Diskussion um das "Standardbetriebssystem der 90er Jahre" Windows - als Plattform fuer die SW-Entwicklung umstritten

15.10.1993

Dass sich manche Betriebssysteme besser als andere fuer die Entwicklung von Anwendungen eignen, ist eine Tatsache. Wie steht es mit dem zur Zeit am weitesten verbreiteten System, naemlich Windows? Offensichtlich gibt es hierzu bei den Praktikern unterschiedliche Ansichten. Arne Schaepers* und Michael Wege* beziehen Position.

Wege: Betriebssysteme, die den Anspruch erheben, allem und jedem gerecht zu werden, also Universalsysteme, werden mit steigender Komplexitaet unbeherrschbar. Ein gutes Beispiel dafuer ist Windows: Programme, die ein Jahr nach ihrer Ankuendigung erscheinen und tatsaechlich erst in der Version 3.0 einigermassen fehlerfrei sind, waren in der PC-Welt bereits zur Bluetezeit von MS-DOS alltaeglich. Unter Windows waechst sich dieses konstante Aergernis zur echten Katastrophe aus, von der anscheinend niemand verschont bleibt: Ob PC Tools von Symantec, Norton Commander, Winword von Microsoft oder Paradox von Borland - ueberall glaenzt entweder ein bezeichnendes "Punkt 1" in der Versionsnummer. Oder der Anbieter geht sogar gleich zu versteckten Aktualisierungen ueber; so ist beispielsweise Winword in den USA mittlerweile bei der Version 2.0c angekommen. Wenn sich Hersteller dann endlich zu einer vollstaendigen Ueberarbeitung entschliessen, dann ist das Ergebnis allzu oft ein Monstrum, das in erster Linie mit Ressourcenverbrauch glaenzt: Funktionen anstelle von Funktionalitaet - auf Neudeutsch: "Featuritis" - allerorten.

Schaepers: Moment mal. Was sich andauernd verspaetet und in den ersten Versionen meist instabil laeuft, sind horizontale Programme - also Anwendungen mit Breitenwirkung nach dem Schema "fuer jeden etwas". Vertikale Anwendungen - also gezielte Problemloesungen - sind zwar auch nicht immer fehlerfrei und puenktlich...

Wege: ... aber Windows ist per se auf Breitenwirkung ausgelegt und scheint Anwendungen nach dem Streufeuerprinzip nachgerade magisch anzuziehen. Wenn man Marktstatistiken glauben will, spielt gezielte Problemloesung hier eine ausgesprochen untergeordnete Rolle.

Schaepers: Das bedeutet aber erstens nicht, dass das System an sich unbrauchbar ist. Und zweitens verkauft sich die Loesung fuer ein ganz bestimmtes Problem naturgemaess nicht x-tausendmal und bleibt deshalb in Fachzeitschriften unberuecksichtigt - sowohl bei den allgemeinen Besprechungen als auch bei der Schelte auf die verspaeteten Programme.

Wege: Das spielt eigentlich in diesem Zusammenhang auch keine Rolle. Ich behaupte einfach mal, dass unter Windows bereits fuer horizontale Anwendungen eine Unmenge Spezialwissen benoetigt wird - von ganz spezifischen Problemloesungen gar nicht zu reden.

Schaepers: Kann ich nicht nachvollziehen! Wer eine Standard- Oberflaeche haben will, der nehme den Resource Workshop von Borland und die entsprechende Objektbibliothek oder auch Microsofts Visual C++, das neben der Oberflaeche gleich noch das Programm auf Mausklick dazu liefert.

Wege: Und wenn dann nur ein winziges Detail abweichend gestaltet werden soll, geht es im Sinne des Wortes senkrecht weiter - naemlich in den Tiefen reichlich komplexer Bibliotheken, die mit einer voellig ueberholten Programmierschnittstelle leben muessen. Da lobe ich mir moderne Systeme wie Nextstep, das es ja auch als Nextstep/486 gibt: Der dort verwendete Interface Builder praesentiert sich aehnlich wie ein Ressourcen-Editor unter Windows, ist aber wirklich objektorientiert und laesst deshalb Abweichungen vom vorgegebenen Standard jederzeit zu.

Schaepers: Ach - mit Nextstep kann man die Berufsprogrammierer vor die Tuer setzen?

Wege: Natuerlich nicht - auch wenn es die Werbung gern weismachen wuerde. Das Design von Oberflaechen, von einfachen Datenbanken etc. laesst sich dort aber auch von jemandem erledigen, der weniger als sechzehn Finger und Zehen hat. Das Problem liegt woanders. So lange der Hersteller bei horizontalen - lies: umsatzstarken - Anwendungen bleibt, muss man Fachzeitschriften und damit potentielle Konsumenten mit moeglichst bunten Programmen - Stichwort Featuritis - beeindrucken.

Schaepers: Dass auf dem Markt erfolgreiche horizontale Anwendungen immer ueber die Moeglichkeiten hinausgehen muessen, die ein Betriebssystem standardmaessig bietet, ist eine Binsenweisheit. Bei einem komplexen System wie Windows ist das naturgemaess etwas schwieriger - wer hier Anwendungen schreiben will, die sich aus der Masse herausheben, muss sich also etwas mehr Arbeit machen. Das gilt aber auch fuer alle anderen Systeme...

Wege: ... wenn sie die eierlegende Wollmilchsau spielen wollen. Das beste Beispiel ist Windows NT - ein auf Universalitaet angelegtes System, das wirklich alles und jedes kann. Wer beispielsweise unter Windows NT irgendwelche Messwerte elektronisch erfassen will, kann das gerne tun - nachdem er sich durch zwei Meter Dokumentation hindurchgearbeitet hat. Immer vorausgesetzt natuerlich, er findet einen Kunden, dem er zum Beispiel fuer seine Fraesmaschine einen 486er mit 16 MB RAM und 150 MB Festplatte zumuten kann. Wie waere es mit einem 68000er unter OS/9? Ein solches System kommt mit einem halben MB RAM beziehungsweise ROM und einigen Schnittstellen aus.

Schaepers: Fuer eine Fraesmaschine muss das Betriebssystem ja nicht das Kaliber von Windows NT oder OS/2 haben; auch ein Standard- Windows ist vermutlich Overkill - es sei denn, man will die Werkstuecke waehrend der Bearbeitung online zeichnen.

Wege: Trotzdem wird uns Windows for Windows - die automatische Rolladensteuerung per Maus - wohl nicht erspart bleiben. Modular Windows kommt garantiert - egal, ob man es braucht oder nicht.

Schaepers: Stattgegeben. Niemand hat jemals behauptet, dass Microsoft als Altruisten-Verein in die Geschichte der Menschheit eingehen will. Wenn sich irgendwann ein Markt fuer Fernseher mit einer eingebauten Windows-Variante ergeben sollte, wird man wohl auch auf diesen Zug aufspringen.

Wege: Es geht mir eigentlich eher darum, wer das Abfahrts- signal fuer neue Zuege gibt. Dass sich der unerfreuliche Trend zu immer mehr Features anstelle problemorientierter Loesungen - also horizontaler anstelle von vertikaler Denkweise - bei Anwendungen breitgemacht hat, wurde ja bereits erwaehnt. Windows und vor allem Windows NT zeigen, dass sich diese Entwicklung auch bei Betriebssystemen fortsetzt. Wenn ein Anwender mit der siebenundzwanzigsten Werkzeugleiste nicht mehr zurechtkommt und versehentlich ein Dokument ruiniert, ist das ein Problem mit begrenzter Wirkung; wenn ein Betriebssystem Anwendungsentwickler ueberfordert, kommt dagegen eine Gefahr fuer die Allgemeinheit heraus.

Schaepers: Das ist im Prinzip sicher richtig, aber: dass die Systeme mit hoeher entwickelter Hardware nicht nur leistungsfaehiger, sondern auch komplexer werden, nennt man kapitalistische Marktwirtschaft - mit CP/M fuer einen Intel Pentium ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen.

Wege: Irrtum! Gerade deshalb, weil die Systeme immer leistungsfaehiger werden, sind wir vom universellen Betriebssystem weiter denn je entfernt - und werden es vermutlich nie erreichen.

Schaepers: Von "Windows bites the dust" - dem allerneuesten Betriebssystem fuer Staubsauger, das gleichzeitig auch noch die Einkaufsliste verfasst, habe ich auch nicht geredet. Wenn man aber weiterhin jedem Tierchen sein Plaesierchen gibt, haben wir auch in Zukunft einen Spezialisten fuer System A, der sich mit dem Experten fuer System B bestenfalls ueber einen zwischengeschalteten Cross- Assembler unterhalten kann und deshalb einen Grossteil seiner Tage mit dem Neuerfinden des Rades verbringt. Plattformuebergreifendes ist gefragt - und da geht Microsoft mit grossen Schritten voran.

Wege: Das hat IBM mit SAA und anderen dreibuchstabigen Kuerzeln schon vor einigen Jahren erfolglos versucht...

Schaepers: ... und Microsoft im selben Zeitraum hoechst profitabel praktiziert. Beispielsweise mit dem Rechenblatt Excel, das in einer Zwischenform - Stichwort: P-Code - geschrieben und von dort aus sowohl auf den Macintosh als auch auf den PC portiert wurde.

Wege: Und was ist Excel? Ein horizontales Programm, das erst ab der Version 3.0 mehr oder minder fehlerfrei laeuft - nach einer Entwicklungszeit von mehreren Jahren. In der Version 4.0 finden sich rund doppelt so viele Funktionen, und in der kuerzlich angekuendigten Version 5 ... ich mag gar nicht daran denken, wie viele Werkzeugleisten, Icons, Bildchen und was weiss ich sonst noch auf uns zukommen.

Schaepers: Jetzt fehlt eigentlich nur noch der Protest gegen die dicke Schwarte von Handbuch.

Wege: Die Lektuere habe ich mir erspart.

Schaepers: Obwohl Sie offensichtlich mit dem Programm gearbeitet haben. Kein Wunder! Schliesslich enthaelt Excel als horizontale Anwendung eine integrierte Hilfestellung, die in diesem Umfang bei einem problemspezifischen Programm einfach nicht finanzierbar waere.

Wege: Eins zu Null - beinahe jedenfalls: Neunzig Prozent der Hilfestellung beschaeftigen sich mit Funktionen, auf die man als Normalanwender getrost verzichten kann. Ich bleibe dabei: Je komplexer das System und seine Programmierung, desto schwieriger werden echte Problemloesungen. Systeme wie Windows und Windows NT haben das Schrotschussprinzip zwangslaeufig zur Folge. Oder auch: Wird die Menschheit gluecklicher, wenn man an eine Notiz mit drei Zeilen Text nicht nur ein Bild mit einigen hundert Kilobytes, sondern auch noch akustische Belaestigungen anhaengen kann?

Schaepers: Fragen Sie die Endverbraucher, die die Version X eines Programms wie Blei in den Regalen liegen lassen, wenn Release X.1 erscheint. In einigen Richtungen waere es vermutlich wirklich langsam Zeit, die Bremse zu ziehen.

* Arne Schaepers leitet die Firma Datec in Muenchen, die Buecher und Software-Dokumentationen erstellt. Michael Wege ist Wirtschaftsinformatiker, Berufsprogrammierer und nach wie vor Amiga-Fan.