Spool-System auf Basis des Palladium-Print-Servers des MIT,

- Software-Verteilung und Installation über ein Produkt von HP,

- Services zur Host-, Benutzer- und Gruppenverwaltung basierend auf einer Einsendung von Tivoli.

Leider bezieht sich keine Applikation direkt auf den Kern der OSF-Aktivitäten: das Management der verteilten Komponenten von OSF-DCE- und OSF/1-Systemen. Aus Anwendersicht wünschenswert wären sicherlich DME-Anwendungen, mit Hilfe derer DCE-basierte Applikationen im Netz gestartet, gestoppt und überwacht werden können.

Im Gegensatz zu DCE, das mit Sun-ONC (Open Network Computing, enthält im wesentlichen Sun-RPC, NFS, Naming Service) einen etablierten Konkurrenten im Markt hat, füllt DME einen spürbaren Freiraum aus. Traditionelle Netzwerk- und System-Management-Umgebungen orientierten sich fast ausschließlich an den Produkten des jeweiligen Herstellers und waren so weitgehend proprietär.

Neuere Plattform-Produkte (HP Openview, Digital Decmcc, Sun Sunnet Manager) sind bisher schon relativ offen und flexibel angelegt, haben den Anwender und die Anbieter von zusätzlicher Funktionalität jedoch trotzdem an den Lieferanten der Plattform gebunden. Bisher steht zum Beispiel ein Hersteller von Netzkomponenten, der sein Netzwerk-Management-System auf eine Plattform stellen will, vor der schwierigen Entscheidung, auf welches Produkt beziehungsweise auf welche Produkte er aufsetzen soll. Dasselbe Problem hatten unabhängige Softwarehäuser, die Management-Applikationen entwickeln wollten. Dies hat dazu geführt, daß bei den heutigen Plattform-Produkten dem Endbenutzer noch zu wenig Funktionalität zur Verfügung gestellt wird.

Wichtig ist, daß mit DME eine Lösung ausgewählt wurde, an der sich alle Anbieter orientieren werden. An den Standards, die eine so starke Organisation wie die OSF setzt, kann inzwischen niemand vorbei. So ist zu hoffen, und die Anzeichen deuten darauf hin, daß ein Großteil der Anbieter von Management-Systemen ihre Produkte den DME-Vorgaben entsprechend weiterentwickeln. Dies betrifft insbesondere die Anpassung der APIs und die Sicherstellung der Interoperabilität mit DME-Systemen. Auch für unabhängige Software-Anbieter ergibt sich hier mit der Entwicklung von DME-Anwendungen eine interessante Marktchance.

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang natürlich besonders die Haltung von IBM. IBM engagiert sich zur Zeit sehr im OSF-Umfeld. Big Blue hat angekündigt, "wesentliche Teile von OSF DCE in SAA zu übernehmen". Dies könnte der lang erwartete Ansatz zur effektiven Anbindung der AIX-Maschinen an die SAA-Welt werden, der über reine Konnektivität hinausgeht, die bereits durch verschiedene IBM-Produkte realisiert werden kann. IBM hat weiterhin kürzlich (unabhängig von den OSF-Aktivitäten) bekanntgegeben, an einem Netzwerk-Management-System auf Basis Openview für die AIX/LAN-Umgebung zu arbeiten. Das Produkt soll auch eine Anbindung an Netview enthalten. Weiter verlautete, daß OSF DME in Systemview integriert wird oder zumindest die Schnittstellen unterstützt werden.

All diese interessanten Zukunftsperspektiven sollten nicht den Blick auf den langen Weg, den DCE und DME noch vor sich haben, verstellen. DCE-Produkte werden erst Mitte 1992 und DME-Produkte kaum vor Mitte 1993 auf den Markt kommen, und die Entwicklung von funktional reichhaltigen Anwendungen auf dieser Basis nimmt weitere Zeit in Anspruch. Schließlich ist zu beobachten, was von der OSF-Konkurrenz, Unix International, angeboten wird. Auch dort arbeitet man an der Weiterentwicklung einer verteilten Umgebung und an System-Management-Produkten. Basis sind im wesentlichen die Produkte, die Sun in diesem Bereich bereits am Markt anbietet.

Mit dem zukünftig unter dem Namen "Atlas" firmierenden Projekt liegt UI jedoch um ein bis zwei Jahre hinter der OSF zurück, was sich als entscheidender Nachteil erweisen kann. Daher hat UI angekündigt, daß Atlas DCE-kompatibel sein wird, wenn es 1993 auf den Markt kommt. UI-Präsident und CEO Peter Cummings hat der OSF für DCE ausdrückliches Lob gezollt und zukünftig eine engere Zusammenarbeit angekündigt, was durchaus als neue Annäherung der beiden Konsortien interpretiert werden kann.

An Konzepten wie DCE und DME müssen Hersteller und Anwender gleichermaßen teilnehmen. Insbesondere die Anwender sind in diesem Prozeß noch zu wenig aktiv. Große Anwender, wie zum Beispiel die Europäische Gemeinschaft, haben zwar bereits ihre Präferenz für DCE erklärt, bis zum Durchsetzen eines Standards ist es jedoch noch ein weiter Weg. Die Anwender müssen den Herstellern deutlich machen, daß mittelfristig ein Markt für offene Plattform-Produkte wie DCE und DME besteht. Trotz des technologisch umfangreichen Angebots von DCE und DME muß klar herausgestellt werden, daß es sich im wesentlichen "nur" um Werkzeugkästen handelt. Zum wirklichen Erfolg von DCE und DME fehlen noch die darauf aufsetzenden Applikationen.

Die Bereitschaft zu Investitionen in diesem Bereich scheint noch nicht sehr ausgeprägt zu sein. Die heutige Situation, daß der Anwender sich die Präsentation über offene verteilte Verarbeitung und Plattform-orientierte Management-Systeme gerne anschaut, wegen der kurzfristig höheren Funktionalität aber eingeführte, proprietäre Produkte beschafft, behindert die Entwicklung zu offenen Systemen deutlich.

Die Chancen, die in verteilter Verarbeitung liegen, sind groß und der Markt entwickelt sich dynamisch. Der Anwender ist gefordert, in stärkerem Maße als bisher eine übergreifende Strategie für die verteilte Informationstechnologie in seinem Bereich zu entwerfen. Gegebenenfalls sollte er kompetente, externe Unterstützung für diese komplexen Probleme heranziehe...