Distributed Prozeß-Processing

18.06.1976

Dipl.-Ing. Peter Ernst, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Regelungstechnik der Universität Erlangen/Nürnberg

"Der Mikroprozessor löst jedes Problem, vorausgesetzt man gibt ihm die Zeit dazu." Dieser Satz kennzeichnet deutlich die offenbar gerade

herrschende Mikroprozessor-Euphorie. Abwiegend könnte dem entgegengehalten werden, daß der Mikroprozessor nicht anderes als die Fortsetzung der Reihe Transistor/ MSI-integrierte Schaltung/Mikroprozessor im Sinne einer steigenden Komplexität sei.

Geht man nun von einer Definition des Mikroprozessors als eines programmierbaren Logikelements mit Arbeitsspeicher aus, so liegt hier der Schwerpunkt auf dem Wort "programmierbar". Das besagt nichts anderes, als daß zur Hardware-Seite noch eine Software-Seite hinzugekommen ist. Damit besitzt er aber ein Kennzeichen, welches sonst nur noch datenverarbeitenden Systemen zukommt, so daß man ihn als unterste Stufe der Folge "Mikroprozessor/ Minicomputer/Computer" verstehen muß. Er stellt damit eine Art Bindeglied zwischen integrierten MSI-Schaltkreisen und den Minicomputern dar. Man wird also erwarten können, daß der Einsatz eines Mikroprozessors in einem bisher mit irgendwelchen Steuerschaltungen bestückten Gerät nicht nur deren Funktionen nachbilden kann, sondern aufgrund ihm innewohnenden Möglichkeiten darüber hinaus in der Lage sein wird, dem Produkt gänzlich neue Eigenschaften zu verleihen.

In der elektronischen Meßtechnik hingegen und in der digitalen Steuerungs- und Regelungstechnik hat der Mikroprozessor bereits Fuß gefaßt. Ein Blick auf die digitale Prozeßregelungstechnik soll dies im folgenden verdeutlichen:

Der Prozeßrechner als wirkungsvolles Instrument der Prozeßautomatisierung ist weitgehend eingeführt und hat es in vielen Fällen erst ermöglicht, die optimale Führung von größeren Prozessen durchzuführen. Durch seine zentrale Lage und Organisation stellt er aber einen Flaschenhals für die Prozeßinformation dar, denn jeder Regelkreis wird nun über die Zentraleinheit des Prozeßrechners geschlossen. Daraus resultierte die Notwendigkeit eines Back Up-Regelungssystems in Form von anlogen Reglern vor Ort oder einem Parallelrechner. Zum Schutz vor einem möglichen Rechnerausfall ist also eine Parallelisierung des Informationsflusses notwendig, welche in letzter Konsequenz zu einer Dezentralisierung führen muß. Diese Dezentralisierung bedeutet aber auch eine Strukturanpassung der digitalen Regleranforderung an die räumliche und Informationsfluß-Stuktur des Prozesses in der Weise, daß die Regelgrößen dort verarbeitet werden, wo sie entstehen - nämlich vor Ort. Damit ist der Prozeßrechner zum Prozeß hingeführt worden und nicht umgekehrt. Eine solche dezentralisierte digitale Prozeßregel-Anordnung besteht also aus kleinen, weitgehend autonom arbeitenden Untersystemen, die in der Lage sind, einen oder mehrere Regelkreise zu schließen und aus einem übergeordneten Führungsrechner für die optimale Führung und Überwachung des Gesamtprozesses. Bisher wurde erst ein einziges solches TDC-System (Total Distributed Control) verwirklicht und um die Jahreswende der Öffentlichkeit vorgestellt. Es ist aber sicher, daß noch weitere folgen werden.

Nebenbei gesagt, fällt hier eine sehr starke Ähnlichkeit mit dem Trend der modernen Computerphilosophie ins Auge: Hier wie dort ist man auf dem Wege, Systeme mit verteilter Intelligenz (Distributed Processing) zu realisieren, wenn auch die Motivation hierfür von verschiedener Art ist.

Ermöglicht wurde das TDC-System erst durch den Einsatz von Mikroprozessoren, deren Fähigkeit in zukünftigen dezentralen Prozeßregelanordnungen aber über die bloße Nachbildung bekannter Regelalgorithmen hinaus benutzt werden kann. Die Realisierung der Erkenntnisse der modernen Regelungstheorie, deren praktische Einführung bisher am benötigten Realisierungsaufwand scheiterte (adaptive Regelung, Zustandsregler höherer Ordnung), wird eine der künftigen Aufgaben des Mikroprozessors in der digitalen Regelungstechnik sein.

Die vorangegangenen Eigenschaften aus dem Konsumgüter- und Investitionsgüter-Bereich zeigen deutlich, daß sich in steigendem Maße Elektronik und computerfremde Industrien von der chemischen Verfahrenstechnik bis hin zur Spielzeugindustrie für dieses neue Bauelement interessieren. Der Mikroprozessor ist aber ein derart kompliziertes Konstruktionselement, daß für seine Auswahl und den Einsatz ein Maß an Forschungs-Entwicklungsaufwand notwendig ist, welches sich nicht mehr mit dem Aufwand vergleichen läßt, das beim Übergang von Transistoren auf integrierte Schaltkreise notwendig war. An die Qualifikation der damit befaßten Ingenieure werden daher hohe Anforderungen gestellt, denn es müssen sowohl Hardware- als auch Softwareentwicklung gleichzeitig durchgeführt werden. Aufgrund dieser Gesamtsituation entsteht die Notwendigkeit der Bereitstellung von Entscheidungshilfen, welche den weitgehend nicht standardisierten Mikroprozessor nach übergeordneten Bewertungskriterien vergleicht und klassifiziert. Erste Ansätze dazu sind in Arbeit im Rahmen des Projektes PDV der Gesellschaft für Kernforschung in Karlsruhe zu sehen, in denen vergleichende Untersuchungen über den Einsatz von Mikroprozessoren im Hinblick auf Prozeßrechner-Anwendungen durchgeführt wurden.